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irrten und, nachdem sie ihre zu spärlich zugemessenen Lebensmittel aufgezehrt und ihre Hunde geopfert hatten, einer nach dem andern dem entseßlichen Hunger erlagen, nachdem die leßten Ueberlebenden vielleicht gezwungen gewesen waren, sich von dem Fleisch ihrer Kameraden zu nähren, um die Reste ihres Lebens zu erhalten. „Lasciate ogni speranza" mögen sie als lezte Wehklage gerufen haben; ihnen war der Tod ein Erlöser.

Ich habe diese düstere Episode, der Zeit nach die lette unter so vielen andern dieser Art, mit Absicht hier erzählt, ehe ich untersuche, ob die erreichten Resultate solche Vorkommnisse rechtfertigen können.

Wir wissen, daß während der geologischen Zeiten das Leben sich bis zum Pole frei ausdehnte. Nach de Lapparent hat die vollständige Gleichförmigkeit der Flora von den Polen bis zum Aequator eine unberechenbare Anzahl von Jahrhunderten hindurch gedauert und umfaßt die primären und einen Teil der jekundären Zeiten. Sie erklärt sich, führt der hervorragende Gelehrte ferner aus, durch die vollständige Nichtkonzentration der Sonnenmasse in diesen Epochen; die Sonnenstrahlen, zahlreicher und dichter zusammengedrängt, waren verhältnismäßig weniger intensiv und sandten eine gleichmäßigere Wärme auf alle Punkte des Erdsphäroids.

Die stufenweise fortschreitende Erkaltung wird mit jedem Tage deutlicher bewiesen. Riesige Kohlenlager erstrecken sich von der Insel Disko an der West= küste Grönlands bis zur Prinz Patrick-Insel. Wenn man den Mackenzie aufwärts fährt, trifft man auf ein Kohlenlager. Die Baumstämme, die die obersten Schichten bilden, sind in horizontaler Lage übereinandergehäuft; ohne Zweifel sind sie von einem und demselben Sturm niedergerissen worden. Die Tonschichten, die zwischen den Braunkohlenlagern eingeschoben sind, schließen Bernsteinstücke und feine Abdrücke von Eiben-, Ahorn-, Johannisbeer-, Linden- und Haselnußblättern ein. Die Braunkohle weist nur Koniferen auf, die offenbar den abgestorbenen Bäumen vorhergegangen und im Laufe der Jahrhunderte an ihre Stelle getreten sind. Greely hat in Grinnells Land Kohlenlager von einer bis zu drei Meter gehenden Mächtigkeit gesehen, ähnliche Lager Nares am Kap Murchison, Payer auf Spißbergen und der Bäreninsel. In der Zeit, in der diese Kohlenlager sich bildeten, muß eine reiche Vegetation die Polarländer bedeckt haben.

Schon 1870 entdeckte Nordenskjöld nicht weit von der Disko-Bai eine Cretacische Flora, bestehend aus Cycadeen, Farren, Sequoias, Pappeln, Feigenbäumen, Tulpenbäumen, baumartigen Hülsengewächsen. Auf Banksland zeigen sich die äußersten Enden der Stämme und Aeste außerhalb des Tones, in den fie eingebettet sind. Die Bäume sind da, wo sie gelebt hatten, unter den Eismassen begraben worden und zu Grunde gegangen. Die große Masse von Eicheln, Tannenzapfen, die man findet, bezeichnet deutlich die Entstehung und das Wachstum des verschwundenen Waldes. Dies sind unanfechtbare Belege für die Temperatur des Erdballs in den primären Epochen, aber nichts gestattet die Annahme, daß Menschen oder menschenähnliche Wesen in diesen Zeiten

lebten und daß man Beweise für ihre Existenz finden könnte, was bisher nie, weder in Europa noch auf den andern Kontinenten, troß der relativen Leichtigkeit der Forschungen gelungen ist.

