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in einem Gespräch, das mir hinterbracht werden sollte, zum Ausdruck brachte, um mich ihm gegenüber nicht mehr zu beschweren, und wenn ich mich auf die Seite seiner Gegner geschlagen habe, so glaube ich mir selbst, so gut wie meinen Freunden, das Zeugnis ausstellen zu können: es war einzig und allein um des öffentlichen Interesses willen, aus Besorgnis vor den Gefahren, die sein Bündnis mit der Linken über die französische Gesellschaft heraufbeschwor.

Die künftigen Geschichtschreiber werden Mühe haben, dieses Bündnis zu erklären. Er selbst hat es auf der Tribüne erklärt: Er stimmte mit den Männern der Linken, mit den Republikanern dieser Zeit, in keiner ökonomischen, finanziellen, militärischen, sozialen oder politischen Frage überein, nur allenfalls in Bezug auf die Regierungsform; auch als er, der vorher die Republik verworfen, nach 1870 sie als unvermeidlich erachtet hatte, seßte er wenigstens eine Ehre darein, sie konservativ zu gestalten und zu dem Behuse keine Republikaner darin zu haben. Aber diese Republik ohne Republikaner ist sicherlich nicht die, die er uns gegeben hat. Er hätte sie besser als irgend jemand in Frankreich gründen können, wenn er sich nicht gleich in den ersten Zeiten der Assemblée und im Gegensatz zu seinen ersten Zielen von den Konservativen getrennt hätte, wenn er nicht ohne sie und gegen sie regiert hätte, mit dem Vorgeben, daß sie monarchistisch seien, und es ist allerdings richtig, daß die meisten von ihnen es in der Tat waren. Aber stand es Thiers an, sich darüber zu verwundern und zu beklagen? War er es nicht selbst gewesen? Hatte er nicht zu Anfang der Assemblée in seinen ersten Verhandlungen mit den Abgeordneten der Rechten in Bordeaux als Ziel, das man erreichen müsse, die Monarchie bezeichnet, „aber die geeinigte Monarchie und keine andre" das heißt die Monarchie unter den beiden miteinander ausgeföhnten Zweigen des Hauses Bourbon? Wir strebten denn auch, während wir an dieser Aussöhnung arbeiteten, diesem von Thiers selbst unsern Bemühungen gesteckten Ziel zu.

Wir suchten die Regierungsform vorzubereiten, die man sowohl im Auslande wie im Inlande damals für die geeignetste hielt, Frankreich in die Höhe zu bringen. In Deutschland z. B. wünschte Fürst Bismarck, daß Frankreich Republik bliebe, aber warum? Weil er die Republik für geeignet hielt, uns zu schwächen, uns unschädlich zu machen; er hat kein Hehl daraus gemacht, er hat es rund heraus erklärt in den Depeschen, die er selbst veröffentlichte, als er den Grafen Arnim verfolgte. Aber diejenigen unsrer Besieger, die nach dem Friedensschluß aufgehört hatten, uns übel zu wollen, wie z. B. der Feldmarschall von Manteuffel, der bis zur Auszahlung der Kriegsentschädigung die Occupationsarmee kommandierte und die beseßten Provinzen mit der größten Rücksicht behandelte, „le plus ami de nos ennemis", wie Thiers ihn nannte, bekannten sich zur entgegengesezten Meinung. Als Manteuffel eines Tages beim Diner im Palais des Präsidenten in Versailles sich neben einem Mitglied der Assemblée, dem Grafen Merode, befand, der es verstand, ein bedeutsames Gespräch anzuregen, pries er diesem gegenüber das Glück Frankreichs, einen Mann wie Thiers an seiner Spiße zu haben. Und als Graf Merode, ohne im geringsten die Lobeserhebungen auf

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Thiers anzufechten, bemerkte, daß wir früher oder später eine definitive Regierungsform nötig hätten, erwiderte der deutsche Marschall ohne Zögern, daß diese Regierung die legitime Monarchie sein müsse. Und als hierauf Graf Merode die auf die Fahne bezüglichen Schwierigkeiten betonte, antwortete der Marschall: „O, die tapfere französische Armee, die ich so sehr achten gelernt habe nein, nein, man darf ihr die Fahne nicht nehmen, sondern der König braucht nur seinen weißen Busch auf seinen Helm zu stecken!"

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In der Tat, wenn die Monarchie nicht wiederhergestellt wurde, so war es nicht Thiers, der es verhinderte, denn nachdem er sich von uns getrennt, hatten wir ihn beiseite gelassen; es war der Graf von Chambord, der sich unserm Rufe entzog und sich weigerte, die Fahne der Nation zu acceptieren. Dieser unglückliche Prinz würde Thiers gegenüber zurückgetreten sein, wie er es dem Marschall Mac Mahon gegenüber getan hat, und Thiers wäre dann, wenn er mit uns in Uebereinstimmung geblieben wäre, unsre Zuflucht gewesen, wie es der Marschall gewesen ist, aber unter viel günstigeren Umständen; die Spaltungen unter den Männern der Ordnung, die uns zu Grunde gerichtet haben, wären vermieden worden; die Republik, die Thiers anfangs gepriesen hatte, die konservative Republik, die Republik ohne Republikaner, hätte Gelegenheit gehabt, festen Fuß zu fassen, und er wäre ihr Gründer gewesen. Statt dessen war die Staatsform, die die Oberhand gewann, nicht die seinige und verdiente nicht, seinen Namen zu tragen; denn es ist unter seinen Ansichten keine, die nicht heutigen Tages verleugnet und verworfen würde, keine von ihm als nötig erachtete Einrichtung, in die nicht eine Bresche geschossen wäre, und zwar von den Männern, denen er die Tür geöffnet und den Weg gebahnt hat. Die jeßige Republik ist nicht mehr die Republik Thiers'; sie ist die Republik Gambettas. Gambetta, der wenig eigne Ideen hatte und sich selbst als unfähig zum Ueberlegen bekannt hat er sagte, wie erzählt wird: „Ich denke nur im Sprechen“ —, hat sich in der Tat weder von den Doktrinen, noch von den Neigungen der radikalen Partei losgesagt; nur um ihre Fortschritte zu sichern, um ihren Erfolg vorzubereiten, hat er verstanden, „langsam, aber sicher“ ihre methodische Anwendung durchzuführen. Man hat Gambetta oft die verschiedensten Eigenschaften zugeschrieben. Meiner Ansicht nach war er wirklich hervorragend als Führer der Opposition, der über alle Hindernisse hinweg vordrang, bis er die Macht in Händen hatte.

