Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

Mitteilungen.

Psychoanalytische Spuren in der Vor-Freud schen Psychiatrie.

Von Dr. Stefan Hollós (Budapest).

Wie die Geschichte der Psychiatrie uns lehrt, befolgten die Forschungen auf dem Gebiete der seelischen Pathologie und Therapie von dem XVII. Jahrhundert an eine materialistische, im XVIII. Jahrhundert eine vitalistische und im XIX. wieder eine materialistische Richtung. Die erste materialistische Welle, welche von Galileis, Newtons, Koperniks, Keplers Kosmogonie und Weltbetrachtung umwälzenden Ergebnissen aus sämtliche Naturwissenschaften durchdrungen hatte, erfuhr auf dem Gebiete der Psychiatrie im XVII. Jahrhundert durch Stahls Auftreten eine Unterbrechung. Stahls neue Bahnen eröffnende Tätigkeit finden wir bei Friedreich bezeichnend geschildert („Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten", Würzburg 1830, S. 249):

„Der erste Vorteil desselben war, daß er den groben, teils ihm vorausgegangenen, teils mit ihm koexistierenden materialistischen Lehren und Ansichten Schranken setzte, da alle Versuche, die man unternahm, um die Erscheinungen des organischen Lebens zu erklären, sich bloß auf die Untersuchungen derjenigen Veränderungen beschränkten, die im Mechanismus und in der Mischung der Bestandteile gegründet sind. Wir finden in jenen Perioden nichts, als einseitige Chemia triker, die in den Lehren von Fermenten, von den Salzen des Körpers und von der Mischung derselben alles gefunden zu haben glauben. Nichts als einseitige Jatromathematiker, wie sie die Formen der Atome, die Winkel und Beugungen der Gefäße berechnen und dergleichen.

Unter solchen Verhältnissen war Stahls System ein notwendiges Bedürfnis der Zeit geworden, um die Augen des Forschers auf ein höheres Prinzip zu leiten und so allmählich den Einfluß der Seele auf die Verrichtungen der leiblichen Seite des Organismus aufzuzeigen, und man darf vielleicht behaupten, daß Stahls System zu der jetzt so herrlich blühenden Lehre von der innigen Wechselbeziehung zwischen Seele und Leib einen mächtigen Impuls gegeben hat... Die ganze Basis des Stahlschen Systems ist die Passivität der Materie nur die Seele allein ist der Grund aller dieser Erscheinungen: sie baut den Körper und hält ihn durch beständige Bewegungen... ab von jeder Fäulnis." Diese vitalistische Auffassung gibt sich besonders in den Lehren der Nachfolger kund. Joh. Dan. Gohl (Friedreich, 252) lehrte, „das plastische Prinzip bei der Bildung der Frucht sei nichts anderes, als die

...

vegetative Seele, die schon verständig und nach anerschaffenen Ideen wirke, ehe noch Vernunft da sei: diese anerschaffenen Ideen machen den Instinkt aus und sind bekanntlich auch bei Tieren offenbar: sie lehren den Gebrauch der Glieder etc." Robert Wytt (Friedreich, 254) meint, „die Seele wirke auf den Körper nicht wie ein vernünftiges Wesen, welches ohne Überlegung, durch eine angenehme Empfindung oder einen Reiz, der die Organe angreift, ihre Kraft äußert“.

„Daß die Seele den Lebensbewegungen ohne Bewußtsein vorstehe," wird von Godart (Friedreich, 255) daher abgeleitet, „daß sie in den Lebensorganen nicht reflektiere und nicht als vernünftige, sondern nur als vegetative und empfindende Seele existiere. Die Seele, so weit sie vernünftig sei, habe ihren Sitz im Kopfe; insofern sie eine vegetative sey, wohne sie im ganzen Körper." Ähnlich äußert sich Karl Bonnet (Friedreich, 216): „Willkürlich handelt die Seele in den Organen, die mit Sinneswerkzeugen verbunden sind, unwillkürlich aber und ohne Bewußtsein in denen, die nicht mit Sinnesorganen verbunden sind." Ernst Platner, Professor in Leipzig, der bedeutendste Verteidiger Stahls (Friedreich, 257), scheidet die Seele in zwei Teile, einen geistigen und einen tierischen. „Jener sei in den höheren Sinnwerkzeugen, dieser in den niedern und in den Organen der Phantasie vorhanden... jede Perzeption äußerer Gegenstände erzeuge entweder Empfindungen oder Gedanken oder tierische Bestrebungen und Verabscheuungen. Jedes Organ hat demnach auch sein eigenes Gefühl, seine eigenen Bestrebungen und Verabscheuungen ..." Platner drückt diese Fähigkeit jedes Organes, die angenehmen Eindrücke zu begehren und die widrigen zu verabscheuen, mit dem Namen des Geschmackssinnes aus, welcher durch die Nerven durch den ganzen Körper verbreitet sei.

