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Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang

Von Dr. Otto Rank

I.

Die psychische Potenz1

Die psychoanalytische Behandlung jeder Neurose bringt ein Stück Befreiung verdrängter, bezw. infantil fixierter Libido mit sich, die teilweise dazu dient, das verkümmerte Sexualleben des Patienten auf die Stufe des realen erwachsenen Genitalprimats zu heben; andernteils soll die befreite Libido auf dem Wege der Sublimierung in unschädlicher, womöglich sozialer Weise verarbeitet und so neuerdings besser gebunden werden.

Der erste Vorgang wird sich gewiß bei der psychischen oder wie man besser sagen sollte neurotischen Impotenz am deutlichsten, sozusagen handgreiflich verfolgen lassen, da ja hier mit der ersten Aufgabe, der Libido befreiung, zugleich das therapeutische Ziel der Analyse erreicht ist. Aber es bedarf gerade nicht dieser gewissermaßen aktuellen Psychoneurose, deren Symptombildung sich auf das eigentliche Exekutiv-und Befriedigungsorgan der Libido, das Genitale, beschränkt, um den Prozeß der Libidobefreiung und -verarbeitung, der das Wesen jeder Analyse ausmacht, zu studieren. In jeder Psychoneurose handelt es sich ja

1 Erweiterung einer kurzen Mitteilung in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (16. März 1921).

Bei der Korrektur: Obwohl ich heute Verschiedenes, namentlich in diesem I. Abschnitt, anders aufgefaßt und formuliert hätte, glaube ich doch, daß auch die Ausführungen, so wie sie vor zirka 11⁄2 Jahren niedergeschrieben wurden, im Ganzen ihren Wert behalten, namentlich wenn man die ergänzenden Gesichtspunkte des später hinzugefügten II. Abschnittes sowie die inzwischen im „Trauma der Geburt" (s. bes. S. 7) dargelegten Grundanschauungen hinzunimmt. (Der Verfasser)

Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX/4.

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in gewissem Sinne um eine „psychische“ Impotenz, d. h. um ein Verweilen der Libido auf infantiler Entwicklungsstufe, ob sich dies nun im Regredieren zu einem Konversionssymptom, im Überbau von zwanghaften Hemmungen oder in der Verschiebung auf perverse Handlungen und Phantasien einschließlich der Masturbation — äußern mag.

Wenn ich also von einer psychischen Potenz spreche, so meine ich damit weniger den Gegensatz zur sogenannten psychischen Impotenz, was ja die Potenz schlechthin bedeutete, sondern möchte versuchen, damit einen abgrenzbaren Tatbestand der Libidoentwicklung zu umschreiben, der uns nicht nur im Heilungsvorgang jeder Psychoanalyse entgegentritt, sondern auch im normalen Liebesleben eine entscheidende Rolle spielt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, scheint mir der Begriff der „psychischen Potenz" für das Verständnis gewisser Züge des normalen Liebeslebens ebenso brauchbar wie zur teilweisen Erhellung der vielfach noch dunkeln Vorgänge beim Abschluß einer Psychoanalyse.

Ich möchte diese Auffassung an einzelnen ausgewählten Beispielen verdeutlichen, wobei ich mich zunächst auf Material von Männern beschränke und die entsprechenden Libidovorgänge beim Weibe weiteren Untersuchungen vorbehalte (siehe z. T. Abschnitt II über Idealbildung und Objektwahl).

1.

Aus der Analyse einer in dreieinhalb Monaten geheilten Impotenz eines Mannes, bei dem die organische Therapie versagt hatte. Als junger Mann hatte er, gegen den Willen der Eltern, ein Mädchen von gutem Hause aus Liebe geheiratet; dieser Ehe entstammte ein Kind. Bei dem unter tragischen Umständen erfolgten Tod eines seiner besten Freunde erfährt er, daß seine Frau ein Liebesverhältnis mit diesem unterhalten hatte und läßt sich sofort scheiden. Es zeigt sich, daß er an dem unglücklichen Ausgang dieser Ehe nicht so unschuldig war, wie er selbst glauben mochte. Er hatte selbst, wie dies so häufig vorkommt, den Freund in sein Eheleben hineingezogen und das Verhältnis unbewußt begünstigt, um so ein Stück seiner Libido „,homosexuell" zu befriedigen. In einer tieferen Schichte der Identifizierung mit dem Freund und Verführer befriedigte er aber eigentlich die seiner neurotischen Einstellung zugrunde

