Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

ist. Wer also Kleider von solchen Personen verschenken oder vielleicht selbst gebrauchen will, die an übertragbaren Krankheiten gelitten haben, der sollte dies nicht anders tun, als wenn die Kleider ihrer Ansteckungsfähigkeit vorher dadurch beraubt wurden, daß man die Ansteckungsstoffe in ihnen unschädlich machte oder, wie der Kunstausdruck lautet, die Kleider desinfizierte. Was für Kleider gilt, das trifft auch für Leibwäsche, Betten und alle Gebrauchsgegenstände zu. Wie leicht beispielsweise durch Federn auf weite Entfernungen hin Ansteckungsstoffe vertragen werden können, hat sich mehrfach in meinem jezigen Wirkungskreise, in Zürich, bei dem Ausbruch von Pocken nachweisen lassen. Wiederholentlich wurden Arbeiter in Federgeschäften Zürichs von Pocken befallen, während sonst der Kanton Zürich und die ganze Schweiz von Pocken frei waren. Als man den Ursachen der Erkrankung nachging, machte man die Erfahrung, daß Federn aus Ungarn bezogen worden waren, und daß in Ungarn Pocken herrschten. Es liegt selbstverständlich in dem Interesse jedes Gemeindewesens, Desinfektionsanstalten einzurichten, die den Bewohnern leicht, bequem und ohne Unkosten zugänglich sind. Die Herstellungs- und Betriebskosten für derartige Anstalten sind bald eingebracht und sehr gering im Vergleich zu jenen Unsummen, die ausgedehnte Epidemien von ansteckenden Krankheiten zu verschlingen pflegen.

Ueberhaupt gehört die Unterlassung einer Desinfektion von Kleidungsstücken, Gebrauchsgegenständen aller Art und Krankenzimmern, wenn ansteckende Krankheiten vorliegen, in das Gebiet der medizinischen Rücksichtslosigkeiten. Ein Scharlachkranker, der nach seiner Genesung mit nichtdesinfizierten Kleidern in den allgemeinen Verkehr zurückkehrt, kann selbstverständlich diejenigen anstecken, die mit ihm in Berührung kommen, und ebenso leicht tragen solche Personen eine Ansteckung davon, die ein Zimmer betreten, in dem ein Kranker mit den früher angeführten Infektionskrankheiten gelebt hat. Auch hier liegt es wieder im Interesse der Gemeinden, eine wo möglich unentgeltliche Desinfektion von Krankenstuben, wenn nötig zwangsweise, durchzuführen. Dies ist aber nur möglich, wenn die Behörden von dem Vorkommen einer ansteckenden Krankheit Kenntnis erhalten haben, was kaum anders als durch gesetzlich vorgeschriebene Anzeigepflicht erreichbar ist. Sehr auffällig, aber leider nicht selten vorkommend ist es, daß sich gerade oft bessere und gebildete Kreise gegen eine Anzeige bei den Gesundheitsbehörden sträuben und den Arzt von seiner Pflicht abzulenken suchen. Es drängt sich ihnen vielfach die ganz ungerechtfertigte Empfindung auf, als ob Krankheit nicht eine bedauerliche Zufälligkeit, sondern ein selbst= verschuldetes Unglück wäre. Fort ein für allemal mit dieser falschen und für die Umgebung nicht ungefährlichen Scham!

Wir wollen nicht versäumen, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß manche Ansteckungsstoffe sich jahrelang ihre Lebensfähigkeit erhalten; denn ich habe es mehrfach erlebt, daß Laien glaubten, alle Vorsichtsmaßregeln gegen eine Ansteckung außer acht lassen zu dürfen, weil seit der Krankheit schon Jahre verstrichen waren. Es möge mir gestattet sein, zum Beweise für das Gesagte ein Beispiel aus meinen Erlebnissen anzuführen, dem ich vor nicht langer Zeit

