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Organlibido und Begabung.

Von Dr. Imre Hermann (Budapest).

Ferenczi beschließt eine Gedankenreihe über die „Hysterischen Materialisationsphänomene" folgendermaßen:

Ein anderes, bisher nur von psychologischer Seite betrachtetes Problem, das der künstlerischen Begabung, wird in der Hysterie von seiner organischen Seite einigermaßen beleuchtet. Die Hysterie ist, wie Freud sagt, ein Zerrbild der Kunst. Die hysterischen Materialisierungen' zeigen uns aber den Organismus in ihrer ganzen Plastizität, ja in ihrer Kunstfertigkeit. Es dürfte sich zeigen, daß die rein autoplastischen Kunststücke des Hysterischen vorbildlich sind, nicht nur für die körperlichen Produktionen der Artisten und der Schauspieler, sondern auch für die Arbeit jener bildenden Künstler, die nicht mehr ihren Leib, sondern Material der Außenwelt bearbeiten."1

Auf Grund von Krankenanalysen konnte nun erkannt werden, daß die Anknüpfung der Begabungsfrage an Fragen der Körperphänomene der Hysterie eine äußerst glückliche war. Es soll hier aber nicht nur von einer Vorbildlichkeit der Betätigungsart gewisser künstlerisch Veranlagten die Rede sein, sondern von einer tiefer gehenden Analogie. Bei der Hysterie wurde nach Freud eine bis zur Genitalisierung reichende Erogenisierung gewisser Körperteile vorgefunden, bei der zeichnerischen und dichterischen Begabung eine, teilweise zur Sublimierung fortschreitende Erogenisierung (erhöhter Libidotonus) der ausübenden Organe, das heißt der „Hand-“, respektive der „Mund“Zone.2

1 S. Ferenczi, „Hysterie und Pathoneurosen", 1919, S. 31.

2 Beiträge zur Psychogenese der zeichnerischen Begabung. „Imago“,

VIII., 1922 und: Vortrag über die dichterische Begabung in der ungarischen Vereinigung im Jahre 1922.

Auf die Feststellung, daß bei künstlerisch Begabten ein erhöhter Libidotonus des ausübenden Organes vorzufinden ist, habe ich eine Theorie der Psychogenese dieser Begabungen aufzubauen versucht; der Möglichkeit eines solchen genetischen Zusammenhanges trachtete ich mit dem Begriffe der Peripherprozesse näherzukommen, das heißt ich versuchte zu zeigen, daß das Zeichnen, die Sprache ursprünglich „periphere“ Betätigungsarten sind, welche aber gewöhnlich frühzeitig unter die Herrschaft „zentraler" (bewußt-logischer) Prozesse gelangen; eine hohe Libidobetontheit des ausübenden Organes soll aber bewirken können, daß die Entwicklung nicht frühzeitig einlenkt, sondern geradlinig ihre weiteren Wege geht und die periphere Organbetätigung ihr Gewicht der zentralen Bearbeitung gegenüber auch späterhin nicht einbüßen muß.

Um aber mit unserer Theorie festen Fuß fassen zu können, muß nicht nur das Tatsachenmaterial weiterer, einschlägiger Analysen gesammelt und so der angedeutete Zusammenhang empirisch erhärtet, sondern auch noch die Frage aufgeworfen werden, was denn die von uns empfohlene Theorie anderen Auffassungen voraus hat? Daß libidinöse Kräfte bei jedweder geistigen Mehrleistung mitarbeiten, war ja schon längst teilweise vermutet, teilweise behauptet worden (Schopenhauer; Sublimierungstheorie der Psychoanalyse; Ostwald1). Daß andererseits die Begabung auf einer lokalisierbaren organischen Unterlage beruht, besagt dann wieder nichts anderes, als der wesentliche Kern der Gallschen Lehre. (Gall sprach von „sens"; Möbius, der vor nicht geraumer Zeit die Gallschen Lehren wieder in Fluß bringen

1 Schopenhauer: „An den Tagen und Stunden, wo der Trieb zur Wollust am stärksten ist, . . . eine brennende Gier, . . . gerade dann sind auch die höchsten Kräfte des Geistes, ja das bessere Bewußtsein,... zur größten Tätigkeit bereit." (Bemerkung Schopenhauers aus dem Jahre 1813, zitiert nach Möbius.)

Ostwald: „Das Zusammentreffen einer ungewöhnlich ausgezeichneten Leistung junger Genies mit ihrer Verlobung oder Verheiratung ist eine häufige Erscheinung... Sie deutet darauf hin, daß mit der Betätigung des fundamentalen organischen Triebes auch eine außerordentliche Leistungsfähigkeit der anderen Organe, insbesondere des Gehirnes, verbunden ist. Man wird unwillkürlich auf das Auftreten besonderer Schmuckformen und Betätigungen, wie Tänze, Kämpfe und dergleichen bei höheren Tieren, insbesondere Vögeln, um die Zeit der Paarung erinnert." (W. Ostwald, Große Männer, 1915, S. 267.)

wollte, spricht schon von „Organen“, z. B. vom mathematischen Organ.)