liegende verdrängte Ödipusphantasie, indem er im Freund die infantile Wunschsituation des Eindringens in eine Ehe miterlebt, wobei der Umstand, daß dies seine eigene Ehe war, ihm endlich noch ermöglicht, in seiner Person auch die Vaterrolle des „geschädigten Dritten" (Freud) zu verkörpern. Patient repräsentiert so einen der typischen Fälle, wo sich die neurotische Konstellation (zwangsneurotischer Typus) unter Vermeidung von Symptomen in einem unglücklichen Eheleben durchsetzt. Er weiß das infantile Betrogensein vom Weibe (Mutterenttäuschung) in der Ehe zu wiederholen, findet aber zunächst noch den normalen Ausweg, seine (feminine) Libido vom Manne abzuziehen und in Nachahmung der untreuen Frau (Mutter) nun seinerseits sein Liebesleben nach dem Don Juan-Typus einzustellen. In den Jahren nach Lösung seiner Ehe war sein Liebesleben der Herabsetzung und Entwertung des Weibes gewidmet; er ließ die Frauen nur als Sexualobjekte gelten, mit der Rationalisierung, daß sie doch ohnehin alle untreu seien. So wurde er zum sexuellen Zyniker. Dann lernt er ein Mädchen aus gut bürgerlicher Familie kennen, die sich in ihn verliebt und die er auf Anraten seines intimen Jugendfreundes, mit dem er seit frühester Kindheit untrennbar zusammenlebt, wie er sagt „aus Sympathie" heiratet.1 Aber nicht, ohne sie vorher zu warnen, daß er „gefährlich" sei; sie werde es vielleicht bereuen.

Schon daraus ist ersichtlich, daß seine zweite Heirat der neurotischen Rache am Weibe dienen soll, die er an der ersten Frau nicht befriedigt hatte, und tatsächlich ist seine zweite Ehe von Anfang an eigentlich unglücklich, besonders für die Frau, die er auf jede Weise vernachlässigt, quält und entwertet. Er übt coitus interruptus und versagt der Frau das gewünschte Kind. Während auf diese Weise seine Rachetendenzen zum Teil befriedigt werden, leidet die Frau offensichtlich darunter und macht auch bald kein Hehl daraus. Dadurch wird sein Schuldgefühl geweckt und verstärkt, das er nun immer deutlicher auf die Frau zu projizieren versucht. Um sie so schuldig zu machen wie es die erste und deren Urbild, die Mutter, war, ist er genötigt, unbewußterweise seine infantile Einstellung („Komplexe") zu

1 Eigentlich heiratet er sie, wie sich herausstellt, eher als Ersatz für den Freund, der ihn bis dahin „mütterlich" betreut hatte, ihn aber nun verlassen will.

mobilisieren, wobei wie gewöhnlich die Kastrationsangst im Vordergrunde steht, die durch ein Kindheitserlebnis fixiert scheint.1

Das Weib ist böse, will ihn psychisch (Junggesellenwunsch) und physisch binden, das heißt, versucht seinen Penis festzuhalten, für sich zu behalten, ihn zu kastrieren (Vagina dentata). Daher seine Angst vor dem vollen Sexualakt, die Übung des coitus interruptus, das rasche Zurückziehen und seine komplexbetonte Ablehnung des Kindes, das im Unbewußten mit dem in der Frau zurückgehaltenen Penis identifiziert wird. Diese Angst vor dem Weibe2 kompensiert er nun durch seine feminine Einstellung zum Manne (Mutteridentifizierung), andererseits befriedigt er in der sexuellen Enttäuschung der Frau seine Rachegelüste, straft sich aber endlich in dem unvermeidlichen Ausgang dieses immer mehr gesteigerten Konfliktes, in der Impotenz, mit dem Verlust der eigenen sexuellen Genußfähigkeit (dem Penis).

Aus dem ganzen Ensemble dieses komplizierten unbewußten Konfliktes möchte ich zur weiteren Orientierung einen Zug heraus

1 Diese Fixierung wird durch ein Kastrationstrauma erleichtert. Patient war, obwohl jüdischer Abstammung, nicht beschnitten worden, weil sein älterer Bruder bei der Zirkumzision zu viel Blut verloren hatte. Als die Erinnerung daran in der Analyse auftaucht, will Patient seinen ganzen Kastrationskomplex auf die ständige infantile Angst zurückführen, daß er doch noch später so wie der Bruder beschnitten werden könnte. Es ergibt sich aber, daß der Zusammenhang nicht so einfach gewesen sein kann. Sein späteres Verhältnis zum Bruder sowie andere infantile Erinnerungen weisen deutlich darauf hin, daß er die Beschneidung (des Vaters und Bruders) als Vorzug der Älteren, Erwachsenen betrachtete, von dem er ausgeschlossen war, und daß er infolgedessen die Beschneidung gewünscht haben mußte.

