Abbildungen der Seite
PDF
EPUB
[ocr errors]

einzuwenden haben, sich einmal die Mühe nehmen wollten, einige Jahre psychoanalytische Tatsachen sehen zu wollen. Die Psychoanalyse hat gegen eine Auseinandersetzung mit erkenntniskritischen Einwänden sicher nichts einzuwenden -, sie darf aber vorerst fordern, daß der Erkenntniskritiker analytisch durchgebildet und erfahren sei. Vielleicht kommt er dann, staunend über diesen Widerspruch mit seinen methodologischen Bedenken, zu dem Schlusse: und sie bewegt sich doch." Die psychoanalytische Methode aber muß alle methodologischen Bedenken theoretischer Natur, ohne sie zu übersehen, schon angesichts der einen Tatsache an zweite Stelle rücken, daß bei richtiger, lang dauernder Analyse nicht allzu selten die erfolgte Rekonstruktion eines wichtigen, verdrängten Erlebnisses aus frühester Kindheit durch nachfolgende Außenanamnese ihre Bestätigung erfährt. Das vom Autor in bezug auf Wissenschaftlichkeit bezweifelte „Konvergieren" des analytischen Materials in eine bestimmte Richtung, die sich ergebende Notwendigkeit einer bestimmten Deutung sind analytische Tatsachen. Das Ausbleiben eines deutlichen Erinnerungsgefühls ist ein noch ungelöstes psychoanalytisches Problem. Dr. Wilhelm Reich.

J. Sadger: Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen (Psychopathia sexualis) auf psychoanalytischer Grundlage. (Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1921.)

Der bekannte Autor, dem wir eine Reihe wertvoller Beiträge zur psychoanalytischen Erforschung der Perversionen verdanken,1 tritt mit dieser Arbeit in einem größeren Werke vor die breitere Öffentlichkeit, um für die psychoanalytische Auffassung der Perversionen in leidenschaftlicher Weise zu werben; er fußt im wesentlichen auf Freuds Anschauungen, geht aber auch verschiedentlich seine eigenen Wege, wobei für Uneingeweihte leider nicht deutlich ersichtlich ist, was heute Allgemeingut der Analytiker ist, was Sadgers eigene Anschauungen sind. Der Titel, der an das bekannte Werk von Krafft-Ebing denken läßt, verspricht mehr, als das Werk hält: es bespricht nicht alle Perversionen, sondern nur die Homosexualität, den sadomasochistischen Komplex,2 den Fetischismus und den Exhibitionismus. Ehe die eben genannten Perversionen besprochen werden, führt der Autor den Leser in einem „Allgemeinen Teil" in die psychoanalytische Auffassung der Entwicklung der Sexualität von der frühesten Jugend an ein unter besonderer Betonung des Ödipus- und des Kastrationskomplexes und widmet der psychischen Impotenz, der vaginalen Unempfindlichkeit der Frauen und der Onanie ein besonderes Kapitel. Eine ungeheure Menge von Wissen, eine schier erdrückende Fülle von Einzelbeobachtungen aus der psychoanalytischen Praxis und aus dem täglichen Leben in vielen arbeitsreichen Jahren gesammelt ist in diesem Werke niedergelegt. Eine umfangreiche und gründliche Kenntnis der Literatur, sowohl der nichtanalytischen als auch der neuesten psychoanalytischen, welche der erfahrene Wiener Forscher sich ganz

1 Siehe meine Würdigung eines kleines Teiles von Sadgers wissenschaftlichen Verdiensten im „Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse in den Jahren 1914-1919, 8. 74-77. Gemeint sind die beiden verwandten Perversionen, kein „Komplex".

zu eigen gemacht hat, zeigt sich auf Schritt und Tritt; das Wesen des Narzißmus, der prägenitalen Organisationsstufe, des weiblichen Kastrationskomplexes, von Stärkes Kastrationskomplex um nur einige neuere psychoanalytische Arbeiten herauszugreifen

sind dem Autor gut vertraute Dinge.