Ist unsere Auffassung, die vielleicht von der organischlibidinösen Seite aus gewonnen wurde, wobei man nicht außeracht lassen darf, daß wir noch weitere, ebenbürtige Quellen der Begabung, gewisse Komplexe, aufgedeckt zu haben meinen, welche Komplexe gerade den Weg zur besonderen Form der betreffenden Sublimierungsart ebnen sollen - einfach eine Verschmelzung dieser beiden Ansichten (der Sublimierungstheorie und der Annahme einer Organlokalisation)? Wenn auch hier tatsächlich eine Vereinigung, eine gegenseitige Anpassung zweier Standpunkte vorliegt, so glauben wir doch, ein neues Leben in dem alten Körper erweckt zu haben, und dieses neue Leben stammt von der dynamischen Orientiertheit unserer lokalisatorischen Theorie. Dynamisch orientiert ist unsere Theorie, abgesehen davon, daß sie die Triebkraft der Betätigung bestimmt, insofern, daß sie die Verschiebung der Triebentfaltung, also die Transponierung einer Begabungsart in eine andere (z. B. der zeichnerischen Begabung in die dichterische, ein oft zu beobachtender Vorfall)1 als einen verständlichen Prozeß darstellen kann, was der Gallschen Lehre ermangelt; dynamisch orientiert ist sie aber auch in dem Sinne, daß sie ein Licht auf die Frage der Übertragbarkeit der Begabung von Generation zu Generation, sowie der mutationsartigen Neuentstehung zu werfen befähigt ist.

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Man kann bei der Durchführung von Krankenanalysen erfahren, daß der erhöhte Libidotonus des gewissen ausübenden Organs nur ein weites Flußbett darstellt, besondere Libidoschicksale bestimmen dann die Dämme, welche den engeren Strom der Begabung einschließen; das weite Strombett des erhöhten Libidotonus kann sich vererben da es einem konstitutionellen Moment entsprechen kann ohne die einschränkenden Dämme, ohne die besonderen führenden Komplexe, ohne den Weg des Libidoschicksals vererben zu müssen: im Grunde wird nicht die Begabung, sondern deren organischlibidinöse Komponente, die gewisser Organe vererbt.

Libidobetontheit

1 Der genetische Zusammenhang von Mund- und Handerotik wird den Gegenstand einer besonderen Studie bilden.

Ein Zwangsneurotiker mit schweren Zwangssymptomen führte viele Arten von Zwangshandlungen, von „Sicherungen aus, um dem Angst einflössenden Gedanken, ein Kind ermordet zu haben, zu entgehen: dieser Mord soll in einem Bruchteil einer Sekunde durchgeführt werden, wie es nur ein märchenhafter Zauberer der Phantasie tun kann. Die Hand dieses Kranken zeigt Symptome der hohen Libidobetontheit (große Erogenität, er kann sogar durch mittels der Hand ausgeführter Reizung der Geschlechtsteile des anderen Geschlechtes selbst zur Endlust gelangen; als Knabe bereitete ihm ein mit dem Handteller aufgefangener Flatus eine große Lust; als Jüngling lebte in ihm die ständige Phantasie, ein Dirigent zu sein [magische Handbewegungen] usw.). Dieser Kranke ist ein Mann ohne jede körperliche Anmut, er ist unfähig zu zeichnen, doch sein Vater, der ein besonders schöner Mann gewesen sein soll, zeichnete so talentvoll, daß er eine Zeitlang, in seinen jungen Jahren, Künstler werden wollte und sich bei einem hervorragenden Maler ernstlich auszubilden begann.

Gleichzeitig neben der Bestimmung der Vererbungsgrundlage gibt aber unsere Theorie auch Aufschluß darüber, wieso im Laufe des individuellen Lebens ohne hervorragendere Qualitäten der Ahnen eine Begabung, wie gesagt, mutationsartig aus endogenen oder exogenen Ursachen entstehen, oder wie eine anwesende, vererbte Grundlage sich auf ein höheres Niveau erheben kann.