Jedermann weiß, daß wenig Hoffnung besteht, den Pol direkt zu erreichen,“ so sagte in der Académie des Sciences der Astronom Faye, um dessen vor furzem erfolgten Hingang die Wissenschaft trauert. Derselben Meinung ist auch Sir Clements Markham, der Präsident der Londoner Geographischen Gesellschaft und selber ein Forscher von großem Verdienst. Für ihn ist die Reise Nansens das lezte Wort der Frage; durch sie hat man alles erfahren, was über die arktischen Regionen zu wissen jemals von Nußen sein wird. „Man spricht von einer Entdeckung des Nordpols," bemerkt Sir Clements, aber der Nordpol ist ein genau bestimmter, und den Seeleuten, die die arktischen Meere befahren haben, sehr wohl bekannter Punkt im Himmelsraum, und es ist eine Verrücktheit, sich das Aufsuchen eines imaginären Punktes auf einem Hunderte von Meilen weiten Wege durchs Eis vorzunehmen. Es ist eine Verschwendung von Geld und Lebenskraft."

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Diese ernsten Worte entmutigen niemand. Zu den optimistischen Illusionen, zu der Hoffnung, da Erfolg zu haben, wo so viele andre gescheitert sind, gesellt sich der patriotische Stolz und der Wunsch, das eigne Land durch eine so denkwürdige Entdeckung den Sieg über die andern Nationen davontragen zu sehen, und trop aller Enttäuschungen, troß der Lektionen der Vergangenheit, spielt sich vor unsern Augen ein wahres Rennen um die Erreichung des geträumten Zieles ab. Die Amerikaner wollen es sich nicht nehmen lassen, die ersten zu sein, die dort ihr Banner wehen lassen. Herr Ziegler, einer jener Millionäre, die ihren Reichtum rechtfertigen durch den Gebrauch, den sie davon machen, hat eine Expedition mit einem außerordentlichen Lurus ausgerüstet. 1) Das Kommando der Expedition übertrug er dem Kapitän Baldwin, der nach einer kurzen Fahrt nach Henningswaag (Norwegen) zurückkehrte, ohne sich großen Ruhm erworben zu haben. Die Russen wollten sich durch ein originelleres Mittel einen Weg bahnen. Der Admiral Makaroff hatte auf den Werften des Tyne ein Schiff ganz aus Stahl bauen lassen, den „Jermak“, der eine Länge von 335 Fuß hat und mit seinen Maschinen von 10000 Pferdekräften im stande ist, die härtesten Eisblöcke zu zermalmen. Aber der Verbrauch an Kohlen, sowohl für die Fahrt wie für den Eisbrecher, war riesig, und als er kaum nach Franz Josephs-Land gekommen war, mußte er wegen Mangels an Brennmaterial umkehren. Rabot 2) hat den neuen Versuch Sverdrups, des energischen Steuermanns Fridtjof Nansens, der ihm sein Schiff „Fram“ geliehen hatte, in einem zusammenfassenden Bericht geschildert. Alles Glück wendete sich gegen den Nordpolfahrer. Der Sommer 1899 war beständig ungünstig, und Sverdrup konnte nicht über Ellesmere Land

1) Baldwin führte 42 Menschen, 426 Hunde, 16 Ponies, Renntiere und sogar eine Eisenbahn nach dem System Becauville mit sich. Schiffe begleiteten ihn oder folgten ihm mit Lebensmitteln und Ersapmaterial.

2) Géographie, 15. Oktober 1902, S. 243.

Hinauskommen. Wild war reichlich vorhanden, Bären, Moschusochsen, Renntiere, Hasen gewährten den Norwegern einen bequemen Lebensunterhalt. Sie zogen auch Wölfe herbei, zweimal griffen Rudel von ihnen das Schiff an, und man konnte sie nur mit großer Mühe in die Flucht schlagen. In den lezten Tagen des Mai 1900 entstand ein Brand, bei dem der für die Eismassen unangreifbare Fram beinahe durchs Feuer zu Grunde gegangen wäre. Der folgende Winter war falt und feucht; das Thermometer bewegte sich um -45° herum. Am 19. September 1902 war Sverdrup wieder in Stavanger. Seine Expedition hat, zweifellos infolge dieser unglücklichen Umstände, nicht den Hoffnungen entsprochen, die sie erweckt hatte.

Diese Berichte zeigen, daß es troß der Vorzüglichkeit der Vorbereitungen, der Festigkeit der Schiffe, der Ausdauer und Tatkraft der Menschen, der Kenntnisse der Kommandanten nicht möglich war, irgend etwas zu erreichen. Wie kann man da, wo die Tapfersten und Fähigsten gescheitert sind, auf einen Erfolg hoffen? Und doch sind, wie ich schon gesagt habe, neue Expeditionen in Vorbereitung.