begegnet bin. Ein mit Glücksgütern sehr reich bedachter Mann hat sich an einem der schweizerischen Gebirgsseen ein herrliches Schloß erbaut, in dem er die Sommermonate zu verleben pflegt. Die Tochter des Schloßherrn ist in Berlin verheiratet. Sie wurde gebeten, mit ihrem knapp einjährigen Kinde einige Zeit auf dem Schloßgute ihres Vaters zu verbringen. Plößlich erkrankte das Kind an Keuchhusten. Nun entsteht Keuchhusten - und das Gleiche gilt auch für alle andern ansteckenden Krankheiten — niemals von selbst, und man muß daher als Arzt immer nach einer besonderen Keuchhustenquelle suchen. In der Umgebung des Kindes waren weder in Berlin noch in der Schweiz Keuchhustenerkrankungen vorgekommen. Dagegen hatte der Schloßherr vor zwei Jahren Berwandte mit zwei keuchhustenkranken Kindern auf sein Landgut eingeladen, damit die Kinder ihre Krankheit infolge der Luftveränderung schneller verlören. Diese beiden Kinder hatten in dem gleichen Zimmer geschlafen, das auch der fleinen Enkelin des Schloßherrn zum Schlafraum angewiesen worden war. Dies Zimmer war zwar vielfach gelüftet, niemals aber desinfiziert worden, und jedenfalls hatte sich der Ansteckungsstoff zwei Jahre hindurch seine Ansteckungsfähigkeit erhalten.

Sehr wichtig ist es, zu wissen, daß sich der Ansteckungsstoff bei manchen Krankheiten im Auswurf findet, beispielsweise bei Keuchhusten, Lungenschwindsucht und Lungenentzündung, bei andern im Darminhalt (Unterleibstyphus, Cholera, Ruhr), mitunter auch im Erbrochenen. Wer nun sich und seine Umgebung vor Ansteckung schüßen will, der muß darauf Bedacht nehmen, die Ansteckungsstoffe in den obengenannten Dingen zu töten, und wer das nicht tut, vielleicht weil er selbst vor einer Ansteckung nicht Angst hat, der begeht eine grobe und unter Umständen strafbare Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen. Wie oft sind Typhusepidemien ausgebrochen, weil man achtlos die Darmabgänge von Typhuskranken in Bäche und Flüsse entleert hatte, deren Wasser stromabwärts zum Trinken und Hausgebrauch benußt wurde. Daß bei der Verbreitung der Lungenschwindsucht der Auswurf, der mit Tuberkelbazillen oft übersät ist, die Hauptrolle spielt, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Trocknet nichtdesinfizierter Auswurf von Lungenschwindsüchtigen ein und verteilt er sich staubförmig in der Luft, so wird er leicht von Nichtschwindsüchtigen eingeatmet, und wenn Tuberkelbazillen in Luftwege mit geringer Widerstandskraft hineingelangen, sind sie leicht im stande, sich zu vermehren und Lungenschwindsucht hervorzurufen. Es ist daher begreiflich, daß man in neuester Zeit sehr großen Wert auf die Desinfektion des Auswurfes von Lungenschwindsüchtigen legt, um dieser verheerenden Volksseuche Einhalt zu tun.

Vielleicht häufiger noch als durch eingetrockneten und als feinen Staub aufgewirbelten Auswurf geschieht die Ansteckung bei Lungenschwindsucht noch auf anderm Wege. Ein Lungenschwindsüchtiger verbreitet beim Husten einen Teil seines Auswurfes in Form feinster Flüssigkeitströpfchen unbewußt und unbemerkt in die umgebende Luft. Diese mit Tuberkelbazillen erfüllten Tröpfchen Deutsche Revue. XXVIII. Juli-Heft.

4

bleiben einige Zeit in der Luft schweben und folgen mit Leichtigkeit etwaigen Luftströmungen. Es sind demnach die Umstände dafür außerordentlich günstig, daß derartige Tröpfchen von denen, die sich in der Nähe des Kranken aufhalten, eingeatmet werden und Ansteckungen hervorrufen. Sehr wesentlich wird diese Ansteckungsgefahr vermindert, wenn sich der Kranke während des Hustens die Hand vor den Mund hält und dadurch die feinen Auswurfströpfchen abfängt. Es ist richtig, daß dieser Handgriff zum guten Ton gehört, aber es läßt sich auch nicht in Abrede stellen, daß viele Kranke glauben, sich über diese Anstandsregel fortseßen zu dürfen. Das ist eine grobe und verwerfliche Rücksichtslosigkeit, die man unter keinen Umständen dulden darf. Beachtenswert ist, daß das, was ursprünglich ausschließlich das Anstandsgefühl vorschrieb, im Lichte der modernen medizinischen Forschung die hohe Bedeutung einer Maßregel erhalten hat, die der Verbreitung der Lungenschwindsucht in wirksamer Weise entgegenarbeitet.

