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Die Einwendungen gegen die bedingte Verurtheilung.

Bedenken principieller Art, wie sie in den frühern Stadien der Erörterung in Deutschland gegen die Einrichtung der bedingten Verurtheilung erhoben wurden, sind von dem preußischen Justizminister im Abgeordnetenhause und dem Staatssecretair des Reichsjustizamtes im Reichstage in dem frühern Umfange und mit der frühern Schärfe nicht mehr geltend gemacht worden. Zum guten Theil erscheinen diese Bedenken auch schon durch die erfolgte Einführung der bedingten Begnadigung aufgegeben.

Wenn der preußische Justizminister die Besorgniß aussprach, daß, falls die bedingte Verurtheilung nach belgischem Muster durch Geset eingeführt werde, sie zu einer weitern Schwächung der staatlichen Autorität beitragen werde, so ist schwer abzusehen, was eine solche Annahme rechtfertigen könnte. Der Richter ist doch nicht minder Organ der staatlichen Autorität, wie der Verwaltungsbeamte, und es liegt auch feinerlei Grund zu der Befürchtung vor, daß der deutsche Richter von der in Rede stehenden Befugniß einen weniger die Autorität des Staates schonenden und die Willkür ausschließenden Gebrauch machen sollte, als der belgische, französische und englische Richter.

Mit besonderm Nachdruck betonte der preußische Justizminister, daß im Jahre 1891 von 48 Friedensgerichten in Belgien von der Befugniß, eine bedingte Verurtheilung auszusprechen, kein Gebrauch gemacht worden sei. Der Minister schloß daraus auf die außerordentlich verschiedenen Auffassungen der Gerichte. Die von dem Minister angeführte Thatsache, welche im preußischen Abgeordnetenhause ein gewisses Aufsehen erregte, ist an sich richtig, aber sie hat sich in völlig befriedigender Weise aufgeklärt. Auf eine bezügliche Anfrage des Reichstagsabgeordneten Roeren ertheilte der frühere belgische Justizminister Le Jeune schon im vorigen Jahre die nachstehende dankenswerthe Auskunft: „In der ersten Zeit gingen unsere Friedensrichter mit einem gewissen Zaudern an die Handhabung des Gesezes heran. Es hatte sich die Meinung unter den Richtern verbreitet, daß das Gesetz vom 31. Mai 1888 auf die einfache Polizei-Gerichtsbarkeit keine Anwendung finde. Der Zweifel in dieser Beziehung war durch die Kürze der Verjährungsfristen bei Uebertretungen entstanden. Aber dieser Zweifel ist längst vollständig behoben, und gegenwärtig sprechen alle unsere Friedensrichter bedingte Verur

theilungen aus. Ich kann versichern, daß kein Friedensrichter aus einem andern als dem angeführten Grunde die Vollmachten des Gesezes nicht anwandte, daß vielmehr unsere Magistratur die Vollmachten des Gesezes vom 31. Mai 1888 einmüthig mit Genugthuung handhabt (Nos magistrats se félicitent unanimement d'avoir été investis des pouvoirs de la loi du 31 mai 1888). Alle unsere Gerichte erster Instanz und alle unsere Appellhöfe wenden heute regelmäßig das Gesez vom 31. Mai 1888 an. Im Durchschnitt sind über 35 pCt. aller durch die Gerichte erster Instanz ausgesprochenen Verurtheilungen bedingte.“

Den Hauptnachdruck legten der preußische Justizminister und der Präsident des Reichsjustizamtes auf die unzureichenden praktischen Erfahrungen, welche mit der bedingten Verurtheilung bisher ge= macht seien, und die Denkschrift des Staatssecretairs des Reichsjustizamtes legt für Belgien geradezu die Folgerung auf einen Mißerfolg der Anwendung der bedingten Verurtheilung gegenüber dem Rückfall nahe.

Richtig ist ja, wie die Denkschrift des Reichsjustizamtes ausführt, daß aus den bisher vorhandenen Statistiken die günstigen Wirkungen der bedingten Verurtheilung nicht ziffernmäßig festzustellen sind. Aber diese Statistiken lassen auch keinerlei Schluß im gegentheiligen Sinne zu, und namentlich gilt dies von den Seite 17 mitgetheilten Ziffern, welche an sich sehr geeignet erscheinen, entmuthigend auf die Anhänger der Einrichtung der bedingten Verurtheilung einzuwirken. Diese Ziffern sind nämlich, wie uns Staatsminister Le Jeune auf eine bezügliche Anfrage erwidert hat, grundfalsch, wofür selbstverständlich das deutsche Reichsjustizamt nicht verantwortlich gemacht werden kann. Der frühere bel= gische Justizminister, der Vater des Gesezes vom 31. Mai 1888, schreibt uns darüber das Folgende: „Die Criminalstatistik in Belgien ist noch in den ersten Anfängen und durchaus fehlerhaft bezüglich der Criminalität im allgemeinen. Die bedauerliche Folge ist, daß man aus dem Wachsthum der belgischen Criminalität im allgemeinen Schlüsse gegen die Institution der bedingten Verurtheilung ziehen kann, aber man sezt sich dadurch mit den wirklichen Thatsachen in Widerspruch, wenn auch leider die fehlerhaften Angaben der Statistik den Gegenstand amtlicher Veröffentlichungen bilden."