Ich hob jene Gedanken der Vitalisten hervor, welche mit der psychoanalytischen Betrachtungsweise sich gleichsam kreuzend, mit derselben in einem Punkte zusammentreffen, um von ihr sogleich diametral abzuweichen. Wir verspüren in diesen Sätzen etwas wie eine dunkle Ahnung des Unbewußten, der Materialisation psychischer Phänomene und der Sexualisierung der Organe.

Als absolut unergiebig für eine Auslese an Psychoanalyse anklingender Erkenntnisspuren erweist sich jedoch jene psychologische Richtung, welche, noch in die immer ausschließlicher materialistisch orientierte Phase unserer Wissenschaft hineinragend, die Krankheitserscheinungen in psychologische Denkformen und Kategorien zwang. Ich weise vornehmlich auf jene psychologische Fundierung hin, welche der Klassifikation der Psychosen eine Einteilung nach Empfinden, Denken und Wollen zugrunde legte.

Erheblich realer muten uns jene Klassifikationen an, die ohne Herbeiziehung von Metaphysis oder Psychologie die Psychosen einfach nach dem Inhalte der Wahnideen ordneten. Diese Formenlehre kann allerdings im Namengeben ein Repetitorium von griechischen oder lateinischen Vokabeln erschöpfen. Der Engländer Arnold Thomas, Ende des XVIII. Jahrhunderts (Friedreich, 467), beschrieb z. B. sechzehn Gattungen von pathetischem Wahnsinn, wie: der verliebte Wahnsinn, der eifersüchtige Wahnsinn, der geistige Wahnsinn, der menschenhassende Wahnsinn, der hochmütige, der mit Scham verknüpfte Wahnsinn etc.

Der mächtige Aufschwung der materialistischen Naturwissenschaftlichkeit im XIX. Jahrhundert ließ den Inhalt der Psychose als gänzlich nebensächlich Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/1.

behandeln und somit verschwand auch in der Klassifikation alles, was an eine Wahnfabel erinnern konnte. Die neue materialistische Basis war jedoch nicht tragfähig genug, der Fülle der Erscheinungen allein genügen zu können. Der ätiologischen, klinischen und pathologisch-anatomischen Unterlage müßten auch weiterhin die Momente der Stimmungen, der psychischen Erscheinungsformen, der Orientierung, der Kohärenz, ja sogar des Inhaltes selbst (zum Beispiel bei der querulatorischen Paranoia) zur Erweiterung beigefügt werden. Wie dem auch sei, die moderne Psychiatrie, die mit Wernickes Schlagwort: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“ ins Feld zog und mit den Hilfswissenschaften der Lokalisationslehre der pathologischen Anatomie, der Histologie, Serologie und der Experimentalpsychologie eine unübersehbare Arbeit leistete, schloß naturgemäß die Möglichkeit aus, Gedanken oder Vermutungen in der Richtung einer psychoanalytischen Erfassung der Seelenvorgänge aufkeimen zu lassen. Trotzdem finden wir hie und da einzelne Gedankenblitze, die interessant genug sind, um später auf sie zurückzukommen.

Zur geschichtlichen Ergänzung sei hier noch jene wohlbegründete Vermutung ausgesprochen, daß heute wieder eine Abkehr vom unbeschränkten Materialismus sowohl in den Naturwissenschaften im allgemeinen, wie auch in der Psychiatrie sich bemerkbar macht. Es ist bekannt, wie gewaltige Kämpfe in den Naturwissenschaften gegen den Aufstieg eines neuen Vitalismus in unseren Tagen ausgefochten werden. Derselbe Prozeß, welcher sich in Physik und Chemie im Kampf um die Theorie der Materie durchsetzt, läßt sich in den Geisteswissenschaften selbst, wie auch in der Physiologie erkennen; es genüge hier auf die Revision des historischen Materialismus hinzuweisen. In der Psychiatrie erheben sich seit beinahe zwanzig Jahren immer mehr Stimmen, die erstens die Unzulänglichkeit der materialistischen Erklärung psychischer Phänomene betonen, und des weiteren geradezu zu einem psychischen Erklärungsversuch derselben „zurückkehren“. Es scheint, daß die erhofften stärksten Stützen der modernen Psychiatrie, die pathologische Anatomie und die Histologie, nach so viel harter Mühe und unermeßlichen neurologischen, aber kaum bemerkbaren psychiatrischen Erfolgen zu dem Geständnisse gelangen müssen, welches Kölliker schon („Handbuch der Gewerbelehre") längst aussprach: „Die Wissenschaft wird... bescheiden mit der Annahme sich begnügen müssen, daß die Funktionen des Nerve nsystems in erster Linie an die Nervenzellen gebunden sind“... „daß sie jedoch vorderhand vollkommen darauf Verzicht leisten muß, auch nur anzudeuten, welche Rolle die Nervenzellen beim Empfinden, Wollen, Denken, beim Zustandekommen des Gedächtnisses, kurz bei den psychischen Vorgängen spielen.