Mit hervorragender Gründlichkeit und auf ein umfangreiches Material gestützt, wird immer wieder gezeigt, welche entscheidende Rolle Kastrationsund Ödipuskomplex bei der allmählichen Entwicklung der vom Autor besprochenen Perversionen spielen - in vollster Übereinstimmung mit Freuds Ein Kind wird geschlagen" sicher ein großer Fortschritt in unserem Verständnis der Perversionen; was Freud dort in Bezug auf eine Perversion, den Masochismus, gelehrt hat, wird dem Leser auch in Bezug auf andere Perversionen in so einleuchtender Weise dargestellt, daß es sich als Mittelpunkt für das Verständnis der Perversionen einprägt. Am klarsten und übersichtlichsten (zugleich auch am kürzesten) sind die Kapitel über den Exhibitionismus und den Fetischismus geraten; letzteres in Anlehnung an Stenogramme des Autors von zwei nicht publizierten Vorträgen von Freud, welche der Leser auf diesem Umwege kennen lernt. In Bezug auf die Vielseitigkeit der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte bei der Erforschung der Homosexualität erfährt diese eine schlechterdings vollkommene Darstellung; die Lektüre der Kapitel: Weitere Erkenntnisse" (S. 131), „Neueste Forschungen“ (S. 141) und „Ergänzungen“ (S. 161) kann jedem Analytiker wärmstens empfohlen werden. Bei der Darstellung des Masochismus wird den von Freud eine wesentliche Rolle zugeschriebenen Schuldgefühlen sicher eine zu geringe Würdigung zuteil.

"

Ich komme damit zu den Schattenseiten des umfangreichen Werkes: Sadger verteidigt die Psychoanalyse mit außerordentlicher Leidenschaftlichkeit; wir jüngeren Schüler von Freud fürchten aber die Angreifer nicht mehr. Unseres Erachtens hat sich das Lebenswerk unseres Lehrers in dem Maße in der Welt durchgesetzt, daß wir es getrost erwarten können, wie die allmählich seltener werdenden Gegner sich verlieren. Der gereizte Ton veranlaßt den Autor, wissenschaftlich andersdenkende Forscher, wie z. B. den bereits verstorbenen v. Krafft-Ebing oder Moll und insbesondere Magnus Hirschfeld, in einer Weise anzugreifen, wie sie sonst in wissenschaftlichen Werken nicht üblich ist; auch Bleuler wird mit einer burschikosen Redewendung gekennzeichnet; selbst eine gehässige Bemerkung über einen früheren Patienten, einen von ihm behandelten deutschen Psychiater, kann der Autor nicht unterdrücken. (S. 235 und 257.) Infolgedessen wirkt das Werk mehr wie eine Streitschrift als wie ein Lehrbuch, welches gesichertes Wissen vermittelt. Ein anderer wunder Punkt des Werkes ist folgender: der Autor verteidigt in der Einleitung seinen Gebrauch deutscher Ausdrücke im Gegensatz zu den sonst gebräuchlichen lateinischen: „Es läßt sich ja doch jeder Ladenschwengel diese Stellen unschwer ins Deutsche übersetzen," aber er verfällt in einen anderen Fehler: er gebraucht immer wieder, nicht bloß in Assoziationen von Patienten, vulgäre deutsche Ausdrücke, für die es überall auch weniger anstößige deutsche Bezeichnungen gibt. Die vom Autor gepriesene Unbefangenheit (S. 5) den Erscheinungen des Geschlechtslebens gegenüber („man muß den Mut haben, dieser Tatsache ins Gesicht zu sehen, darf sich nicht entsetzen ob

dieser naturgewollten Einrichtung“) fehlt ihm immer wieder; Ausdrücke wie: ,recht arge Ausschweifung" (S. 153), „Rädelsführer“ (S. 137), zu maßlosem Masturbieren und später zu einem zuchtlosen Leben verleitete" (S. 306), „andere Untaten werde ich später erzählen“ (S. 306), „der verbohrteste Masochist" (S. 239), „de Sade... dieser Lüstling der Grausamkeit“ und „die ungeheuerliche Antimoral der schweren Sadisten" (S. 223) zeigen eine Verurteilung dessen, was unserem Verständnis näher gebracht werden soll.

Erschwert wird die Lektüre ferner dadurch, daß die Gruppierung des unendlich reichhaltigen Materials nicht genügend erkennen läßt, was wesentlich, was weniger wichtig ist, was tiefste, unbewußte Schicht des Seelenlebens ist, was mehr aus dem Vorbewußten stammt. Gerade das Kapitel über die Homosexualität, welches die meisten Anregungen gibt, zeigt diesen Fehler der Darstellungsweise am deutlichsten.

Die Leidenschaftlichkeit der Darstellung führt den Autor leider zu Einseitigkeiten, Übertreibungen, Widersprüchen und zum Vertreten von Ansichten, welche sicher falsch sind, wie z. B. diese: „Alle Perversionen sind neurologisch als Zwangsantriebe, zwangsmäßige Handlungen zu bezeichnen, für deren Bildung einzig die Gesetze der Zwangsneurose gelten (S. 87). Daß die Lust am Kinderkriegen bei einer Mutter nur so zu erklären ist, daß sie „das Glück der infantilen Perversitäten genießen will mit ihrer Uro- und Koprophilie, der Befriedigung ihrer Schaulust und Hauterotik" (S. 79-81), ist eine durch nichts zu rechtfertigende Einseitigkeit.