Viele Kranke machen sich einer bedauernswerten und gefährlichen Rücksichtslosigkeit noch dadurch schuldig, daß sie ansteckende Ausscheidungen achtlos hierhin und dorthin absehen. Es gilt dies auch wieder in erster Linie für den ansteckenden Auswurf der Lungenschwindsüchtigen. Gerade in niederen Kreisen ist es auch heute noch immer eine verbreitete Unfitte, den Auswurf im Freien auf die Straße oder in öffentlichen Gebäuden in einem Winkel der Hausflure, im Eisenbahnwagen auf den Boden u. s. w. auszuspucken. Daß ein solches Benehmen im allerhöchsten Grade eine Verbreitung der Krankheit begünstigt, bedarf keiner längeren Auseinanderseßung; denn der Auswurf trocknet eben leicht ein, zerstäubt und wird von andern eingeatmet.

Auch beim Keuchhusten kommen leider sehr häufig die gleichen Ungehörigkeiten vor, und wohl jeder hat auf der Straße Kinder gesehen, die plöglich von einem Keuchhustenanfalle betroffen wurden und oft auf Geheiß der Eltern oder Wärterin den Auswurf auf die Straße spuckten.

Einer nicht unbedeutenden Ansteckungsgefahr sind bei gewissen Krankheiten die Wäscherinnen ausgeseßt. Leib- und Bettwäsche werden sehr leicht und oft mit Darmentleerungen beschmußt, und wenn es sich wie bei Unterleibstyphus, Cholera und Ruhr um Darminhalt handelt, der die Ansteckungsstoffe beherbergt, so besteht die Gefahr, daß diejenigen angesteckt werden, die mit dieser Wäsche zu tun haben. Es sollte daher als Regel gelten, daß die von Kranken abgelegte Wäsche erst einen Tag lang in einer fünfprozentigen Karbolsäurelösung verweilt, um alle Ansteckungsstoffe abzutöten, ehe sie den Wäscherinnen zum Reinigen übergeben wird.

Das Gebiet der medizinischen Rücksichtslosigkeiten ist viel zu ausgedehnt, als daß es möglich wäre, alle Vorkommnisse zu berühren, geschweige denn zu erschöpfen. Es mag genügen, noch auf ein wichtiges Ding hingewiesen zu haben, nämlich auf die Bedeutung des Kusses. Ich bin darauf vorbereitet, daß mancher meiner Leser voll Verwunderung den Kopf schütteln und ausrufen wird: Wie! Das Küssen eines nahestehenden und von uns geliebten Menschen eine

Rücksichtslosigkeit? Sind wir doch gewohnt, den Kuß als ein äußeres Zeichen größter Liebe und Vertraulichkeit anzusehen, und läßt sich doch in einem einzigen Kuß oft mehr als in vielen, vielen Worten ausdrücken! Und dennoch muß der Arzt das Küssen unter bestimmten Umständen für eine grobe medizinische Rücksichtslosigkeit erklären. Darüber sollte man sich um so mehr klar sein, als nicht nur die Angehörigen eines Kranken geneigt zu sein pflegen, den Kranken mit Lieblosungen zu überschütten, sondern auch viele Kranken in erhöhtem Maße das Verlangen tragen, ihren Dank für Aufopferung und Pflege durch größere Freigebigkeit mit Küssen zum Ausdruck zu bringen.

Seit alter Zeit hat die Regel gegolten, der Uebertragungsgefahr wegen teinen Kranken mit Schnupfen zu küssen oder sich von an Schnupfen Leidenden küssen zu lassen. Das, was ein dunkles Ahnen schon längst für den Schnupfen erkannt hat, gilt auch für manche andern Infektionskrankheiten; an erster Stelle für solche, bei denen sich die Ansteckungsstoffe im Auswurf, im Mund- und Rachensekret finden. Auch bei Beobachtung größter Reinlichkeit ist es nicht zu vermeiden, daß geringe, mit unbewaffnetem Auge vielleicht nicht einmal sichtbare Teilchen an den Lippen verbleiben oder durch den Kuß auf andre übertragen werden. Derartiges fann bei Lungenschwindsucht, Keuchhusten, Rachendiphtherie und Syphilis sehr leicht geschehen. Wußten doch die Zeitungen vor mehreren Jahren zu berichten, daß eine mitteldeutsche Fürstin dadurch an Rachendiphtherie erkrankte, daß sie ihr an Diphtherie leidendes Kind, man sagte, entgegen der Warnung der behandelnden Aerzte, geküßt hatte. Mutter und Kind fielen dieser ernsten Krankheit zum Opfer. Auch bei vielen andern Infektionskrankheiten erscheint der Kuß gefährlich; denn er verlangt eine innigste Berührung mit den Erkrankten, und damit nimmt die Ansteckungsgefahr zu. Bei ansteckenden Krankheiten der zuerst erwähnten Art wird die Uebertragungsgefahr wesentlich geringer, wenn man nicht auf den Mund, sondern auf die Stirn küßt, was in manchen Familien in sehr zu begrüßender Art überhaupt Brauch ist.