Und selbst Nissl („Hysterische Symptome bei einfachen Seelenstörungen", Zentralblatt 25, 1902), ein heftiger Gegner des „psychologischen Erklärungsversuches", gibt soviel zu, daß man auch ohne pathologischanatomische Ursache der Symptome zu einer natürlichen Gruppierung derselben gelangen würde, wenn man die Gesamtheit der Geisteskrankheiten in ihre wahren klinischen Krankheitsbilder zu zerlegen verstände". Ich meine, daß die Psychoanalyse ganz auf demselben Standpunkt steht. Hoche („Die Melancholiefrage", Ref. 1909, Zentralblatt 1910) schreibt: „Erwägungen dieser Art haben es mir schon lange grundsätzlich im höchsten Maße zweifelhaft gemacht, ob wir überhaupt irgendwelche Hoffnung haben, aus der patho

logischen Anatomie Hilfe für die Sonderung unserer Krankheitsbilder im allgemeinen zu bekommen, namentlich da alle lokalisatorische Bemühungen den größten prinzipiellen Bedenken begegnen." Und Professor Schröder sagt („Über die Systematik der funktionellen Psychosen", Zentralblatt 1909): Die wirklich gesicherten Kenntnisse der Psychiater, wenn man nur die der Paralyse und der übrigen organischen Psychosen als solche gelten läßt, gehören durchaus nicht dem psychiatrischen, sondern dem neurologischen Gebiete an.“ „Psychisches nnd Physisches sind eben hinsichtlich ihrer Beschaffenheit überall voneinander durchaus verschieden... Die Psychiater haben geglaubt... Einheiten schaffen zu können, deren Glieder teils psychischer, teils physischer Natur sind.“... „Ein Systematiker, der fortwährend zwischen der psychologischen und physiologischen Betrachtungsweise schwankt, kann ebensowenig zu natürlichen Klassenbegriffen gelangen, wie ein Botaniker, dem der Unterschied zwischen morphologischen und physiologischen Merkmalen nicht klar geworden ist.“... „Das systematische Merkmal ist ein solches, das ausschließlich in der Beschaffenheit und Aufeinanderbezogensein psychischer Erlebnisse, Zustände und Tätigkeiten gegeben ist."

Ich verweilte bei der Erörterung des Umschwunges nach der psychologischen Richtung hin vielleicht länger, als es der Rahmen dieses Materials erlaubt, hauptsächlich darum, weil dieses wissenschaft-geschichtliche Ereignis eng mit der Entstehung der Psychoanalyse zusammenfällt. Was Freuds Wirken in dieser Entwicklung bedeutet, wird erst die Nachwelt voll und ganz würdigen können. Es ist aber unzweifelhaft, daß Freud als erster unter den neue Bahnen Erschließenden die materialistische Arbeitstheorie verließ, ohne den Boden der Naturwissenschaftlichkeit zu verlassen. Mit einem Schlag brach er die in wechselnder Wiederkehr bald materialistischer, bald metaphysisch-psychologischer Voraussetzungen sich wie im Kreise drehende Richtlinie der psychiatrischen Bemühungen durch die naturwissenschaftliche Beobachtung der psychischen Realität.

Ich kann nicht umhin, hier einige Worte des großen Helmholtz einzuschalten, die er im Jahre 1877 über „Das Denken in der Medizin" gesprochen hatte und die als Rechtfertigungsrede für die rein psychische Arbeitsweise der Freud schen Psychoanalyse gelten können: „Ich bitte Sie nicht zu vergessen, daß auch der Materialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese, die sich im Gebiete der Naturwissenschaften allerdings als sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypothese. Und wenn man diese seine Natur vergißt, so wird es ein Dogma, und kann dem Fort schritte der Wissenschaft ebenso hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz treiben wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, sobald man Tatsachen zu leugnen oder zu verdecken sucht, zugunsten entweder der erkenntnistheoretischen Prinzipien des Systems oder zugunsten von Spezial

theorien."

