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dem Ritter, noch bei dem Geistlichen sonderliche Sympathien, so darf er auch Dienst und Übung in Wehr und Waffen nicht

versäumen.

So entsteht aus der Vielseitigkeit seiner Lebensbedingungen heraus gerade bei dem Bürger die mannigfachste Ausbildung von Geist und Körper; kein Wunder, wenn er sich dem Ritter, der nur den Körper pflegt, und dem Kleriker, der nur den Geist und auch diesen nur höchst einseitig bildet, bald überlegen entgegenstellt. Politische Freiheit, gewerbliche und künstlerische Geschicklichkeit, Welt- und Menschenkenntnis, behagliche Fülle des Daseins, Beweglichkeit und Vielseitigkeit des Geistes, gesteigert durch die wechselseitige Anregung, die aus dem Zusammenwohnen vieler Individuen entspringt alles das fliesst in den Stadtbürgern zusammen, macht sie unabhängig und mächtig, ihre Bündnisse gefürchtet, und lässt bei ihnen Kunst und Wissenschaft, die sonst allein in klösterlicher Enge hausten, Wachstum und Gedeihen finden. Im harten Kampfe sowohl gegen den strassenräuberischen Ritter als gegen den auf die Freiheit ihrer Bewegung neidischen Prälaten verteidigen sie ihre Errungenschaften. Unausbleiblich ist dieser Kampf zwischen ihnen, die das Reale vertreten, und denen, die dies Reale in seinem Rechte bestreiten, und es ist dieser Kampf um die Berechtigung des Realen, der sich besonders in dem Streit um das Schulwesen darstellt und ausspricht, wie er am Ausgang des Mittelalters zwischen Städten und Klerus sich überall entspinnt. Die geistlichen Dom- und Stiftschulen, nur auf den zukünftigen Kleriker zugeschnitten, genügen den Bedürfnissen des Bürgers nicht; aber die Stadtschulen mit dem sich an ihnen und durch sie heranbildenden selbständigen, ungeistlichen und von der Aufsicht der Geistlichkeit frei sein wollenden, humanistischen Lehrerstand sind ein Dorn im Auge des Klerus, und es bedarf all der Zähigkeit und Ausdauer des im mühsamen Kampf ums Dasein hartgehämmerten Bürgers, um seine Stadtschulen zu gründen, zu bewahren und auszugestalten. Was liegt hier anders vor, als der Kampf zwischen dem Streben nach einer naturgemässen Bildungs- und Erziehungsart und einer der Natur widersprechenden Pädagogik! Und wie der Gedanke einer

Naturtheologie, so taucht nun auch bald überall der Gedanke und der Ruf nach naturgemässer Schulung des Geistes, nach natürlicher Methode in der Pädagogik auf und entspricht auf dem Gebiete der Leitung der einzelnen Individuen dem Bedürfnisse einer naturgemässen Leitung und Ordnung auf dem grossen Gebiete der Staats- und Völkerindividuen, wie dieselbe in der Begründung des Naturrechtes ihre Befriedigung zu finden sucht.

Auf allen Punkten des Lebens drängt das Natürliche sich wieder in seine Rechte zurück und drückt das Alte in seiner Unnatur zu Boden. Die Folge davon ist, dass die bisherigen, jahrhundertelang von der europäischen Menschheit gehegten Grundbegriffe in ein gewaltiges Schwanken geraten. Denn die geistigen Begriffe verhalten sich genau so wie die natürlichen Organismen; auch sie sind den Gesetzen der Vererbung und Veränderung unterworfen. In diesem gesamten Begriffs system war der Mittelpunkt, in dem alle im übrigen noch so sehr auseinandergehenden Anschauungen doch stets ihre Vereinigung gefunden hatten, der Glaube an die unzweifelhafte Wahrheit des kirchlichen Lehrinhalts und die daraus entspringende unbedingte Anerkennung der kirchlichen Autorität. Auf diesem Grundstein erhob sich dann der Bau der mittelalterlichen Gesellschaft, dessen architektonisches Prinzip wiederum das unantastbare Dogma der Stände war, d. h. der Glaube an die unzerstörbare Überordnung des Klerus und des Ritteradels über alle anderen Menschen. Jener Grundstein wird von den Strömungen des Zweifels in bedenklicher Weise unterwaschen, dieser Aufbau gewaltig durchrüttelt und in seinen Verhältnissen verschoben, indem der dritte Stand, das Bürgertum, seiner natürlichen Menschenrechte sich bewusst zu werden anfängt und einen Neubau fordert, in welchem auch ihm ein hervorragender Platz eingeräumt werde. Die alten Begriffe beginnen sich umzubilden, aber damit dieser Umwandlungsvorgang gründlich vollzogen werden könne, darf das Alte nicht bloss einfach vernichtet, es muss auch wirklich Neues erzeugt werden; es darf der Geist, wenn er wieder wahrhaft erzeugerisch werden soll, nicht nur entleert werden vom alten Wahn, sondern muss auch erfüllt

