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rungsbauten von Gefängnissen. Dazu kommen die dauernden Ausgaben für Vermehrung des Aufsichtspersonals an den Gefangenen-Anstalten. Im Etat der Verwaltung des Innern werden allein an einzelnen jährlichen Raten für Erweiterungs- und Neubauten an Gefängnissen in diesem Jahre 1800 000 Mark gefordert. Begründet werden diese Forderungen damit, daß überall die Zahl der Verurtheilten sich so vermehrt hat, daß die bisherigen Gefängnisse sie nicht mehr aufzunehmen vermögen, daß sich die Zahl der Gefangenen im Laufe der Zeit verdoppelt, verdreifacht, ja vervierfacht habe. Bezüglich der fünften Rate, die für den Neubau des Centralgefängnisses in Bochum gefordert wird, heißt es, daß schon jezt während des Baues sich herausgestellt habe, daß dieses Gefängniß die ihm zu überweisenden Gefangenen nicht alle fassen könne, und deshalb schon jezt ein weiterer Flügel gebaut werden müsse, da auch die benachbarten Justizgefängnisse und Gefangenenanstalten der innern Verwaltung sämmtlich überfüllt seien. Und die Zahl dieser Straffälle muß sich fort und fort vermehren; die zunehmende Ansammlung von Menschen in den größern Städten unter den denkbar ungünstigsten moralischen und wirthschaftlichen Verhältnissen bewirkt mit Sicherheit die Vermehrung der Straffälle und Verurtheilungen von Jahr zu Jahr, und binnen kurzem werden auch die jezt erweiterten und neu gebauten Gefängnisse nicht mehr in der Lage sein, die ihnen Ueberwiesenen aufzunehmen. Das sind Erscheinungen, die beunruhigen müssen, und die uns zu der Frage drängen, ob denn hier nicht geholfen werden kann und wie geholfen werden kann. Es ist ganz unbestreitbar, daß die Zunahme der Vergehen ihren innern Grund in dem Niedergange der Religiosität und der Sittlichkeit hat und vielfach auch in den traurigen socialen Verhältnissen; aber eben so sicher liegt in dieser Zunahme auch der Beweis, daß das Strafsystem, wie es zur Zeit bei uns besteht, den Hauptzweck der Strafe, die Besserung, nicht in genügendem Maße erreicht."

Nachdem Redner dies des nähern dargelegt, auf die in den Nachbarländern, insbesondere in Belgien, Frankreich und England mit der bedingten Verurtheilung gemachten Erfahrungen hingewiesen und die gegen die Einrichtung geltend gemachten Hauptbedenken kurz beleuchtet hatte, ersuchte er den preußischen Justizminister, die Initiative zu ergreifen, um ein reichsgesehliches Vorgehen im Sinne dieser Reform zu veranlassen.

Justizminister Schönstedt bemerkte in seiner Erwiderung, die von dem Abg. Roeren angeregte Frage sei innerhalb der preußischen Justizverwaltung seit 1890 (wo die Oberlandesgerichtspräsidenten und Oberstaatsanwälte, sowie die Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten

ablehnende Gutachten erstatteten) in derselben Lage geblieben, und gab dann bezüglich seines eigenen Standpunktes im wesentlichen die folgenden Erklärungen ab.

„An und für sich stehe ich dem Institut der bedingten Verurtheilung keineswegs grundsäßlich ablehnend gegenüber. Ich stimme auch dem Herrn Abgeordneten Roeren darin bei, daß es zur Einführung desselben eines großen gesetzgeberischen Apparates nicht bedürfen würde. Ich glaube, daß, wenn auf irgend einem verwandten Gebiet, z. B. dem Gebiet des Strafvollzuges oder der mehrfach angeregten Hinausschiebung der Strafmündigkeit jugendlicher Personen, die Gesetzgebung in Gang gesezt würde, auch eine eingehende, sorgfältige Erwägung dieser Frage bei einer solchen Gelegenheit nicht umgangen werden könnte. Ich gebe auch zu, daß die Zahlen, welche die belgische Statistik ergibt, etwas überaus Bestechendes haben, und gebe ferner zu, daß die Einführung der bedingten Verurtheilung für den Staat von sehr wesentlichem finanziellen Vortheile sein würde, insbesondere wenn angenommen werden könnte, daß in ähnlichem Umfange, wie es in Belgien geschieht, von der bedingten Verurtheilung Gebrauch gemacht werden würde. Ich bin troß alledem der Ansicht, daß wir den Schritt nicht thun können, ohne weitere Erfahrungen zu sammeln. Ich glaube, die bestechenden Zahlen, die in den Jahresberichten der belgischen Regierung an die Kammern sich vorfinden, sind doch nicht maßgebend, wenn nicht noch eine längere Probezeit abgewartet wird."

