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Poesie, d. h. zu dem Eindruck der Natur auf den Menschen, ehe er das Universum und sich selbst zers gliedert hatte, zurückzukehren. Die Biegsamkeit der deutschen Sprache verträgt sich vielleicht allein mit einer Uebersetzung dieser Naivetåten aus den Spra chen aller Länder, ohne welche man keinen Eindruc von den Volkspoesieen erhält. In diesen Poeficen haben die Wörter durch sich selbst eine gewisse Ans muth, welche uns rührt wie eine Blume, die wir in unserer Kindheit gesehen, oder wie eine Ges fangsweise, die wir in früheren Jahren gehört has ben. Und diese seltsamen Eindrücke enthalten nicht blos die Geheimnisse der Kunst, sondern selbst die der Seele, wo, die Kunst sie geschöpft hat. Die Deutschen zergliedern in ihrer Literatur selbst die zarten Abstufungen, die sich dem Worte versagen, und man könnte ihnen den Vorwurf machen, daß sie es in allen Dingen darauf anlegen, das Uns aussprechliche begreiflich zu machen.

In dem vierten Theile dieses Werks werde ich von Herders Schriften über Theologie reden; Geschichte und Literatur finden sich auch darin nicht selten vereinigt. Ein Mann von Genie, der fo aufrichtig war, wie Herder, mußte die Religion allen Gedanken, und alle Gedanken der Religion beimischen. Man hat gesagt: seine Schriften håts ten große Aehnlichkeit mit einer belebten Unterhals tung. Wahr ist, daß er seinen Werken nicht die methodische Form gegeben hat, die man den Bü chern in der Regel giebt. In den Säulengången und in den Gårten der Akademie erklärte Plato seinen Schülern das System der intellectuellen Welt; und in Herder findet man sene edle Nachläßigkeit des Talents, die mit Ungeduld zu neuen Ideen übergeht. Ein gut construirtes Buch ist eine mos derne Erfindung. Die Entdeckung der Buchdruk23 **

kerei hat die Abtheilungen, die Recapitulationen und das ganze Gepränge der Logik nothwendig gemacht; die meisten philosophischen Werke der Al ten find Abhandlungen oder Gespräche, die man fich als geschriebene Unterhaltungen denkt. Auch Montaigne überließ sich einem natürlichen Gedans kenlaufe. Es ist wahr, zu einem solchen Sich ges hen lassen gehört eine entschiedene Ueberlegens heit; die Ordnung ergänzt den Reichthum, und wenn die Mittelmäßigkeit sich dem Zufall überlasfen wollte, so würde sie gewöhnlich uns auf dens felben Punkt zurückbringen, so daß die Mühe ums sonst wäre. Aber ein Mann von Genie interesfirt am meisten, wenn er zeigt, wie er ist, und wenn seis ne Bücher mehr improvisirt als componirt scheinen.

Herders Unterhaltung war, wie man sagt, bez wundernswerth; und in seinen Werken fühlt man, daß dem so seyn mußte. Auch das fühlt man darin, daß es, wie alle seine Freunde bezeugen, keinen besseren Mann gab. Wenn das literarische Lalent denen, die uns noch nicht kennen, Zuneis gung für uns einflößen kann, so ist es von allen Geschenken des Himmels das, wovon wir die füBesten Früchte auf Erden einsammlen.

Ein und Dreißigstes Capitel.

Von den literarischen Reichthümern Deutschlands und von seinen berühmtesten Kunstrichtern, Aug. Wilh. und Friedrich Schlegel.

Ich habe in diesem Gemälde der deutschen Lis teratur die vorzüglichsten Werke zu bezeichnen mich bemüht; allein ich habe darauf Verzicht leisten müssen, eine große Zahl von Männern zu nennen, deren minder bekannte Schriften bei weitem mehr

zur Belehrung Derer, die sie lesen, als zum Ruhs me ihrer Verfaffer dienen.

Die Abhandlungen über die schönen Künste, die Werke über Gelehrsamkeit und Philosophie ges hören zwar nicht unmittelbar der Literatur an, müssen aber gleichwohl zu ihren Reichthümern ges rechnet werden. Es giebt in Deutschland Schäße von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europa's in sehr langer Zeit nicht erschös pfen werden.

Auch das poetische Genie, wenn der Himmel uns dasselbe zurückgiebt, könnte einen glücklichen Antrieb von der Liebe für die Natur, für die Künfte und die Philosophie erhalten, welche in allen Ges genden Deutschlands gährt. Zum wenigsten aber wage ich die Behauptung, daß Jeder von uns, der fich einer ernsten Arbeit, sie bestehe worin sie wolle, widmen will, in Hinsicht der Geschichte, der Philosophie und des Alterthums die Bekanntschaft der deutschen Schriftsteller, die sich damit beschäftigt haben, nicht entbehren kann.