Es gebe, so schreibt uns Staatsminister Le Jeune weiter, in Belgien überhaupt keine Criminalstatistik, welche zu vergleichenden Betrachtungen und zur Feststellung des Standes der Rückfälligkeit dienen könnte. Während er das Justizministerium inne hatte, sei er an die Organisation der Statistik herangetreten, habe aber geglaubt, mit der Statistik des Vagabundenthums beginnen zu sollen, welche denn auch durchgeführt worden sei. Wenn es hiernach eine eigentliche Criminalstatistik

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in Belgien nicht gebe, so gebe es doch eine durchaus zuverlässige Gefangenen Statistik; für jeden zu Gefängnißstrafen Verurtheilten bestehe eine vollständige und genaue Aufstellung seiner frühern Verurtheilungen zu solchen. „Die Feststellungen unserer angeblichen Criminalstatistik bezüglich des Rückfalles sind ganz und gar falsch, aber wir be= sigen eine zuverlässige Statistik der erlittenen Gefängnißstrafen (Les constatations de notre prétendue statistique criminelle, quant à la récidive sont radicalement fausses; mais nous avons la statistique véridique des incarcerations répétées). Nun beträgt die Zahl der Rückfälligen bei den zu Gefängnißstrafen Verurtheilten (la récidive pénitentiaire) nicht weniger als 75 pCt. Diese geradezu ungeheuere Ziffer, noch dazu in einem Lande, wo das Gefängnißwesen anerkanntermaßen in musterhaftem Zustande sich befindet, war es, welche in Belgien hauptsächlich den Anstoß zur Einführung der bedingten Verurtheilung gab. Man sagte sich, daß der Aufenthalt im Gefängnisse ein wirksamer Grund des Rückfalles und des Anwachsens der Criminalität sei, und suchte durch die bedingte Verurtheilung in den dazu geeigneten Fällen möglichst viele Individuen dem unheilvollen Einflusse namentlich der furzzeitigen Freiheitsstrafen zu entziehen, nach allgemeiner Annahme mit bestem Erfolge, so daß niemand in Belgien daran denkt, die Einrichtung der bedingten Verurtheilung, welche sich vollständig eingelebt hat, wieder aufzugeben.“

Damit ist wohl die in der Denkschrift des Reichsjustizamtes mitgetheilte, der bedingten Verurtheilung ungünstige Tabelle vollständig ausgeräumt.

Anderseits drängt dagegen der überaus günstige Procentsaß der Rückfälligen unter den in Belgien bisher bedingt Verurtheilten gegen= über der erschreckend großen Zahl der Rückfälligen unter den in Belgien zu Freiheitsstrafen überhaupt Verurtheilten den Schluß auf, daß das belgische Gesetz vom 31. Mai 1888 eine ganz bedeutende Wirkung im Sinne einer Verminderung der Rückfälle ausübt, wenn sich auch bei dem gegenwärtigen Stande der belgischen Statistik diese Wirkung in Procenten nicht ausdrücken läßt.

Wenn ferner die Denkschrift des Reichsjustizamtes auf die hinsichtlich der Häufigkeit des Gebrauches der bedingten Verurtheilung zwischen den einzelnen Bezirken Belgiens hervorgetretenen Verschiedenheiten hinweist, so bemerkt dieselbe schon selbst, diese Verschiedenheiten dürften mit besondern örtlichen Verhältnissen im Zusammenhang stehen. In den Bezirken der drei belgischen Appellhöfe ist in der That, wie auch die Denkschrift hervorhebt, die bedingte Verurtheilung mit sehr bemerkenswerther Gleichmäßigkeit gehandhabt worden. Die Verschiedenheit zwischen

den einzelnen Arrondissements hat aber kaum etwas Auffallendes. Wenn beispielsweise die bedingte Verurtheilung in Gent sehr viel seltener zur Anwendung gelangt ist, wie in dem benachbarten Audenaerde, so erklärt sich dies wohl ausreichend aus den grundverschiedenen Verhältnissen der beiden Arrondissements. Gent ist eine große Fabrikstadt, in welcher eine aus allen Theilen des Landes und selbst des Auslandes zusammengewürfelte Bevölkerung zahlreiche, der Anwendung der bedingten Verurtheilung keinen Raum lassende Elemente in sich birgt, während wir in Audenaerde einen vorwiegend ländlichen Bezirk mit ganz anders gearteter Bevölkerungsmasse vor uns haben.

