Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

schaft.

Vor allen Dingen muss die Kritik genau unterscheiden 1) den theoretischen Materialismus oder den Materialismus als philosophisches System; 2) den ethischen Materialismus als Prinzip der praktischen Lebensführung und 3) den Materialismus als methodologisches Forschungsprinzip für die NaturwissenDer Materialismus als philosophisches System ist voller Dogmatismus. Denn abgesehen davon, dass er die Erkennbarkeit des Weltganzen ohne weiteres als selbstverständlich voraussetzt, so übersteigt auch der Begriff der Materie, den der Materialismus als das alleinige Grundprinzip alles Seins hinstellt, jede mögliche Erfahrung. Die Existenz der materialistischen Materie kann empirisch nicht bewiesen werden. Denn unter der Materie als Grundprinzip versteht der Materialismus nicht dieses Holz oder jenen Stein, nicht diesen Sauerstoff oder jenen Wasserstoff u. s. w. Alle diese wahrnehmbaren, empirischen Stoffe sind ja nur die sekundären Erscheinungen des ihnen zu Grunde liegenden und sie hervorbringenden, also primären materiellen Prinzipes. Der Grund aller einzelnen Materien, die Materie an sich, ist weder Holz noch Stein u. s. w., kurz keiner der empirisch erkennbaren Stoffe. Die Materie des Materialismus ist mithin etwas empirisch absolut nicht Wahrnehmbares, vielmehr der nur hypothetisch angenommene Untergrund für alle Erscheinungen der Welt. Dieses hypothetische Prinzip wird gewöhnlich als eine Vielheit von Atomen bezeichnet; die früher (Abschn. I. Cap. 3. S. 79 f.) gegebene Kritik des Atoms hat uns aber schon längst über seinen rein hypothetischen Charakter aufgeklärt. Wird also das Prinzip des Materialismus an dem allein gültigen Massstab des kritischen Empirismus gemessen, so ergiebt sich, dass diese ,,Materie" ein blosses Gedankending, kein in der Natur irgendwo empirisch aufweisbares Wesen ist. Der Materialismus ist also ein Glaube an einen vorausgesetzten Urgrund der Dinge, mithin ist er Dogmatismus und seine Lehren Glaubensartikel, aber keine Wissenssätze.

Der ethische Materialismus zweitens tritt mit dem Anspruch auf, Prinzip unserer Lebensführung zu sein; er will die Gesetzgebung für unser praktisches Handeln übernehmen: das Grund

motiv unseres Handelns, der kategorische Imperativ für den Menschen, sagt er, soll nur die absolute Selbstsucht sein. Die Unterdrückung der Selbstsucht, welche sonst in allen hochentwickelten Moralsystemen als Grundprinzip alles sittlichen Handelns hingestellt ist, wird hier als geradezu schädlich verdammt. Nun führt aber dieser absolute Egoismus, wie die Geschichte ganzer Völker und einzelner Individuen oft genug gezeigt hat, allemal dahin, dass jeder schliesslich von jedem nur unter dem Gesichtspunkte des zu verbrauchenden Genussmittels betrachtet und als solches ausgebeutet wird. Dabei entsteht naturgemäss aus dem Angriff der Beute die Wehr derselben; erbitterter Kampf auf Tod und Leben entbrennt, alle geordneten Verhältnisse werden untergraben, und das Ende ist entweder gegenseitige Aufreibung oder despotische Unterdrückung der Schwächeren von seiten des letzten übrigbleibenden Listigsten und Stärksten. In beiden Fällen aber führt der ethische Materialismus zum Untergang jedes Gefühls wahrer selbstsuchtloser Nächstenliebe, zum Schwinden jeder sozialen Tugend, zur Aufhebung all der sittlichen Ideale, welche ,,der Menschheit Würde" bilden. Der ethische Materialismus ist also für die Praxis des Lebens der Gesamtheit wie des Individuums als ein rein negatives und zerstörendes Moralprinzip durchaus zu verwerfen.

