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,,Ideenwelt". Die Ideen sind die hervorbringenden, schöpferischen Ursachen der Dinge; also ist die Ideenwelt das Erste, das Primäre, der Zeit wie der Beschaffenheit und Kraft nach, die Welt der Dinge in jeder Beziehung das Zweite, das ganz und gar von jener Abhängige, Sekundäre. Die Dinge sind vergängliche, flüchtige, hinfällige Erscheinungen, geschaffene Kreaturen, die Ideen allein das Dauernde, Beständige, Unwandel- und Unzerstörbare, Ewige, Wesenhafte, die eigentlichen Schöpfer. Die Ideenwelt ist also das wahrhaft Seiende (das övtws öv), die Erscheinungswelt das Nichtige, das so gut wie Nichtseiende, weil stets Vergehende, das relativ (im Vergleich mit der Ideenwelt) Nichtseiende (das μὴ ὄν). (Von diesem Platonischen μὴ ὄν der Welt ist es offenbar nur noch ein Schritt bis zu Augustinus: die Welt aus nichts.) So giebt es in Wahrheit zwei Welten, die wahre Welt der Ideen, der ewigen Wesenheiten und Ursachen, und die Welt der Erscheinungen, und dieser dualistische Gegensatz wird nun schroff und konsequent entwickelt. Die Ideenwelt ist unwandelbar, unvergänglich, ewig. Alles Stoffliche ist dem Wandel und der Vergänglichkeit unterworfen. Die Ideen sind also nicht stofflich, sie sind unstofflich, immateriell. Hier zum ersten Mal von Platon wird klar und deutlich der Gedanke des Immateriellen ausgesprochen; hier ist seine Geburtsstätte, hier die Gedanken- und Schlussreihe, aus der er sich entwickelt hat. Der Nus des Anaxagoras, der bereits an der Grenze des Stofflichen stand, die im Stoffe waltenden psychischen Kräfté des Empedokles waren, wie wir schon früher hervorhoben, die embryonischen Vorstufen des hier erst fertig geborenen Kindes. Das Stoffliche ist sinnlich wahrnehmbar, das Unstoffliche mithin nicht sinnlich, ausser- und übersinnlich, rein geistig. So sind also die Ideen rein geistige Wesen, göttliche Geister, Intelligenzen, selbst Götter, viele vois statt des einen bei Anaxagoras. Sie besitzen allein alle Kraft, die Materie an sich ist ganz kraftlos. Die Kraft der Ideen, sofern sie ja rein geistig sind, ist reine Geisteskraft, reines ideelles Denken. Durch die Kraft ihres immateriellen Denkens bewegen sie die Materie und gestalten sie, jede Idee nach ihrer Form, zu den materiellen Einzeldingen, deren jedes lediglich

Produkt und Ausdruck seiner schöpferischen Idee ist. Die Materie ist also ganz passiv und wird bewegt, die Ideen allein sind aktiv und bewegen. Sie gestalten den Stoff nach ihren Zwecken und Absichten so sind sie nicht bloss die hervorbringenden, sondern die zweckmässig hervorbringenden Ursachen (causae finales) aller Dinge, und alle Dinge somit durch und durch zweckmässige Schöpfungen. So erscheint hier also die ganze Welt als von geistigen Zwecken geschaffen, bewegt und getrieben. Dem Mechanismus der Natur ist hier nichts überlassen, alles in der Welt ist teleologisch bestimmt, geht aus von geistigen Zwecken, zielt hin auf geistige Zwecke.