Doktor Charcot, der Sohn eines durch seine hypnotischen Forschungen in der „Salpetrière“ berühmten Vaters, ist, von dem Wunsche beseelt, die dreifarbige Fahne in den Polarmeeren zu zeigen, die sie nie gesehen haben, mit der Ausrüstung einer dieser Expeditionen beschäftigt. Er gedenkt demnächst mit einem auf seine eignen Kosten ausgerüsteten Schiffe aufzubrechen. Er hat von unsern gelehrten Gesellschaften große Subventionen erhalten und rechnet darauf, daß das Publikum sie vervollständigen wird; aber es geht das für mich unkontrollierbare Gerücht, daß diese Subskriptionen nicht reichlich sind.

Die Jacht liegt bereit; er kann segeln oder mit Dampf fahren. Ihre Mannschaft wird aus zehn Leuten bestehen, einem Koch und Dienerschaft. Nach den Absichten des Doktors Charcot soll die Fahrt nur sechs Monate dauern; aber um für alle Wechselfälle der Polarmeere gerüstet zu sein, werden Lebensmittel für 18 Monate mitgenommen.

Die Laboratorien sind reich mit Apparaten versehen; der wissenschaftliche Generalstab umfaßt einen Zoologen, einen Geologen, einen Botanifer, einen Bakteriologen, einen Professor der Ozeanographie, der neuen Wissenschaft, die heutigen Lages so sehr in der Mode ist.

Diese Einzelheiten können ein gewisses Vertrauen einflößen. Aber wer kennt eigentlich Herrn Charcot? Hat er je die See befahren? Hat er auch nur jemals eine Mannschaft befehligt und sich Gehorsam zu verschaffen verstanden? Das ist der dunkle, sehr bedenkliche Punkt des Problems, der dunkle Punkt, der den schon hervorgehobenen nur allzu hellen Punkten gegenübersteht.

Endlich ist aus der jüngsten Zeit noch ein Versuch von zwei deutschen Ingenieuren zu erwähnen, über den ich nur berichten kann, ohne mir ein Urteil darüber anzumaßen. Dr. Anschüß-Kämpfe hofft, den Pol in einem Unterseeboot zu erreichen, das vermöge der Festigkeit seines Baues den stärksten Pressungen Widerstand leisten kann. Er will unter dem Eise fahren und nur auftauchen, um

an den Stellen, wo das Meer frei ist und wo seine Maschine ihm erlaubt, sich zu halten, seinen Vorrat an Luft zu erneuern.

Das Schiff hat die Form eines Eies; es besißt große Reservoirs für komprimierte Luft, und die an Bord befindlichen Menschen werden während der fünfzehn Stunden, die das Schiff unter Wasser bleiben kann, keine Gefahr laufen, daß Mangel an Luft eintritt. Es ist mit einem elektrischen Motor versehen und kann, nach der Versicherung seines Erbauers, mit einer Geschwindigkeit von 311⁄2 Meilen in der Stunde fahren. Ich vergaß ein merkwürdiges Detail bei diesem Projekt, an dem alles merkwürdig ist: das Schiff ist am Bug mit einem Bohrer versehen, der im stande ist, das Eis da, wo seine Masse einen zu beträchtlichen Widerstand entgegenseßen würde, rasch zu durchbohren.

Dr. Scholl aus München kommt dem Dr. Anschüß-Kämpfe zu Hilfe. Er will zwischen dem 78. und dem 80. Grad nördlicher Breite ein Observatorium und eine Telegraphenstation nach dem System Braun errichten, die mit dem Unterseeboot in Verbindung bleiben soll. Bei Siemens & Halske in Berlin werden besondere Instrumente dafür hergestellt. Sobald Nachrichten von Dr. Anschüß eintreffen, sollen sie der ganzen Welt mitgeteilt werden. Dem Observatorium fällt auch die Aufgabe zu, meteorologische, magnetische und ozeanographische Beobachtungen anzustellen. Das Unternehmen steht unter dem Schuße der kaiserlichen geographischen Gesellschaft in Wien, und reichliche Spenden sichern wenigstens seinen finanziellen Erfolg.