Ganz anders verhält es sich aber drittens mit dem Materialismus, insofern er methodologisches Forschungsprinzip für die Naturwissenschaft ist. Hier liegt seine ernste Bedeutung; ihn hier aufgeben, hiesse dem Simson der Naturwissenschaft die Locken beschneiden. Man verstehe jedoch recht: hier wird dem Materialismus weder als philosophischem System, als ob er die theoretische Wahrheit wäre, noch als sittlichem Prinzipe, als ob seine Grundsätze unser Wollen bestimmen dürften, sondern lediglich als methodologischem Forschungsprinzip der Naturwissenschaften das Wort geredet. Die Naturwissenschaften haben mit Recht die materialistische Anschauung zu ihrem Forschungsprinzip erhoben, das heisst nichts anderes, als dass sie mit Recht es sich zum Gesetz gemacht haben, all ihre Forschungen nur auf die Materie und die in derselben liegenden empirisch konstatierbaren und quantitativ messbaren Bewegungen zu beschränken.

Allein aus dieser Selbstbeschränkung sind die grossartigen Erkenntnisse der Naturwissenschaften erwachsen. Solange sie empirisch unfassbare, geheimnisvolle ,,verborgene Qualitäten" als Erklärungsprinzipien setzten, blieben sie in allen Stücken dunkel und unsicher. Ihr Aufschwung stammt erst von dem Augenblick, wo sie ihr Augenmerk einzig und allein auf die mechanisch materiellen Vorgänge richteten. Den Materialismus als methodologisches Forschungsprinzip verlassen, würde das Ende sicherer Naturerkenntnis und die Wiedergeburt mittelalterlicher Mystik und Magie sein, wie dies die spiritistischen Rückbildungen gewisser Forscher zur Genüge beweisen. Der Materialismus ist notwendiges Instrument des Naturforschers, aber auch weiter nichts. Leugnet der Naturforscher die Existenz jeder anderen als der ihm zugänglichen materiellen Erscheinungen, so wird er damit materialistischer Dogmatiker und als solcher unkritisch. Der kritische Forscher formuliert seinen Grundsatz so: ,,Beobachten kann ich nur und will ich nur die materiellen Erscheinungen, welche allein erfassbar sind; über alles ausser diesen lasse ich mein Urteil ganz dahingestellt sein, da ich weder über Sein noch Nichtsein anderer als materieller Erscheinungen das Geringste entscheiden kann." Einer solchen, sich kritisch begrenzenden Verwendung des materialistischen Prinzips entspringt nirgendwo Gefahr, sondern überall nur der reiche Segen, den die Naturwissenschaften der Menschheit gespendet haben. Hier liegt also der wirkliche Wert des Materialismus; als System dagegen erscheint er oberflächlich, als Sittenprinzip geradezu verwerflich. Eine unparteiische Kritik hat aber vor allem die angegebenen Unterscheidungen zu treffen.

3) Der Phaenomenalismus.

[ocr errors]

Dass Lockes Philosophie den Ausgangspunkt für die verschiedenartigsten Lehren bildet, deutet auf innere Widersprüche derselben zur Genüge hin. Sonst könnte schwerlich sowohl der Materialismus als auch der diesem diametral entgegengesetzte Standpunkt des Immaterialismus oder Phaenomenalismus von hier aus seine Begründung finden. Der englische Bischof

George Berkeley hat diese auch für den kritischen Empirismus hochwichtige Theorie ausgeführt, welche behauptet, dass alles, was wir Materie und materielle Erscheinung nennen, wie alle unsere Vorstellungen überhaupt, lediglich Vorstellungen im menschlichen Geiste seien, ohne dass ihnen irgendwelche von diesem unabhängige äussere Dinge entsprächen. Er begründet dies in so scharfsinniger Weise, dass selbst das ,,Système de la nature" eingesteht, es gebe nur zwei in sich konsequente Systeme, das materialistische Holbachs und das immaterialistische Berkeleys. Welche wichtige Rolle der Phaenomenalismus in der Kantischen Philosophie spielt, werde hier nur angedeutet.