werden von neuer Wahrheit. Und hier ist es nun, nachdem alle negativen Bedingungen erfüllt sind, die weltweite Natur selbst, die ihren Mutterschoss öffnet und eine Flut neuer und gewaltiger Potenzen in das Leben und den Geist der Menschheit einströmen lässt. Die Aufgabe, welche der Nominalismus im allgemeinen gestellt hatte, die Natur der Dinge zu erforschen, wird nun im einzelnen wirklich gelöst. Die Natur wird nach Gesichtszügen und Gliederbau jetzt wirklich entdeckt. Über alles bis dahin gewohnte Mass hinaus erweitert sich die menschliche Erkenntnis, alle bisherigen Grundbegriffe stellen sich nach Inhalt und Umfang als viel zu eng gefasst heraus und jetzt beginnt in voller Wucht die mächtige Umbildung, aus der ein ganz neues menschliches Begriffs- und Anschauungs-, Gefühls- und Willenssystem hervorgeht, eben das, durch welches die neuere Zeit sich vom Mittelalter unterscheidet, wie der Mann vom Kinde.

Es ist erstens der Begriff der Zeit, der einer völligen Neugestaltung unterzogen wird. Für den mittelalterlichen Christen begann, wie seine Zeitrechnung, so auch die wahre Zeit und das wahre Geschehen in ihr, die eigentliche Geschichte erst mit der Gründung des Christentums; für alles, was vor dieser Zeit lag, hatte er keine Zeit, keinen Zeitsinn, d. h. keinen geschichtlichen Sinn, also auch keine Einsicht in den lückenlosen Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung und daher keine Erklärung und kein Verständnis für sein eigenes Sein und Gewordensein, noch für nichtchristlicher Völker Thun und Treiben. Da erfolgt die Wiedererweckung des klassischen Altertums durch den Humanismus; um ein ungeheures Stück wird nach rückwärts die Grenze und der Inhalt der Zeit erweitert; es wird der Menschheit plötzlich klar, dass sie mehr Jahre des wachen, hellen, erkenntnisfähigen, mündigen Bewusstseins zählt, als ihr von der Kirche gesagt ist, dass sie mehr Erfahrungen hinter sich hat und aus eigener Kraft mehr Weisheit besitzt, als sie sich zugetraut hatte; ihr geistiges Kapital, das ihr so lange vorenthalten war, wird wiederentdeckt; weit reicht ihr geistiger Stammbaum zurück, mit kräftigen Wurzeln in vergessene Tiefen gehend. Da freut sie sich dieser Offenbarung von ganzem Herzen, fühlt vom Geist des Altertums ihren

eigenen Geist erwachen, den rein menschlichen Geist, das natürliche Denken, das humane Fühlen. Sie gewinnt wieder Mut und Vertrauen zu der menschlichen Vernunft und will nicht länger mehr das Gängelband des Klerikers ertragen; sie will jetzt nicht mehr bloss kirchlich, sie will menschlich, nicht im Sinne des Hierarchismus und des Dogma, sondern in dem des Humanismus und der Kritik denken und handeln. Darin besteht das Verdienst der Humanisten, d. h. in nichts anderem, als dass sie den mittelalterlichen Begriff des Zeitlichen von Fehlern befreit und modernisiert haben, dass sie aus einem neuen Zeitbegriff einen neuen Begriff vom Menschen entwickelt haben.