Nach dieser geschichtlichen Abschweifung wenden wir uns wieder jenen Spuren psychoanalytischer Vermutungen zu, deren Verfolgung wir bei der Besprechung der vitalistischen Epoche unterbrachen.

Schon früh beobachtete man, daß die Geisteskrankheiten mit der Liebe und Sinnlichkeit zu schaffen haben. Diese spielten in der Ätiologie sowohl als in der Therapie eine große Rolle. Ein Prediger im Zuchthause T., welcher 1799 seine: „Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholie, besonders

über die religiöse Melancholie“ (Leipzig) veröffentlichte, war, nach Friedreich (S. 625) „einer der ersten, welche auf den Zusammenhang des religiösen Irreseins mit dem Sexualsysteme aufmerksam gemacht haben, und was andere Schriftsteller hinreichend bestätigten." In der religiösen Schwärmerei der Klöster, sagt Buzorini („Über die körperlichen Bedingungen der verschiedenen Formen der Geisteskrankheiten", Ulm 1824), vermengt sich die Religiosität oft mit der größten Sinnlichkeit. Die religiös schwärmende Familie Dutartes trieb Blutschande unter sich. („Monthly Review", Dess. 1799.) Die schwärmende Nonne Agnes Blaubellin wurde unaufhörlich von dem Gedanken gequält, was aus dem Teile geworden sei, der bei der Beschneidung von Jesus verloren ging. M. s. Agnetius Blaubelin vita et revelationes", Wien 1731. Das süße Jesuskindlein, sagt Osiander (.Entwicklungskrankheiten", I. Teil, S. 43), war der Religionsschwärmerinnen lichter Gedanke, sie analysierten es mehr leiblich als geistig. Die vom Papste Pius VII. seliggesprochene Veronika Juliani ließ sich mit dem göttlichen Lämmlein vermählen, es an ihren jungfräulichen Brüsten trinken und gab auch wirklich einige Tropfen Milch von sich.

„Sinnliche Liebe und Geschlechtslust hat zu der religiösen Schwärmerei und Melancholie eine besondere Beziehung. Manche suchen in der Religion einige Entschädigung für ihre unglückliche Leidenschaft, wozu eine versinnlichte Religion viel Vorschub gibt, und tragen ihre sinnliche Leidenschaft auf die Liebe zu Gott und Jesu über. Die Prophetin Poniatowa hörte auf zu weissagen, als es ihr glückte, einen Mann zu heiraten, etc. Bergmann beschreibt („Ein Fall von religiöser Monomanie, die eine unerhörte Selbstverletzung veranlaßte“) einen Fall, wo die Kranke ihre Augen ausriß. „Die bedauernswerte Kranke behauptet nämlich den Grundsatz: Das Auge sei der Spiegel der Seele und durch dasselbe sündige man. Sie hat hiernach auch den oben angeführten biblischen Spruch festgehalten... sie hat sich im Wahne religiöser Schwärmerei der Welt geopfert..." Der Autor beruft sich bei dieser Gelegenheit auf Friedreich, nach welchem bei Abnormitäten des Geschlechtssystems die daher abzuleitenden psychischen Krankheiten oft in der Form der religiösen Schwärmerei auftreten. Wie in den Ekstasen vieler Schwärmer und sogenannter Heiligen“ sagt Bergmann - „ein sinnlicher Trieb hindurch spielte, so ist auch in der hier vorgelegten Krankengeschichte eine Andeutung davon nicht zu verkennen. Aber die Gewalt der Idee dominierte über das Gefühl und verdammte es, die Lust ward zu Unlust."1

[ocr errors]

Es käme hier also bis zur Andeutung von Lust, Verdrängung, Angst.

„Die Historie lehrt," sagt weiter der Verfasser, wie Wollust den Trieb zur Grausamkeit und Mordlust entwickeln kann... Die Lust gebiert nicht selten den Schmerz, sie kann ihn fördern; das sinnliche Gelüst, wenn nicht gestillt, kann in den Trieb übergehen, sich durch Schmerz von dem inneren Kampfe und Drucke und Drange zu befreien; eine zufällige Richtung der Phantasie, eine befangene Vorstellung, ein moralischer Affekt, ein schimmernder Haß usw. kann das seltsame oder schreckliche Mittel dazu werden."

Ein in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienenes Handbuch der Nervenkrankheiten von Josef Frank widmet der tollen

1 Von mir gesperrt.

« ZurückWeiter »