Ein junger Arbeiter zeichnet seit etwa zwei Jahren mit großem Eifer und ziemlich talentvoll. Schon mit zehn Jahren zeichnete er besser als seine Schulkameraden, aber die unzweifelhafte Höherleistung nach Urteil Sachverständiger ist erst nach seiner Fuß amputation in Erscheinung getreten: der rechte Fuß wurde vor etwa zwei Jahren am Unterschenkel amputiert, ein Jahr vorher hinwieder der rechte Arm des Vaters im Schultergelenk (wegen Fabriksunglück). Unser Patient selbst hat den Fuß nach einem Unfall verloren, doch erst sieben Monate darauf, nachdem sich als Komplikation eine Knochenkaries entwickelt hatte. Auf der chirurgischen Abteilung liegend, machte auf ihn das Schicksal eines Kameraden großen Eindruck, der wegen Knochenkaries ebenfalls einen Fuß verlor, aber sich mit den Worten: „Es ist noch gut, daß ich noch die Hände besitze, den Fuß brauche ich als Bildhauer sowieso nicht," tröstete. Eines Tages kam nun dieser arme Mensch ins Krankenzimmer und zeigte seinen aufgeschwollenen Unterarm. (Bemerkenswert: eine Amputationsfurcht Kastration, verschoben auf die Glieder zeigte unser Patient schon vor Jahren, noch vor Amputation des Armes seines Vaters. Es lebt in ihm eine mächtige Kastrationsangst, durch besondere Kindheitserlebnisse motiviert.) Dieser Zeichner, auch ein gewandter Violinspieler, weiß von mehreren Dilettantenzeichnern in seiner Familie, auch von einem berühmteren Baumeister, Bruder des mütterlichen Urgroßvaters. Wir verstehen aus der Krankengeschichte, weshalb die Hand und ihre Funktionen mit (narziẞtischer?) Libido überbesetzt wurde.

vielleicht regressiv

Ein älterer Maler, schon ein Arrivé, berichtet über je einen dilettantischen Zeichner aus seiner väterlichen und mütterlichen Verwandtschaft. Er besitzt

eine Handerotik hohen Grades. Im geschlechtlichen Verkehr legt er das Hauptgewicht auf das Greifen des Körpers des Liebesobjektes (und zwar seit seinen Knabenjahren bis auf heute), auch das Ergreifen seines Gliedes durch ein Weib bereitet ihm hohe Lust, oft sogar die endgültige Befriedigung. Noch als kleiner Knabe bereitete es ihm eine besondere Lust, die buntfarbigen Samtfäden des im selben Hause wohnenden Tapezierers in die Hände zu nehmen und zu streicheln. (Die Rolle der Hand beim Malen mit Farben!)1

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Nach seiner Rückerinnerung soll er, noch als junger Knabe, in eine enthusiastisch-romantische Stimmung gelangt sein, als er in der „malerisch" gelegenen, mit Bäumen umsäumten Goldhandgasse" (Aranykéz-utca) seiner Vaterstadt spazieren ging. Selbst der Name dieser Gasse soll auf ihn eine „bezaubernde Wirkung ausgeübt haben. (Bezeichnend ist, daß er als junger Bursche Goldarbeiter sein wollte und sich eine solche Anstellung suchte.) Er war ein sehr schlimmer Bursche. (Die Schlimmheit deckte sich in der Analyse auf als Wunsch zur Bestrafung, da er mit fünf Jahren einen kleinen Kameraden durch einen Steinwurf in den Kopf tödlich verletzte.) In der zweiten Elementarklasse hat ihn der äußerst grobe Lehrer, als er sich schlecht benahm, die Hände hinten zusammengebunden oder ihn sehr stark auf die Fingerspitzen geschlagen. Etwa im nächsten Jahre fing er an zu zeichnen. Hier muß die bezaubernde, den Libidotonus der „Hand" steigernde Rolle der „Goldhandgasse“ und diejenige der Schläge auf die schon stärker libidobetonten Hände besonders gewürdigt werden. (Siehe später.)

Diese kurzen Skizzen aus den Analysen wollen nur die Nützlichkeit unserer Theorie auf einem einzigen Gebiete darlegen. Man soll sich nun aber auch stets vor Augen halten, daß jede neuaufgestellte Theorie ihre Lebenskraft nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des zu allererst untersuchten Gebietes, das heißt durch eine gemeinschaftliche, möglichst allgemeine Erklärungsgrundlage ähnlicher Erscheinungen ausweisen soll. So müssen wir uns zwei Fragen zuwenden, nämlich ob erstens vielleicht die bei der künstlerischen Begabung herangezogenen übrigen Begabungsbedingungen nicht auch in einer besonderen organlibidinösen Grundlage wurzeln, und zweitens, ob denn die Begabungen anderer (nicht künstlerischer oder mindestens handwerksmäßiger) Art der Anwendung unserer Auffassung auf ihre Entstehung widerstreben würden?

Die Beantwortung der ersten Frage bietet bei der zeichnerischen Begabung kaum eine Schwierigkeit. Der hier wirkende Komplex, die eigene, viel gepriesene Schönheit des

1 Noch vor diesem Spiele gefielen ihm die schönen farbigen Vorhänge (besonders diejenigen von Blau mit Silber) im Tempel. Hier denke man an seine schönen blauen Augen.

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