Wie der Zeitbegriff, so wird zweitens auch der Raumbegriff berichtigt und völlig neu gefasst. Hier sind die Korrektoren die grossen Entdecker, die Kolumbus, de Gama, Kortez, Balboa, Magelhaens. Nach Inhalt und Umfang war der Begriff des Erdraumes zu eng gefasst. Der Inhalt des Begriffs wird durch das die ganze Definition und alles, was aus ihr folgt, verwandelnde Merkmal der ,,Kugelgestalt" bereichert. Hinsichtlich des Umfanges des Begriffs werden die Grenzen des Erdraumes bis an ihr wirkliches Ende verfolgt; neue Länder, neue Meere treten aus dem Dunkel hervor und werden ebensoviel neue Zielpunkte für die durch sie entfesselten Bestrebungen der Menschheit. Wiederum beginnt eine grossartige Völkerwanderung und erzeugt in dem Körper der alternden Europa Säfteströmungen, die ungeahnte, bis dahin latent gebliebene Kräfte auslösen und einen wunderbaren Verjüngungsprozess einleiten.

Im Gefolge der Erweiterung des geographischen Begriffs tritt aber auch sehr bald eine wichtige Neuerung hinsichtlich der bis dahin herrschenden ethnographischen Vorstellungen auf, auch aus dem neuen Raumbegriffe entwickelt sich ein neuer Menschheitsbegriff. Es entsteht ein anthropologischer Zweifel, in dem die ersten Keime zu den Anschauungen liegen, welche die heutige Anthropologie vom Menschen lehrt. Für die mittelalterlichen Anthropologen war das allein massgebende Lehrbuch die mosaische Urkunde. Mit der Entdeckung Amerikas war aber nicht bloss eine ganz neue Fauna und Flora, sondern auch eine ganz neue

Menschenrasse zum Vorschein gekommen, deren Stammvater unter den drei Söhnen Noahs, Sem, Ham und Japhet, nicht vorgesehen war, und die sich mithin in den alten Rahmen der mosaischen Menschenkunde nicht einfügen liess. So entsteht denn der Zweifel, ob die bisherigen Begriffe von der Abstammung des Menschengeschlechts überhaupt richtig seien. Nicht als ob die Kühnheit gleich bis zu heutigen Deszendenztheorien ginge, aber von dem einen Adam, dessen Nachkommenschaft die noachische Familie war, stammte der rote Mann doch wohl nicht ab. Wie, wenn Gott gar nicht bloss einen, sondern gleichzeitig mehrere Adame geschaffen hätte? So will es wirklich der von der Kirche verdammte Koadamitismus, wie ihn z. B. Paracelsus bekennt, wenn er einen weissen, einen schwarzen und einen roten Adam annimmt. Der anthropologische Skeptizismus ist nun einmal erwacht und bildet schon ein Jahrhundert später den Begriff des Koadamitismus zu dem des Präadamitismus um. Isaak la Peyrère will im 17. Jahrhundert auf Grund der Bibel selbst, alten wie neuen Testaments, beweisen, dass Gott vor dem letzten zum Sündenfall und Erlösungswerk erschaffenen Adam bereits andere präadamitische Menschen, die Stammväter der Heiden, geschaffen habe, und dass also, wenn auch der letzte Adam erst vor 6-7000 Jahren ins Leben gerufen sei, das Alter des übrigen heidnischen Menschengeschlechtes viel weiter zurückdatiere. Hier erscheinen also die ersten Anfänge jener völligen Umbildung der anthropologischen und besonders der anthropogonischen Begriffe, deren Weiterentwicklung von nun an nicht mehr ruht und rastet, sondern direkt in die heutigen Theorien hineinführt.

Drittens wird auch der Begriff des Stoffes reformiert. Der Stoff gilt dem Mittelalter im platonischen Sinne als das μὴ ὄν, das Nichtseinsollende, an sich Kraftlose und Verächtliche. Da kommen eine Fülle von Erfindungen, die den Stoff und seine einzelnen Stoffe erweisen als ein überaus Gewaltiges und Mächtiges. In jenem schwarzen Stoffe, genannt Schiesspulver, welche wunderbare Kraftwirkungen, die dem Bergmann die Tiefe der Erde eröffnen, die dem Eroberer fremder Zonen das Ansehen des Donnergottes gehen und ihm die wilden Völker unterthan machen,

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