Grundsäßliche und praktische Bedenken gegen die
bedingte Begnadigung.

Die Einführung des bedingten Strafnachlasses bezw. der bedingten Begnadigung auf dem Verordnungswege ist, soweit wir sehen, allgemein als ein dankenswerther Fortschritt der Strafrechtspflege im Deutschen Reich aufgenommen worden, weniger allerdings wegen der Maßregel an sich, als im Hinblick auf die Consequenzen, welche man davon erwartet. In diesem Sinne bezeichnet auch v. Liszt') den (nach dem Vorgange Sachsens) an den preußischen Justizminister gerichteten königlichen Erlaß vom 23. October 1895 als eine „folgenschwere Neuerung". Der erste Schritt auf der bisher unbetretenen Bahn, möge er noch so zaghaft und tastend gethan werden, müsse andere nach sich ziehen. Der Erlaß bedeute „den ersten, entscheidenden Sieg, den die moderne Criminalpolitik über die alte formal-doctrinaire Jurisprudenz auf preußischem Boden erfochten" habe.

Aber v. Liszt betont auch gleichzeitig das entscheidende Bedenken gegen die im Deutschen Reich versuchte Lösung: der Eintritt oder Nichteintritt des Straferlasses wird in die jeder Nachprüfung wie jeder Verantwortlichkeit entrückte Willkür der Justizverwaltung gelegt. Das ist der grundsägliche Unterschied des bedingten Strafnachlasses nach sächsisch-preußischem System von der belgischen bedingten Verurtheilung.

Selbst wenn thatsächlich die bedingte Begnadigung der Krone allein vorbehalten bliebe, wäre die im Deutschen Reiche getroffene Ein

1) In der Berliner Zukunft, Nr. 14 vom 4. Januar 1896.

richtung bedenklich. Bei der bedingten Verurtheilung handelt es sich nicht um einen Gnadenact, sondern um die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe des Richters, um eine verstärkte Art der Verwarnung, einen Act der Strafzumessung. Dieser Grundgedanke der bedingten Verurtheilung kommt durch die bedingte Begnadigung nicht zu seinem Rechte.

Auch bezüglich der bedingten Begnadigung trifft, wenigstens theilweise, zu, was der Abgeordnete Roeren in der Sigung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 13. Februar 1895 bezüglich der Begnadigung überhaupt im Verhältniß zur bedingten Verurtheilung ausgeführt hat: ,,Die Begnadigung ist ein Act der königlichen Milde, die ohne Rücksicht auf die Zwecke der Strafe diese erläßt, lediglich um Milde walten zu lassen. Die bedingte Verurtheilung ist und bleibt ein Strafurtheil, das nur den Strafvollzug ausseßt und nur bedingungsweise aufhebt, um gerade den Hauptzweck der Strafe, die Besserung, desto sicherer zu erreichen. Während die Begnadigung sich stets nur auf einzelne Fälle beziehen kann, ganz gleichartige Fälle von ihr aber nicht be= troffen werden, ist durch die bedingte Verurtheilung eine gemeinsame gesetzliche Unterlage für die gleiche Behandlung aller gleich gearteten Fälle geschaffen, und während die Begnadigung nur auf Grund der Acten stattfindet, bildet bei der bedingten Verurtheilung die unmittelbare mündliche Verhandlung, der persönliche Eindruck des Betreffenden und seines ganzen Auftretens die Unterlage für die Prüfung und Entscheidung."

Die Gegner der bedingten Verurtheilung nach belgischem Muster haben gegen dieselbe insbesondere den Einwand erhoben, daß sie die Besorgniß parteiischer Handhabung errege. In den Ländern, in welchen die bedingte Verurtheilung in Uebung ist, insbesondere auch in Belgien, wo doch die politischen und socialen Gegensäge auf's schärfste zugespigt sind, wurde eine solche Besorgniß bis jezt nicht laut. Es liegt aber auf der Hand, daß dieselbe bei der Bevölkerung weit eher Plaß greifen kann und wird, wenn an die Stelle des auf Grund öffentlicher Verhandlung und unter der beständigen Controle der Oeffentlichfeit ergehenden richterlichen Urtheils das in seiner Anwendung durchaus freie Begnadigungsrecht der Krone tritt. Schon früher ist von uns betont worden, daß die Gnade aus Gründen der Zweckmäßigkeit geübt werden kann, welche vollständig außerhalb des Rechtsgedankens liegen, 3. B. in politischem Interesse, aus Gründen oder zu Zwecken, die mit der Person des Verurtheilten und seiner That nichts zu thun haben.

Nun läßt sich nicht leugnen, daß gerade in lezter Zeit die Bedenken bezüglich einer den Anschauungen und Gepflogenheiten bestimmter Ge

Görres-Gef., III. Vereinsschrift für 1896.

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