Der ständige Hinweis auf die konstitutionelle Verstärkung der „Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik“, die „natürlich“ immer wieder vorhanden ist, wirkt nirgends überzeugend. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß überall dort, wo der Autor keine psychologische Erklärung findet, die eben erwähnte „konstitutionelle Verstärkung" sich wie ein Deus ex machina einstellt (zum Beispiel S. 305, Ende des ersten Absatzes). Nur ein einziges Mal wird durch entsprechendes Material der Nachweis von der „enormen", „mächtigen" Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik zu erbringen versucht (S. 305-307); doch gerade dieser Nachweis mißlingt: manche der Züge, wie z. B. daß die Patientin sich schon als ganz kleines Kind gern an den nackten, molligen Leib der Mutter anschmiegte, finden sich bei sehr vielen Kindern; an anderen Stellen ist die psychologische Begründung, wie z. B. „und Vater konnte sich nicht satt sehen" (das heißt an der Geschicklichkeit des vierjährigen Mädchens) übersehen worden; müssen wir hier noch nach einer konstitutionellen Verstärkung suchen? Ein Widerspruch ist es, wenn der Autor Magnus Hirschfeld wegen der von ihm vertretenen Adaptionstherapie leidenschaftlich bekämpft, aber selbst für dieselbe eintritt (S. 88).

Mit Entschiedenheit tritt der Autor für die prinzipielle Heilbarkeit der Perversionen durch eine psychoanalytische Behandlung ein, welche ich auf Grund zahlreicher Erfahrungen nur bestätigen kann; doch der so ungemein wichtige Beweis ist leider nur in ganz ungenügender Weise erbracht worden. Alle Patienten Sadgers sind nur wenige Wochen oder Monate in seiner Behandlung gewesen, so daß sich über die Dauer der erzielten Erfolge, auf die es ankommt, nichts sagen läßt; auch in der Therapie der Neurosen

erzielen wir häufig zu Beginn der Behandlung einen überraschenden Erfolg doch das dicke Ende kommt nach. Wenn der Autor behauptet, daß er in einem Falle von psychischer Impotenz „bereits nach vier Sitzungen eine Dauerheilung durch Auflösung der Mutterbindung" (S. 96) erzielt hat, so wird das in den Kreisen von Freuds Schülern Zweifel erregen. Wenn diese einzig dastehende Leistung aber nicht anzuzweifeln sein sollte, so weist das Werk eine wesentliche Lücke auf: die Darstellung der Technik, durch welche die Auflösung der Mutterbindung in vier Sitzungen erzielt worden ist, müßte die ganze bisherige psychoanalytische Therapie revolutionieren

In Bezug auf den Inhalt befriedigt der Teil des Buches, welcher den Schaden und den Nutzen der Onanie bespricht, wohl am wenigsten; die hier geschilderten Beziehungen zwischen Masturbation und Auto erotismus streifen nur die Oberfläche des Problems. Ausdrücke, wie: „da ist als Grundlage der Moral die Schwachheit der Hoden (gemeint ist eine Folgeerscheinung der Masturbation) nicht ganz zu verachten“ (S. 118) können der Psychoanalyse weder in Kreisen von Fachleuten noch von Laien Freunde werben.

Ich muß offen bekennen, daß ich zur Besprechung des bereits 1921 erschienenen Werkes mehrere Monate gebraucht habe, weil ich über einen Punkt keine Klarheit bekommen konnte: wie sind die ganz rätselhaft wirkenden, auf Grund von stenographischen Aufzeichnungen geschriebenen Krankengeschichten zustande gekommen?! Eine Krankengeschichte eines Falles von Masochismus beginnt folgendermaßen: „Fall 1: Neunundzwanzigjährige Hysterica, die seit ihrer Kindheit schwer unter dem Zwist ihrer Eltern leidet.,Seit meinem achten Lebensjahr sah ich, wie der Haß zwischen den Eltern immer mehr anwuchs, und betete zu Gott, er möge ihnen Frieden schenken und alles wieder so werden wie früher. Zur selben Zeit hatte ich auch öfter Gelegenheit, in der Nacht den Geschlechtsverkehr meiner Eltern zu belauschen. Am nächsten Tage jedoch standen die Eltern einander genau so feindselig gegenüber wie vorher, was bei mir tief nachwirkte." Soll ein der Psychoanalyse unkundiger Leser den Eindruck erhalten, daß die Patientin schon in der ersten Stunde, ehe sie überhaupt irgendeine Angabe über ihr Leiden gemacht hat, von der Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Eltern zu erzählen beginnt? Und fast könnte man auf Grund der anderen Krankengeschichten zu dem Schluß kommen, daß Sadgers sämtliche Patienten nach ganz kurzer Analyse mühelos erzählen, was wir nach unendlich mühevollen, langwierigen Bemühungen manchmal zutage fördern! Mit welcher uns unbekannten Technik erreicht Sadger das? Wie weit sie von der üblichen der freien Assoziationen abweicht, lehrt am besten die Lektüre der Seite 290: immer wieder unterbricht Sadger hier die Patientin. Die Krankengeschichten lesen sich we Aufsätze oder wie Romane, welche Patienten, die einen Teil der psychoanalytischen Literatur gelesen und mangelhaft verstanden haben, über die Entstehung ihres Leidens schreiben könnten Alle kommen ununterbrochen mit Erklärungsversuchen, Deutungen, Fragen, wobei sie sich jetzt darbietende Erscheinungen einfach auf bewußte Kindheitseindrücke zurückführen“, sie als Wiederholungen, als einfache Gewöhnungen schildern: „Vielleicht könnte das darauf zurückzuführen sein,“ ist eine stereo