Wo in aller Welt sind denn aber diese ewigen, übersinnlichen, rein geistigen Mächte? Nicht innerhalb der sinnlichen Erscheinungswelt, so weit dieselbe reicht. Also ausserhalb derselben; wo die sinnliche Erscheinungswelt aufhört, erst da beginnt die Ideenwelt. In der Bestimmung dieses Ortes der Ideenwelt (die als rein immaterielle Wesen doch wohl eigentlich keinen Ort haben sollten) folgt nun Platon ganz und gar der naiven, volkstümlichen Anschauung von der Welt und ihren Grenzen, wie sie allen Vorkopernikanern eigen war, und wie sie Ptolemäus in seinem Weltsystem formulierte. Die Welt ist, wie die Sinne sie zeigen, eine Hohlkugel, deren Mittelpunkt die Erde, deren Umfang das sichtbare, blaue Himmelsgewölbe bildet. Dieses, an welchem die Fixsterne befestigt sind, und die Planeten, zu denen Sonne und Mond gehören, kreisen beständig um die Erde. Das blaue Himmelsgewölbe, das mithin für eine wirkliche feste Decke gehalten wird, ist also Ende und Grenze der sinnlichen Erscheinungswelt. Da die Ideen nicht innerhalb dieser letzteren sein können, so befinden sie sich ausserhalb, d. h. also jenseits jener festen blauen Himmelsdecke, ja sogar unmittelbar auf derselben. Hier unten ist das Diesseits, dort oben das Jenseits und dieses der Ort der Ideen; dort stehen sie in ihrer ewigen Macht und Herrlichkeit, von dort erschaffen und erhalten sie die diesseitige Welt. So entsteht im Fortgang der konsequenten Entwicklung des Wesens der Ideen zum ersten Mal hier die Vorstellung eines ,,Himmels" im Gegensatz zur Erde, eines himmlischen Jenseits zum irdischen Diesseits;

zum ersten Mal wird das All dualistisch schroff auseinander gerissen, wenigstens im europäischen Denken; vor Platon giebt es einen solchen immateriellen, jenseitigen Himmel nicht: Die Götter wohnen auf dem Olymp, die Seelen im Hades oder auf den Inseln der Glückseligen; Götter- und Seelenort ist immer noch diesseitig, immanent erst mit Platon beginnt die Vorstellung des Transcendenten. Nun ist das Diesseits vergänglich, hinfällig, nichtig, das Jenseits das wahre, ewige Sein; das immaterielle Jenseits allein hat also Wert und Würde, das materielle Diesseits ist nichts als Staub und Asche und leerer Schatten. Wer wollte nach diesem preislos nichtigen Jammer haschen, wenn ihm die höchste Herrlichkeit der anderen Welt entgegen leuchtet? Sie ist das wahre Ziel alles menschlichen Strebens, alles Irdische nur Gegenstand des Widerstrebens. Die Erde ist das Jammerthal, der Himmel allein die wahre Heimat. So muss denn der Mensch, angeekelt von der Schalheit dieses Daseins, der Welt entfliehen und absterben, um seiner eigentlichen Heimstätte zu leben. Zum ersten Mal hier im Platonismus entsteht also der Gedanke des Weltschmerzes und der Weltflucht; das Bedürfnis nach Erlösung von der Welt wird wach; dem griechischen Optimismus stellt sich hier der ungriechische Pessimismus entgegen; der neue Geist des Christentums erhebt sein Haupt, und damit wird die heitere, dem Irdischen in heller Freude zugewandte Seele des Hellenentums getötet und vernichtet. Wenn schon Sokrates, indem er das Sittliche anfing über das Schöne zu stellen, die Fundamente des Hellenengeistes untergrub, so vollzieht Platon den Umsturz desselben völlig, indem er ihm den festen Boden dieser Welt, auf dem er stand, unter den Füssen wegzieht und statt des Sichtbaren das Unsichtbare, statt des Materiellen das Immaterielle zum Angelpunkt der Weltanschauung und des praktischen Strebens macht. Daher von nun an auch der Verfall alles dessen, was im Sinnlichen, Natürlichen und Diesseitigen wurzelt: der Kunst- und der Naturwissenschaft; und erst da können diese beiden ihre Wiedergeburt feiern, wo dieses Natürliche wieder anfängt in seine Rechte eingesetzt zu werden: im Zeitalter der Renaissance. Die Verwandtschaft des

Platonismus mit dem Christentum liegt aber schon hier klar vor Augen.

