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wie auf jene Frage eine Reihe von Antworten gegeben wird, die in dem Grade, als man von der rein sinnlichen Beobachtung der Dinge zu grösserer Abstraktion vorschreitet, immer schärfer und tiefer werden, die alle notwendig und richtig sind, insofern sie wirklich einen Hauptfaktor im Wesen der Naturdinge hervorheben und also die Erkenntnis um einen Schritt fördern; die aber zugleich alle falsch sind, insofern sie in einseitiger Überschätzung des Punktes, worauf sie gerade ihr Augenmerk gerichtet haben, die Vielseitigkeit der Natur übersehen und somit in dogmatische Konstruktionen verfallen. Wir werden sehen, wie, nachdem man alle Haupt- und Grundcharaktere einseitig hervorgehoben hat, die sich an den Dingen zeigen, man sich dann bemüht, diese zu verbinden, aus einander abzuleiten und auf eine höhere Einheit zurückzuführen. Dadurch kommt man aber selbstverständlich zu einer immer allgemeineren Fassung der Kausalität, das Wesen derselben wird immer mehr von seinen Hüllen befreit und immer mehr in seiner Tiefe erkannt, ein Entwicklungsprozess, durch den allein erst die gründlicheren Einsichten der modernen Wissenschaft ermöglicht wurden, und den jeder selbst in sich wieder durchlaufen und durchleben muss, um zum vollen Verständnis zu gelangen. Es ist darum auch nicht etwa die blosse Liebe zu geschichtlichen Auseinandersetzungen, sondern die Überzeugung von der Geltung des sog. biogenetischen Grundgesetzes auch auf psychologischem und erkenntnistheoretischem Gebiete, die uns antreibt, hier den Gedankengang jener alten Philosophen kurz zu skizzieren.

Um den gemeinsamen Urgrund aller Dinge zu entdecken, müssen wir offenbar zunächst die Dinge vergleichen und das Gemeinsame an ihnen auffinden. So verschieden nun auch die Dinge sein mögen, sie stimmen doch alle darin überein, dass sie aus Stoff bestehen, und dass sie irgend eine Form haben.

Stoff und Form sind also die allgemeinsten wesentlichen Beschaffenheiten eines jeden Dinges. Von beiden erscheint aber der Stoff dem noch nicht alle Faktoren übersehenden Anfänger im Philosophieren leicht als das Vorzüglichere, denn die Form ist zerstörbar, veränderlich und wechselnd, dagegen der Stoff unzerstörbar und bleibend. Das Grundwesen der Dinge besteht also

nicht in der schwankenden Form, sondern in dem ewig dauernden Stoff, aus dem erst die Form be- und entsteht.

Die erste Gruppe der Naturphilosophen hält also die Materie für die Urkausalität, und so wäre denn wohl der Materialismus der Anfang der Philosophie. Und doch nicht ganz! Diesem Materialismus fehlt noch ganz sein feindlicher Bruder, der Immaterialismus; ihm ist der Gegensatz zwischen Stoff und Leben, zwischen Materie und immateriellem Geist noch gar nicht aufgegangen; erst durch die schroffe Hervorhebung dieses Gegensatzes erhält ja aber der eigentliche Materialismus sein charakteristisches Gepräge. In naiver Weise wird der Stoff selbst für das Lebendige, Empfindende und Denkende gehalten, ohne dass man ein Bewusstsein von den in dieser Auffassung liegenden schwierigen Problemen hätte. Diese Lehre vom Stoff, als dem in unterschiedsloser Einheit mit Leben, Empfinden und Denken begabten Grundwesen aller Dinge, bezeichnet man als Hylozoismus (Lehre vom lebendigen Stoff) - der eigentliche Materialismus, wie seine Gegensätze, liegen in unerkannter Ungesondertheit in ihm noch zusammen, so dass er sich nach entgegengesetzten Richtungen hin weiter entwickeln könnte, wenn nicht das rein materialistische Element in ihm doch das Übergewicht hätte und ihn deshalb vorzugsweise als Vorstufe des eigentlichen Materialismus erscheinen liesse.