Frankreich kann sich einer großen Zahl von Ges lehrten der ersten Stärke rühmen; allein selten sind in ihnen Kenntnisse mit philosophischem Scharfs finn verbunden gewesen, während beide in Deutsch land gegenwärtig beinahe unzertrennlich sind. Die, welche die Unwissenheit als eine Gewährleistung der Anmuth in ihren Schuß nehmen, nennen eine Anzahl von Männern, welche viel Geist und wenig Gelehrsamkeit hatten; allein fie vergessen, daß eben diese Männer das menschliche Herz, so wie es sich in der Welt offenbart, gründlich studirt hatten, und daß ihre Ideen sich hierauf bezogen. Håtten diese über die Verhältnisse der Gesellschaft unters richteten Männer über Gegenstände der Literatur urtheilen wollen, ohne dieselben zu kennen: so würs

den fie eben so langweilig geworden seyn, wie der Bürgerliche, wenn er über den Hof spricht.

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Als ich das Studium des Deutschen begann, kam es mir vor, als ob ich in eine ganz neue Ephäre tråte, worin sich das auffallendste. Lidt über Alles verbreitete, was ich bis dahin auf eine verworrene Weise empfunden hatte. Seit einiger Zeit lieser man in Frankreich nur Denkwürdigkeis ten oder Romane, und wahrlich nicht aus bloßem Flattersinn ist man ernsthafterer Lecture minder fähig. Der Grund liegt vielmehr darin, daß die Begebenheiten der Revolution, die Franzosen ges wöhnt haben, nur auf die Kenntniß der Thats fachen und der Personen einen Werth zu legen. In den deutschen Büchern über die abstractesten Gegenstände findet man die Art von Interesse, welche nach guten Romanen lüstern macht, d.h. nach dem, was sie uns über unser eigenes Herz fagen. Der unterscheidende Charakter der deuts schen Literatur besteht darin, daß alles auf das innere Daseyn bezogen wird; und da dies das Geheimniß der Geheimnisse ist, so knüpft sich dars an eine grånzenlose Neugierde.

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Ehe ich zur Philosophie übergehe, welche in allen Ländern, wo die Literatur frei und mächtig ist, einen Theil derselben ausmacht, werde ich noch einige Worte über das sagen, was man als die Gesetzgebung dieses Reichs betrachten kann; ich meine die Kritik. Kein Zweig der deutschen Literatur ist weiter ausgebildet worden; und wie man in gewissen Städten mehr Aerzte als Kranke antrifft, so giebt es auch in Deutschland bisweilen mehr Kritiker als Autoren. Indeß sind die Zergliederungen Leffings, des Schöpfers der deuts schen Prosa, von einer solchen Beschaffenheit, daß sie als Werke betrachtet werden können.

Kant, Göthe, Johann von Müller, die größten Schriftsteller Deutschlands in allen Fächern, haben in die Journåle sogenannte Recensio= nen von verschiedenen, so eben bekannt gemachten Schriften eingerückt, und diese Recensionen ent halten die tiefsten philosophischen Theorien und die positiven Erkenntnisse. Unter den jüngeren Schrifts stellern haben sich Schiller und die beiden Schlegel vor allen übrigen Kunstrichtern vorzüglich ausgez zeichnet. Von Kants Schülern ist Schiller der Erste, welcher seine Philosophie auf die Literatur angewendet hat; und in Wahrheit macht es einen so großen Unterschied, ob man von der Seele ausgeht, um über die äußeren Gegenstände zu urs theilen, oder ob man von den åußeren Gegenstånden über das, was in der Seele vorgeht, urtheilt, daß alles davon abhängt. Schiller hat zwei Abhandlungen über das Naive und Sintimerz tale geschrieben, in welchen das sich verkennente und das sich beobachtende Talent mit erstaunli chem Scharfsinn entwickelt worden sind; aber in seinem Versuch über die Anmuth und Würde und in seinen Briefen über die Aesthetik, d. h. die Theorie des Schönen, ist allzu viel Metaphysik. Will man von dem Kunstgenuß_reden, für welchen alle Menschen empfänglich sind, so muß man sich immer auf die Eindrücke stützen, die sie erhalten haben, und sich nicht abstracte Formen erlauben, über welche die Spur dieser Eindrücke verloren geht. Schiller hing an der Literatur durch sein Genie und an der Philosophie durch seine Neigung für das Nachsinnen. Seine prosaischen Schriften halten sich innerhalb den Gränzen beider Regio nen; indeß versteigt er sich nicht selten in die hoch. ste, und indem er unaufhörlich auf das zurückkommt, was in der Theorie am meisten abstract

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