Berkeley kommt zu seiner Lehre, indem er die Konsequenzen des Sensualismus zieht. Locke hatte den Dualismus zwischen primären und sekundären Qualitäten zurückgelassen. Die primären Qualitäten sollten den Dingen an sich selbst zukommen, die sekundären nur unsere von uns auf die Dinge fälschlich übertragenen Empfindungen sein. Aber offenbar können wir jene primären Qualitäten doch auch nur vorstellen und erfassen durch unser Wahrnehmungsvermögen. Die Undurchdringlichkeit bekundet sich uns doch lediglich durch unseren Tastsinn; und wie wollen wir die geringste Vorstellung von der Ausdehnung und Bewegung gewinnen, wenn nicht durch unseren Tast- und Gesichtssinn? Mithin kennen wir auch die primären Qualitäten nur durch unsere Wahrnehmung, welche doch ganz und gar subjektiver Natur ist. So zeigt sich klar, dass von den primären Qualitäten dasselbe gilt wie von den sekundären, d. h. dass sie nur als unsere subjektiven Vorstellungen existieren. Ob ihnen etwas an sich ausser uns zu Grunde liegt, können wir nicht behaupten, denn das etwa zu Grunde Liegende nehmen wir niemals wahr; was wir aber wahrnehmen, ist alles ausnahmslos unsere subjektive Vorstellung. So schliesst denn Berkeley kühn und entschieden: Das Sein der Dinge besteht überhaupt nur in ihrem Wahrgenommen werden (esse percipi), und da dies Wahrgenommen werden lediglich in einem wahrnehmenden Geiste stattfindet, so bestehen alle Dinge nur als Perzeptionen im Geiste und haben ausserhalb desselben keine eigene Existenz. In dem ,,Nur" liegt hier der Fehlschluss,

=

den wir aber an dieser Stelle noch ununtersucht lassen. Mit diesem Fehlschluss segelt nun aber Berkeley direkt in das dogmatische Fahrwasser hinein. In unserem immateriellen Geiste haben wir eigentümliche Vorstellungen, welche fälschlich von

für äussere Dinge gehalten werden, in Wahrheit aber rein innerliche Perzeptionen sind und als solche von Berkeley,,Ideen" (ideas) genannt werden. Was wir Welt nennen, besteht also lediglich aus immateriellen Geistern und den in diesen befindlichen Ideen, welche wir in Selbsttäuschung für materielle Dinge halten. Woher stammen aber diese,,Ideen"? Sie existieren nicht durch sich selbst; sie gehen aber auch nicht lediglich aus unserem Geiste hervor, denn sonst tauchten sie nicht vielfach auf und verschwänden wieder auch gegen den Willen desselben. So bleibt nur eine Annahme übrig: Eine höhere Macht lässt sie in unserem Geiste erscheinen und verschwinden, es ist Gott, der die gesamte Bewegung unserer ,,Ideen" schafft und leitet. Mithin besteht die gesamte Welt nur aus dem immateriellen Gott und den immateriellen Geistern nebst den in diesen befindlichen Ideen. Materielles giebt es überhaupt nicht; was wir so nennen, ist blosse Erscheinung, Phaenomen im Geiste; die ganze materielle Welt lediglich Phaenomen desselben, daher Berkeley seinen reinen Immaterialismus auch Phaenomenalismus nennt, mit dem er sich rühmt, ein rein monistisches System begründet und alle aus der Annahme eines materiellen Prinzips hervorgehenden Widersprüche beseitigt, die Grundlagen des Glaubens aber neu befestigt zu haben.

Erst vom Standpunkte des Kantischen Kritizismus aus ist es möglich, sowohl das grosse Verdienst des Berkeleyanismus zu würdigen als auch die Achillesferse desselben aufzuweisen. Wir sehen deshalb an dieser Stelle von einer genaueren Kritik ab, um nun durch eine rekapitulierende Übersicht über die bisher geschilderten philosophischen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts den Übergang zum Skeptizismus David Humes zu finden.

In zwei Formen trat uns der Dualismus entgegen: in der christlich-dogmatischen des Theismus und in der freidenkerischen des Deismus. Sowohl Theismus als Deismus setzen zwei Grundprinzipien: Gott und Welt. An Stelle der Zweiheit von Prin

« ZurückWeiter »