Der hylozoistisch betrachtete Stoff ist also der eigentliche Grund der Dinge. Nun giebt es aber zahllos viele Stoffe, die in einander übergehen, wie Holz im Feuer zu Rauch und Asche wird, und die eben dadurch zeigen, dass sie in letzter Instanz nur die verschiedenen Formen eines ihnen zu Grunde liegenden Stoffes sind. Welches ist also dieser Grundstoff, der die Ursache aller einzelnen stofflichen Erscheinungen oder aller Dinge ist? Diese Frage suchen zu beantworten die sog. ionischen Physiologen: Thales, Anaximander und Anaximenes, alle drei aus Milet in Klein-Asien. Thales (640 v. Chr.) hält das Wasser für den Urstoff, aus dem alles geworden, wohl wegen der belebenden und Wachstum erzeugenden Kraft des nassen Elements, und weil Same und Nahrung, aus denen die Wesen produziert und reproduziert werden, feucht seien. Anaximander (um 611 v. Chr.) erklärt

den Urgrund für einen der Qualität nach unbestimmten, der Masse nach unendlichen Stoff (άnsigov), aus dem erst das Warme und Kalte, das Trockene und Feuchte sich ausscheiden. Anaximenes (jünger als Anaximander) findet das Prinzip in der Luft, durch deren Verdünnung oder Verdichtung Feuer, Wind, Wolken, Wasser und Erde entstehen.

So naiv nun diese Erklärungen auch klingen mögen, so liegen in ihnen doch schon die Keime zu den wichtigsten wissenschaftlichen Gedanken vor. Erstens ist es ein grosser Schritt, dass man gegenüber der polytheologischen Betrachtungsweise der Natur, nach der jedes Naturding durch seine ihm allein eigene Gottheit hervorgebracht wird, jedes Ding also ein anderes Prinzip in sich trägt, und somit von einem einheitlichen Zusammenhange der Natur, dieser unveräusserlichen Grundvoraussetzung einer wahren Naturwissenschaft, nicht die Rede sein kann, hier zum ersten Male einen gemeinsamen natürlichen Grund aller Dinge, ein alles Einzelne in letzter Instanz einheitlich verbindendes Allgemeine aufzusuchen beginnt. Es giebt ein Gemeinsames in den verschiedenen Erscheinungen der wissenschaftliche Ausdruck für dieses Gemeinsame ist das Naturgesetz: erst wenn man den Gedanken eines solchen Gemeinsamen erfasst hat, beginnt man nach den Gesetzen zu suchen es ist das Verdienst dieser Ionier, diesen Gedanken zum ersten Mal deutlich erfasst zu haben. Zweitens: Alle Dinge sind verdichtetes oder verdünntes Wasser oder Luft alle Dinge sind also nur verschiedene Aggregatzustände desselben Grundelements. Dieser Satz ist die Grundvoraussetzung unserer ganzen Chemie und Physik, und auch ihn haben jene Physiologen zuerst in das Denken der Menschheit eingeführt. Wenn aber drittens die gesamte Natur eine Einheit bildet, mithin auch zwischen Organischem und Unorganischem keine Wesenskluft liegt, so folgt, dass alle unorganischen Stoffe sich erst allmählich aus dem Urstoff, und alle Organismen sich ebenfalls allmählich aus dem Unorganischen, sei es unmittelbar aus dem Urstoff, sei es mittelbar erst aus dessen weiteren Umgestaltungen, gebildet haben gedanke der modernen Entwicklungslehre. dass vermittelst ewiger Kreisbewegungen, als Verdichtungen der

es folgt der GrundAnaximander lehrt,

Luft, zahllose Welten entstanden, und dass die Erde aus einem ursprünglich flüssigen Zustande hervorgegangen sei. Man vergleiche mit diesen Lehren den Grundgedanken der Kant-Laplace'schen Weltentstehungstheorie, und man wird schon hier an der Schwelle der Philosophie bestätigt finden, was wir oben sagten, dass nämlich diese Alten Theorien aufgestellt haben, die noch heute gelten, nur dass wir die entwickeltere Fassung und die bessere Begründung vor ihnen voraus haben. Aber auch die moderne Entwicklungslehre der Organismen findet ihren ersten Vorläufer in Anaximander. Er lehrt, dass alle lebenden Wesen im Wasser unter dem Einfluss der Sonnenwärme entstanden, fischartig und mit stachliger Hülle umgeben gewesen seien; dass sie erst allmählich auf das Trockene gekommen und sich zu Landtieren umgebildet hätten; auch der Mensch habe sich aus den Tieren entwickelt, und zwar sei auch er aus dem Wasser fischähnlich hervorgegangen.