Die Ideenwelt ist kein wüstes Chaos, vielmehr baut sie sich in höchster, vollkommenster Ordnung auf. Welches ist ihre Organisation? Die Idee ist nichts anderes als der existent gedachte Begriff. Die Organisation der Ideenwelt stellt sich deshalb Platon genau nach dem Schema der logischen Gliederung der Begriffe vor. Alle Begriffe verhalten sich zu einander als allgemeinere und speziellere, als höhere und niedere, als über- und untergeordnete. Nehmen wir z. B. den Begriff des Lebendigen, so fallen unter ihn als den höheren Begriff etwa die untergeordneten Begriffe Menschen, Tiere, Pflanzen. Unter jeden dieser Begriffe würden. wieder die einzelnen Pflanzen-, Tier- und Menschengruppen fallen, von den allgemeineren Arten zu den spezielleren, bis zu den speziellsten abwärts. So würde sich etwa der Begriff Mensch zerlegen in die Begriffe Kaukasier, Neger, Mongolen etc.; der Begriff Kaukasier in Romanen, Germanen etc.; der der Germanen in Deutsche, Dänen, Schweden etc.; der der Deutschen in Sachsen, Schwaben u. s. w. Stellen wir uns diese Begriffszergliederung in einem Schema vor Augen, etwa so:

Lebendiges

Menschen, Tiere, Pflanzen

Kaukasier, Neger etc.

Romanen, Germanen etc.

Deutsche, Schweden, Dänen etc.

Schwaben, Sachsen etc.

und denken wir uns die Spezifikation für alle Begriffe in dem Schema wirklich durchgeführt, so treffen wir, je weiter wir nach unten gelangen, auf immer mehr besondere, je weiter wir nach oben steigen, auf immer weniger allgemeine Begriffe, bis wir endlich auf der obersten Linie nur noch einen einzigen, den allgemeinsten Begriff vorfinden. Wollten wir geometrisch dieses Schema mit Linien umgrenzen, so bekämen wir ein Dreieck, dessen Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft.

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Grundlinie von der Fülle der besonderen, dessen Spitze von dem einen allgemeinsten Begriff gebildet würde. Dächten wir uns diesen Begriffsbau als plastischen Körper sich erheben, so könnten wir ihn uns als Pyramide vorstellen, deren breite Basis die spezielleren Begriffe, deren Spitze der höchste Begriff wäre. Nun können wir alle Begriffe, die es überhaupt giebt, in einer solchen Über-, Unter- nnd Nebenordnung uns plastisch als ungeheure Begriffspyramide vorstellen. So hätten wir damit das getreue Abbild des Baues und der Organisation der Ideenwelt, wie Platon sich dieselbe ganz sinnlich anschaulich trotz ihrer übersinnlichen Natur denkt, vor Augen. In dieser pyramidalen Anordnung erheben sich die Ideen im Jenseits stufenweise über, unter und neben einander, je nach ihrer Bedeutung. Diese so organisierte platonische himmlische Hierarchie der Ideen bleibt nun das grundlegende Vorbild und Muster für alle Vorstellungen über das Jenseits in der Folgezeit. Nach dem Vorgange schon Platons selbst, im Timäus, machen die Neuplatoniker aus den Ideen Götter, aus den Ideenordnungen Götterordnungen (ein Beispiel davon wird uns später Plethons Weltanschauung geben). Es sind die unter dem Namen des Dionysius Areopagita, eines neuplatonisch gebildeten Christen, gehenden Schriften, welche ungefähr im 5. Jahrhundert nach Christo an Stelle dieser neuplatonischen Götter die Engel, an Stelle der Götterordnungen die christlichen Engelordnungen (die Seraphim, Cherubim, Throni, Erzengel, Engel etc.) setzen und somit die dann von der mittelalterlichen Kirche rezipierte Staatsverfassung des Jenseits bilden, die ihren klassisch - poetischen Ausdruck endlich in Dantes göttlicher Komödie findet.

Alle Begriffe fallen unter den allgemeinsten, den höchsten, in dem sie sämtlich enthalten sind. Dieser höchste Begriff, und also die höchste, alle anderen in sich umfassende Idee, ist bei Platon das Gute; diese höchste Idee ist Gott selbst, die Idee der Ideen, die Uridee und Urkausalität aller Dinge, ganz immateriell, ganz reines Denken, ganz fern der materiellen Welt, ganz transcendent, ganz und gar im dualistischen Gegensatz zu aller Materie und allem weltlichen Wesen. Hier zum ersten Mal im Platonismus taucht die Vorstellung einer immateriellen, dualistisch der Welt gegenüber stehenden,

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