Im einzelnen führte der Minister aus, daß es nicht zulässig sei, die aus der belgischen Statistik der rückfälligen bedingt Verurtheilten sich ergebenden Procentzahlen in Vergleichung zu sehen mit den durch die deutsche Criminalstatistik festgestellten Durchschnittszahlen der Rückfälligen überhaupt. (Ueber diesen Punkt verbreitet sich eingehender die später zu erwähnende Denkschrift des Reichsjustizamtes; derselbe kann daher hier außer Betracht bleiben.) Der Minister machte dann noch weitere Bedenken geltend:

„Nicht mit Unrecht ist die Besorgniß ausgesprochen worden, daß gerade in unserer Zeit, wo vielfach die Autorität des Staates und der Behörden geschwächt erscheint, oder wo wenigstens das Ansehen vor der Autorität des Staates vielfach mangelt, ein Geseß, welches zur Folge haben würde, daß ein großer Theil strafrechtlicher Verurtheilungen nicht zur Ausführung käme, geeignet sein könnte, zu einer weitern Schwächung der staatlichen Autorität beizutragen. Ein weiteres erhebliches Bedenken, was von dem Abgeordneten Roeren nicht zur Sprache gebracht worden ist, aber auch schon eine Rolle bei den frühern Gutachten gespielt hat, ist die Gefahr, daß die Einführung der bedingten

Verurtheilung zu einer ganz ungleichmäßigen Behandlung der Angeklagten führen würde. Es ist eben lediglich in das persönliche individuelle Ermessen des Richters oder des zuständigen Gerichts, für das sich irgend welche Richtschnur gar nicht geben läßt, gestellt, ob von der Befugniß der bedingten Verurtheilung Gebrauch zu machen sei oder nicht. Und wie außerordentlich verschieden die Auffassungen der Gerichte sind, ergibt auch die belgische Statistik, welche für das Jahr 1891 unter anderm feststellt, daß von 48 Friedensgerichten, deren Bezirke zum Theil in den bevölkertsten Theilen Belgiens lagen, daß von 48 Friedensrichtern kein Gebrauch gemacht worden sei von der Befugniß, eine bedingte Verurtheilung auszusprechen. Es läßt das schließen auf eine sehr ungleichmäßige Beurtheilung der in Betracht kommenden Fragen, und diese Wahrnehmung verdient doch auch bei der Einführung eines solchen Instituts wesentlich mit in Betracht gezogen zu werden.“

Schließlich wiederholte der Minister, daß er keineswegs ablehnend dem Vorschlage gegenüber stehe und daß er insbesondere es nicht für ausgeschlossen halten würde, ihm näher zu treten, wenn es sich darum handele, einer neuen Regelung der Bestrafung jugendlicher Verbrecher näher zu treten; denn für die Anwendung auf jugendliche Verbrecher sprächen die Gründe, die für die Einführung überhaupt vorzubringen seien, in stärkerm Maße als für andere. Ob und wann es dazu kommen werde, darüber sich auszusprechen, sei er nicht in der Lage.

Im weitern Verlauf der Erörterung bekannten sich die Abg. Kirsch und Parisius als Anhänger der bedingten Verurtheilung, während der Abg. Klasing auf dem Standpunkte des preußischen Justizministers zu stehen erklärte.

Die bedingte Verurtheilung im deutschen Reichstage.

In der Sizung des deutschen Reichstages vom 21. März 1895 sprach sich der Abg. Bassermann, unter Bezugnahme auf die am 7. und 8. April 1893 in Berlin stattgehabten Verhandlungen der Landesgruppe Deutsches Reich der internationalen criminalistischen Vereinigung dahin aus, daß man bei jugendlichen Personen mit dem Institute der bedingten Verurtheilung einen Anfang machen könnte. Der Abg. Dr. Bachem meinte demgegenüber: wenn man dem Gedanken näher trete, dann solle man ihm auf einer breitern Basis näher treten, und zwar

auf der Basis, daß man für alle Kategorien von Verbrechen, vielleicht von gewissen ganz schweren Verbrechen abgesehen, die Form der bedingten Verurtheilung in's Auge fasse.