Wir haben oben Stoff und Form als die allgemeinsten wesentlichen Beschaffenheiten eines jeden Dinges kennen gelernt. Während nun die ionischen Physiologen den Stoff als die absolute Kausalität hinstellten, waren es die Pythagoreer (Pythagoras, geb. um 582 v. Chr.), welche das Grundwesen der Dinge vielmehr in der Form fanden. Einige Überlegungen im Sinne jener alten Philosophen wird dieses leicht verständlich machen. Eine Schillerstatue und eine Kanonenkugel mögen beide von Eisen sein. Dem Stoffe nach sind sie also beide ganz gleich was sie aber durchaus verschieden, die eine zur Statue, die andere zur Kugel macht, was ihnen also ihr eigentümliches, individuelles Gepräge giebt, ist ihre Form. Die Form also, nicht der Stoff, macht das eigentliche Wesen eines Dinges aus. Und wenn wir oben sagten, die Form sei zerstörbar und wandelnd, der Stoff dagegen ewig dauernd, so können wir jetzt auch umgekehrt geltend machen, dass immer und immer wieder aus der Zerstörung einer Form eine andere hervorgeht, aus dem Wandel des Stoffes die Form immer und immer wieder siegreich emporsteigt, dass also die Form es ist, welche den Stoff in Wahrheit beherrscht. Die Form ist demnach das Grundwesen der Dinge.

Mit dieser Betonung der Form wird nun in der Erkenntnis Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft.

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ein ungemein wichtiger und folgenschwerer Schritt gethan. Schon hier wird der Keim zu der Einsicht in die Schwäche des unkritischen und naiven Materialismus gelegt, welche darin besteht, dass diese Weltanschauung die Bildung der harmonischen, zweckmässigen Form der Dinge nicht zu erklären vermag, denn dass durch blossen Zufall der Stoff sich zu diesen Formen zusammengeballt habe, würde eine nichtssagende Behauptung und das Eingeständnis der Unwissenheit hinsichtlich der ersten Ursachen der Dinge sein.

Indem man die Form der Dinge als das Wesentliche betrachtet, wird hier ferner der erste Stein zum Gebäude des Idealismus gelegt; denn die Form ist harmonisch, zweckmässig, planvoll

also nicht durch blossen Zufall, sondern durch Denken und Überlegung hervorgebracht. Also ist die Form entweder selbst ein denkendes Wesen (eine Idee, im Sinne Platons), oder es giebt ein denkendes, über dem Stoff stehendes, vom Stoff ganz unabhängiges, mithin in letzter Instanz unstoffliches Wesen, einen schöpferischen Urgeist, der den Stoff zu der Form nach seinen Ideen und Zwecken bildete. Sowie also die Form einseitig als das Wesentliche der Dinge betont wird, ist damit der Keim des Idealismus, der Teleologie (Zwecklehre), des Immaterialismus u. s. w. gepflanzt. So treten gleich beim Beginn der Philosophie die Anlage zum Materialismus in den ionischen Physiologen, die Anlage zum Idealismus in den Pythagoreern neben und gegeneinander auf.

Das Wesen der Dinge ist ihre Form. Es giebt zahllos viele Formen. Welches ist die Form der Formen, die Grundform? Diese absolute Kausalität aller Dinge, dieser Urgrund der Welt ist die Zahl. So paradox die Antwort auf den ersten Blick scheint, so begreiflich wird sie, wenn wir im Sinne der Pythagoreer reflektieren. Wie die Form als das Grundwesen der Dinge erscheint gegenüber dem Stoffe, ist gezeigt. Nun handelt es sich darum, die so unendlich verschiedenen Formen der Dinge (Tiere, Pflanzen, übrige Naturkörper) auf die einfachsten, allgemeinen Formen und endlich auf die allgemeinste zurückzuführen. Die in allen Formen wiederkehrenden allgemeinsten Formen sind die mathematischen Grössenverhältnisse, die räumlichen Verhältnisse überhaupt, wie die Mathematik sie, rein und frei von allem Stofflichen,

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