Dr. Anschüß-Kämpfe ist nicht der einzige Erfinder, der diesen Weg eingeschlagen hat. Auch der Ingenieur Pesce empfiehlt die Verwendung eines unterseeischen Schiffes zur Erreichung des Pols.) Die zwei Hauptschwierigteiten, sagt er, sind die Orientierung und die Unmöglichkeit, bei der Fahrt unter Wasser genau zu sehen. Die erstere ist von geringerer Bedeutung; denn man braucht nur der Richtung zu folgen, die die Magnetnadel weist. Was das Sehen betrifft, so müßte das Schiff mit elektrischen Scheinwerfern ausgerüstet werden, damit man die Klippen und die unterseeischen Inseln erkennen kann. Da Nansen berichtet hat, daß die nördlichen Meere nicht in ihrer ganzen Ausdehnung mit Eis bedeckt sind, sondern zwischen den Eisbergen und den Eisfeldern große freie Strecken aufweisen, so könnte das Unterseeboot an solchen Stellen oben auf dem Wasser fahren und brauchte nur da unterzutauchen, wo es die Notwendigkeit erheischt.

Unglücklicherweise für die Seefahrer weisen die Polarmeere ganz und gar feine regelmäßige Gestaltung auf. Wo einige Jahre, selbst einige Monate vorher noch freies Meer war, ist jezt alles von riesigen Gletschern bedeckt, und die Eisberge, die Eisbänke werden durch furchtbare Stürme, von denen nichts, was in unsern Regionen zu sehen ist, eine Vorstellung geben kann, losgerissen und ins Weite fortgetragen.

Die Schlußfolgerung ist leicht. Ich habe die Anstrengungen geschildert, die

1) Revue Scientifique", 10. September 1896.

gemacht worden sind, um den Pol zu erreichen, und die nußlos geblieben sind troß alles Heldentums und aller Hingebung, die unsre Bewunderung erregen und die Bewunderung unsrer Nachkommen erregen werden, solange Ehre und Tapferkeit keine leeren Worte sind. Aber zum Schlusse darf ich wiederholen, was ich zu Anfang erwähnt habe. In dem Jahrhundert, das nun zu Ende gegangen ist, sind ungefähr 200 Schiffe in den arktischen Meeren zu Grunde gegangen, 125 Millionen sind verschwendet, zahlreiche kostbare Leben geopfert worden, und die Lösung des Problems soll noch immer gefunden werden.

Einen Vorbehalt muß man indessen noch machen. Angesichts der wunderbaren Fortschritte der Wissenschaft, der erstaunlichen Entdeckungen, die alle scheinbar feststehenden Theorien umstoßen, liegt immerhin die Möglichkeit vor, daß gegenwärtig noch unbekannte Mittel auftauchen, die den Erfolg sichern, aber selbst dann wird die Menschheit nur einen unfruchtbaren Ruhm erringen, und es kann für sie kein ernsthafter Nußen daraus entstehen.

Erinnerungen aus meinem Leben.

Bon

Theodor Gomperz.

Di

II.

Anfänge wissenschaftlicher Arbeit.

ie Richtung meiner Studien wurde ein paar Jahre lang durch die zwei Arbeiten bestimmt, von denen die eine, wie früher bemerkt, in Leipzig begonnen, die andre dort vollendet ward. Zu Ende geführt habe ich daselbst, und zwar in den legten Monaten des Jahres 1854, die Ueberseßung der Millschen Logit, für die ich dort und damals vergebens einen Verleger suchte, und die erst weit später als Bestandteil einer von mir geleiteten deutschen Ausgabe der gesammelten Werke Mills (12 Bände, 1869 bis 1880) ans Licht getreten ist. Daß ich in so frühen Jahren mit jenem Werke bekannt ward, danke ich einigen glücklichen Zufällen. In der Bibliothek des juridisch-politischen Lesevereins, dem ich schon als Student angehörte, befand sich ein Exemplar des psychologischen Werkes des älteren Mill. Die Analysis of the phenomena of the human mind erregte schon durch ihren Titel mein lebhaftes Interesse. Ich vermutete darin, und nicht mit Unrecht, eine von jeder transcendenten oder ontologischen Ansicht absehende Darstellung des Geisteslebens, und eben dieser, später positivistisch genannte Verzicht auf alle Ontologie bildete bereits damals einen Bestandteil

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