Aus seinem dritten Lebensjahre pflegte seine Mutter eine Szene zu erzählen, wo der kleine Knabe ausgelassen im Bett herumgesprungen war und gelacht hatte. Auf die Frage des Vaters, warum er so lustig sei, habe er geantwortet: „Ich freue mich, weil ich ein Jud bin!" Er erklärt das: „Ich hatte gehört, der Vater sei ein Jude und dachte, daß muß was Besonderes sein!" Bei Gelegenheit dieser Erzählungen aus seiner Kindheit fällt ihm plötzlich ungeheuer plastisch eine Szene aus etwa dem sechsten Lebensjahr ein, wo ihm das Glied des Vaters beim Bade (im Wasser!) zu klein erschienen war.

Die Tatsache, daß er unbeschnitten war, hinderte somit seine Identifizierung mit dem Vater und verstärkte sozusagen psychisch seine feminine Einstellung, da dies körperlich unterblieben war. Andererseits fürchtet er durch den Koitus (Vateridentifizierung) auch in puncto Kastration dem Vater gleich zu werden (Strafe).

2 Siehe jetzt dazu des Verfassers: Das Trauma der Geburt, 1924.

heben, den man vielleicht am besten als die männliche Parallele zu dem von Freud beschriebenen „Tabu der Virginität "1 bezeichnen könnte. Die Frau, die den Penis in sich aufnimmt, ihn also scheinbar desselben berauben will, muß bestraft werden. Dabei zeigt Patient die von Freud erwähnte „Erstlingsangst" deutlich in der Form ausgeprägt, daß er, der eigentlich dem Typus des Don Juan entsprach, schon lange vor seiner eigentlichen Impotenz, meist den ersten Koitus mit einem neuen Liebesobjekt nicht ausführen konnte. Er kannte, wie er sich in der Analyse ausdrückte, die neue Vagina und wie zu ergänzen, ihre Gefahren noch nicht. Aus dieser Angst erklärt sich auch die Ausübung perverser Akte, besonders des Cunnilingus, wobei er sich als den Beißenden (nicht Gebissenen) fühlen konnte, was letzten Endes auf die orale Befriedigung an der Mutter zurückgeht.

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Der Ausbruch seiner eigentlichen Impotenz erfolgte nach etwa zweijähriger Dauer der zweiten Ehe, in Nachwirkung von Konflikten mit der Frau, die ihm schließlich offen erklärte, sie fühle, daß er sie nicht möge und deshalb schlecht behandle. Er mußte das zugeben, aber dieses Stückchen analytische Aufklärung brachte sein Gebäude von Rationalisierungen ins Wanken und von da an entwickelte sich, wie er selbst sagte, allmählich die Impotenz; wie die Analyse bald zeigen konnte, als letztes, wirksamstes Mittel der Rache, das einerseits die Frau vollständig entwertet (selbst als Sexualobjekt), andererseits seinem mächtigen Schuldgefühl in der Selbstbestrafung Ausdruck gibt. Jetzt ist er selbst kastriert, Weib, und straft in sich selbst zugleich die schuldige (erste) Frau (Mutter). Mit der Impotenz gibt er natürlich unbewußt zu, daß er schuldig ist an der schlechten Ehe und beginnt infolgedessen in typischer Weise der Frau gegenüber rücksichtsvoll und zärtlich zu werden. Er quält sie jetzt nur noch (unbewußt) durch die Impotenz, durch die sie sich aber nicht gequält fühlt, offenbar, weil sie sie mit richtigem Instinkt als das auffaßt, was sie ist: als ein wenn auch mißglückter Versuch der inneren Lösung des Angst-Schuldproblems. Die Analyse setzte dann diesen neurotischen Heilungsversuch konsequent und mit besserem Erfolg fort. Aus der Endphase der Analyse ist der nachstehende Heilungsvorgang zu rekonstruieren. Während Patient im Anfang der Analyse

1 Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1918, S. 229 ff.

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