Auf das an den Staatssecretair des Reichsjustizamtes Dr. Nieberding gerichtete Ersuchen, „die Auffassung, welche im Reichsjustizamt zu Tage gekommen ist," mitzutheilen, gab dieser die nachstehende Erklärung ab: „Ich glaube, ich brauche dem Herrn Vorredner wohl nicht erst zu versichern, daß die Frage der bedingten Verurtheilung, welche in einigen Nachbarländern bereits eine gesetzgeberische Lösung gefunden hat, und welche bei uns nicht nur in der Theorie, sondern auch in praktischen Kreisen lebhaft erörtert wird, auch in der Reichsjustizverwaltung mit allem Ernste geprüft und verfolgt wird. Allerdings kann ich nicht sagen, daß wir, was die Lösbarkeit dieser Frage betrifft, so sanguinisch denken, wie in manchen juristischen Kreisen bei uns darüber gedacht wird. Es ist zweifellos, daß, wenn es gelingt, die bedingte Verurtheilung in einer praktischen, brauchbaren Gestalt in das Leben einzuführen, damit nicht nur, wenn ich so sagen soll, für die moralische Sicherung der Bestraften ein großer Gewinn erhofft werden darf, sondern daß auch eine erhebliche Entlastung der Gefängnisse eintreten würde, was nach der Seite einer Erleichterung des Strafvollzuges wie nach der finanziellen Seite hin in's Gewicht fällt. Aber, wenn in andern Staaten, namentlich in Belgien, die Sache bis jetzt auf Grund der dort vollzogenen geseßlichen Regulirung leidlich gegangen ist, so glaube ich, daß einmal die kurze Zeit, während der die einschlagende Gesetzgebung dort in Wirksamkeit sich befindet, ich glaube, in Belgien ist es seit 1888 oder 1889, nicht ausreicht, um ein abschließendes Urtheil über die Frage zu gewinnen, und daß auf der andern Seite Deutschland in seiner weiten Ausdehnung doch so erheblich andere Verhältnisse darbietet, daß man nicht wird sagen können, daß Einrichtungen, die sich in einem kleinern Lande bewährt haben, ohne weiteres sich für unsere weit größern Verhältnisse bewähren würden. Ich möchte auf einen Punkt dabei besonders aufmerksam machen: das ist die Frage der Controle der zwar verurtheilten, aber zunächst nicht zum Strafvollzug gebrachten Personen. Eine solche Controle ist z. B. in Belgien verhältnißmäßig leicht durchzuführen; bei uns in Deutschland hat die Sache ein ganz anderes Gesicht. Wir haben allerdings die Strafregister mit ihren Vermerken über die bestraften Personen, um daraus eine Controle zu entnehmen; wir haben sie aber nur bezüglich der wegen Vergehen oder Verbrechen Bestraften, nicht abgesehen von einzelnen bestimmten Uebertretungen für die Personen, welche bestraft sind wegen Uebertretungen, und wenn wir mit der bedingten Verurtheilung einen Anfang machen wollen, werden wir doch

unter allen Umständen den Kreis der leichtern Strafthaten, also auch der Uebertretungen, zunächst in den Bereich des neuen Gesezes ziehen müssen. Da liegt aber gerade die Schwierigkeit vor, die ich angedeutet habe. Ich sage das nicht, um eine weitere Verfolgung des Gedankens abzuwehren, dessen moralische, politische und finanzielle Bedeutung ich anerkenne; ich sage es bloß, um zu rechtfertigen, wenn die Reichsjustizverwaltung zunächst noch abwartend dem ganzen Problem gegenübersteht."

Der Abg. Beckh betonte demgegenüber, daß das System der bedingten Verurtheilung in andern Ländern schon eine Reihe von Jahren in Wirksamkeit sei; daß schon 1890 der deutsche Juristentag sich in seiner Versammlung zu Köln mit dieser Frage beschäftigt und mit großer Majorität für die bedingte Verurtheilung sich ausgesprochen habe. Es sei also schon damals Veranlassung gewesen, daß man diese wichtige Frage hätte in's Auge fassen sollen. Einer Anregung des Abg. Spahn entsprechend, ertheilte hierauf der Staatssecretair des Reichsjustizamtes die Zusage, daß dem Reichstage in der nächsten Session eine Denkschrift vorgelegt werden solle, welche in übersichtlicher Form die Erfahrungen mittheile, die in unsern Nachbarländern mit der bedingten Verurtheilung bis dahin gemacht seien.

Die Denkschrift des Reichs-Justizamtes.

Unterm 15. Januar dieses Jahres wurde dem deutschen Reichstage die vom Staatssecretär des Reichs- Justizamtes in Aussicht gestellte Denkschrift*) unterbreitet. Dieselbe umfaßt 100 Druckseiten und behandelt: Belgien, Frankreich, Luxemburg, Portugal, Norwegen, Massachusetts, England, Canada, Neu-Seeland, Queensland, Victoria, West-Australien und Neu-Süd-Wales.

Weitaus den breitesten Raum nimmt in dem Actenstücke Belgien ein (38 Seiten). Während die Mittheilungen über die Anwendung der einschlägigen Gefeße für die übrigen Länder ohne Kritik gegeben werden, sind zu der belgischen Statistik der bedingten Verurtheilungen für die Jahre 1888 bis 1894 Bemerkungen" hinzugefügt. Dieselben fassen

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*) Zusammenstellung ausländischer Gesetze betreffend die bedingte Verurtheilung und amtlicher Mittheilungen über die Anwendung dieser Geseze“, No. 90 der Drucksachen des Reichstages, 9. Legislaturperiode, IV. Session 1895/96.

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