Suchen wir uns darüber klar zu werden, was man durch das Vermeiden von medizinischen Rücksichtslosigkeiten erreicht, so kommen wir zur Erkenntnis, daß man dadurch Ansteckungsgefahren entgeht. Wir nennen nun alle Maßregeln, die die Verbreitung von Krankheiten verhindern: Vorbeugungsmaßregeln oder Prophylaxe. Es müssen demnach medizinische Rücksichtslosigkeiten als Vergehen gegen die Prophylaxe bezeichnet werden.

Möglicherweise wird man mir entgegnen, es wäre vielleicht alsdann zweckmäßiger gewesen, den Ausdruck Rücksichtslosigkeit zu vermeiden und ihn durch Regeln der Prophylaxe zu ersehen. Dies hätte deshalb etwas sehr Unvolltommenes an sich gehabt, weil das Gebiet der Prophylaxe weit umfangreicher ift und die medizinischen Rücksichtslosigkeiten zwar einen sehr wichtigen, aber doch verhältnismäßig kleinen Teil der Prophylaxe bilden. Medizinische Rücksichtslosigteiten sind nun notgedrungen die Vorbeugungsmaßregeln gegen übertragbare Krankheiten, die jeder mit gutem Willen und ohne Anleitung eines Arztes ausüben kann. Möge die Rücksicht auf andre es jeden leicht überwinden lassen, Unbequemlich

keiten und selbst unangenehme Lebenslagen leicht über sich ergehen zu lassen, weil ein gebildeter und gesitteter Mensch es vermeiden muß, sich wie andrer, so auch medizinischer Rücksichtslosigkeiten schuldig zu machen!

[ocr errors]

Ist es möglich, den Nordpol zu erreichen?

Bon

Marquis de Nadaillac.

jenn man sich all die Katastrophen vergegenwärtigt, die sich in den Polarmeeren ereignet haben, die große Zahl der verloren gegangenen Schiffe, die Tausende der dabei geopferten Leben, die Leiden, von denen man nicht ohne Schauder lesen kann, die riesigen Geldsummen, die dabei verschwendet worden find, so fragt man sich: Welche ernsthaften Resultate sind durch das alles erreicht worden? Welche Entdeckungen, sei es in praktischer, sei es_in_wissenschaftlicher Hinsicht, haben das gemeinsame Erbteil der Menschheit bereichert? Was für Entdeckungen können überhaupt in diesen Regionen gemacht werden, die die Kälte zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt? Gewiß, man hat auf unsern Karten einige neue Namen eingetragen; die Geschichte hat einige Forscher registriert, deren Energie unsrer Generation Ehre macht. Aber wenn man kalten Blutes die Erfolge untersucht, worauf laufen sie hinaus? Der Mensch hat sich dem Pole um einige Grade, einige Minuten und sogar noch um einige Sekunden genähert, ist aber noch 238 Meilen vom Nordpol entfernt.

Den Rekord hält der Kommandant Cagni. Er ist bis 86° 33′ 49′′ nördlicher Breite gelangt und hat Nansen damit um einige Minuten geschlagen. Er war der Stellvertreter des Herzogs der Abruzzen, dem mehrere Finger erfroren waren und amputiert werden mußten.

Cagni verließ das italienische Lager, das auf der Kronprinz Rudolph-Insel aufgeschlagen worden war, am 21. Februar 1900 bei einer Kälte von 43o. Er führte neun Leute mit sich darunter drei Alpenführer, die, in drei Gruppen geteilt, nacheinander ins Lager zurückkehren sollten. Jede Gruppe hatte vier feste, in Norwegen unter der persönlichen Leitung Nansens gebaute Schlitten, dieselbe Anzahl Hunde, und für die mutmaßliche Dauer der Fahrt berechnete Lebensmittel. Das Thermometer schwankte zwischen -43 und -46o. Der Leutnant Querini brach an der Spiße der ersten Abteilung auf. Man hat weder ihn noch seine Kameraden jemals wiedergesehen, man hat nicht einmal ihre Spuren wiedergefunden. Was für Qualen mögen diese Unglücklichen ausgestanden haben, die bei der fürchterlichsten Kälte in diesen Eiswüsten herum

« ZurückWeiter »