n

type Phrase bei allen

und die Aufdeckung der durch die Kindheitseindrücke entstandenen unbewußten Vorgänge durch den Analytiker unterbleibt; auch wird den offenbar aus dem Vorbewußten stammenden Erklärungsversuchen ohne weitere Deutungsarbeit eine Beweiskraft zugeschrieben; dabei gliedern die Patienten ihre Erklärungsversuche wie in einem Schulaufsatz in: erstens, zweitens, drittens usw. Sind das freie Assoziationen? Aufgefallen ist mir, daß Sadgers Patienten dieselben Ausdrücke, dasselbe Deutsch verwenden, wie Sadger selbst in seinem Text. Je länger ich mich in diese Krankengeschichten vertieft habe, desto mehr hat sich in mir die Überzeugung verstärkt, daß alle Patienten von Sadger während der kurzen Behandlungen unter einer starken, ihm wahrscheinlich unbewußt bleibenden Suggestion des Autors, ihm zuliebe, ohne Widerstände das „assoziieren", wovon sie auf Grund von Lektüre und suggestiven Fragen annehmen müssen, daß ihre Erklärungsversuche dem Arzte gefallen könnten. Infolgedessen kommt den, wie gesagt, nach Stenogrammen veröffentlichten Krankengeschichten leider keine Beweiskraft zu; außerdem geben sie Uneingeweihten kein zutreffendes Bild von einer psychoanalytischen Behandlung.

Zusammenfassend muß ich zu meinem großen Bedauern sagen, daß die Schattenseiten des umfangreichen und ersten Werkes über die Perversionen auf psychoanalytischer Grundlage die Vorzüge desselben fast aufwiegen. Es wäre sehr zu wünschen, daß das Werk bei einer Neuauflage vom Autor wesentlich im Umfange verringert würde, besonders durch Fortlassung oder starkes Verkürzen der Krankheitsgeschichten, und in wesentlich anderem Gewande erscheinen möge; dann werden die unzähligen, wertvollen Anregungen auf weit fruchtbareren Boden fallen und dem Autor und der Psychoanalyse mehr Freunde werben! Dr. F. Boehm.

Berichtigung

zum Artikel: Selektionstheorie und Lustprinzip von Dr. R. Brun (Zürich) im laufenden Jahrgang dieser Zeitschrift, Heft 2, S. 183 usf.

1. Der Hinweis zur Anmerkung Nr. 1, Seite 183, gehört nicht zum Untertitel der Arbeit („Betrachtungen . usw."), sondern an den Schluß des ersten Absatzes der gleichen Seite: müssen sich zum mindesten...

...

[ocr errors]

Einschränkungen ihres Geltungsbereiches gefallen lassen".

2. Dementsprechend gehört die Fußnote 2 natürlich nicht zu diesem Abschnitt, sondern zum Schlusse des zweiten Absatzes auf Seite 185: daß sogar noch beim Kulturmenschen...

[ocr errors]

für das triebhafte Handeln Nützlichkeitsgründe niemals ausschlaggebend sind“, also an die Stelle der dort stehenden Fußnote 1, die somit zu streichen wäre (sie kehrt auf Seite 187 an richtiger Stelle wieder).

3. Am Schlusse der Fußnote 2 auf Seite 190 soll es heißen: „Cfr. über die sexuellen Wurzeln der Staatenbildung auch Freud“, - (nicht: und Freud).

« ZurückWeiter »