Als er aus der klugen Zurückgezogenheit, in der er sich während der Kommune gehalten hatte, hervortrat und in Versailles erschien, freute ich mich im voraus, von allem Parteigeist abgesehen, aus Liebe zur Kunst, daß ich etwas zu hören bekommen sollte, was ich noch nie gehört hatte: einen wortgewaltigen Volksredner. Seine ersten Reden bereiteten mir eine unangenehme Enttäuschung, und als ich mich gegen einen unsrer Kollegen, Laurier, der sein Vertrauter gewesen war und sich später von ihm losgesagt hatte, über meinen ungünstigen Eindruck aussprach, antwortete dieser geistreiche Mann: „Was wollen Sie? Es gibt einen Grad des Uebelwollens, den zu überwinden keinem Redner, wer er

auch sei, gelingt. Und dann, wenn man sechs Monate lang Herrgott gewesen ist, ist es nicht leicht, etwas andres zu werden.“ Laurier hatte recht: die Diktatur Gambettas hatte kläglich geendet; diese noch ganz frische Erinnerung lastete damals auf ihm mit einem Gewicht, das ihn anfangs zu erdrücken schien. Ich sehe ihn noch mühsam kämpfen, bald gegen das Gemurmel, bald gegen ein feindfeliges Schweigen, an dem seine Kraft sich brach. Wir, Bethmont und ich, saßen auf den Pläzen der Sekretäre hinter der Tribüne, und als Bethmont, der dem Redner ganz nahe saß, ihm Mut zusprach, troß aller Unterbrechungen fortzufahren, antwortete er leise: „Ich möchte Sie wohl diesen irischen Wall nehmen sehen." Und doch, nach einigen mehr oder minder mühevollen Versuchen nahm er das Hindernis, und seine zündende Beredsamkeit, unterstüßt von einer warmen, vollen Stimme und einer gebieterischen Geste, verschaffte sich wieder Geltung. Wird er in der Zukunft zu unsern großen Rednern gezählt werden? Die Passanten, die dereinst auf der Place du Carrousel vor den in den Stein seines riesigen Denkmals gemeißelten Bruchstücken seiner Reden stehen bleiben, werden einige Mühe haben, sie zu bewundern, und wenn sie, erstaunt, die wenigst lapidare Sprache, die es jemals gegeben hat, derart erhalten zu sehen, sich einfallen lassen, einige seiner Reden im ganzen zu lesen, so wird die Ueberfülle der wahllos angehäuften Worte es ihnen schwer machen, zu erkennen, was seine Zeitgenossen hinriß: das Feuer der Leidenschaft, der Wohllaut des Tones, die Kraft und die Geschicklichkeit des Angriffes, die Schlagfertigkeit der Antwort. Ich glaube auch nicht, daß man lange dabei beharren wird, ihm zuzuerkennen, was ich ihm heutigen Tages oft zusprechen höre: den Blick und die Zielbewußtheit eines Staatsmannes. Als er Vorsizender der Budgetkommission und umumschränkter Herr über die Geldmittel des Staatsschazes war, leitete er keine administrative Reform ein, und der Finanzplan, den er vorgelegt hat, ohne ihn zu verwirklichen, hat keineswegs einen denkwürdigen Eindruck gemacht. Als er endlich das Staatsruder in die Hand bekam, täuschte er die allgemeine Erwartung, er vermochte nur ein ephemeres Ministerium zu bilden und fiel gleich beim ersten Anprall. Ich wiederhole es, die Rolle, für die er geboren war, und die er mit wunderbarer Ueberlegenheit ausfüllte, war die des Parteiführers. Bei seiner Ankunft in Versailles mied ihn jeder; die bewährtesten Republikaner hielten sich von jeder Berührung mit ihm fern; die Feinde Thiers' wußten, wenn sie ihn zu diskreditieren suchten, ihm nichts Schlimmeres anzudichten als eine Unterredung mit dem „,fou furieux", dessen Politik er gegeißelt hatte.

Drei Jahre später, als er auswärts auf den Rednertournees, die er nach seinem eignen Ausdruck als „Commis Voyageur der Demokratie" unternahm, neue Kräfte geworben hatte, kommandierte er im Innern der Assemblée inmitten der getrennten Gruppen vielleicht das zahlreichste und gewiß das am besten disziplinierte Bataillon. Man mußte ihn sehen, wie er bald durch ein von seinem Plaze oder von der Tribüne aus geschleudertes Wort die Seinigen aufpeitschte und den Sturm entfesselte, bald mit einer Bewegung seiner schweren Hand Schweigen gebot und unzeitgemäße Ausbrüche der Leidenschaft unterdrückte.

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Außerhalb seiner Partei sahen sich die Männer, die ihn am meisten verwünscht hatten, genötigt, mit ihm zu verhandeln, mit seiner Macht zu rechnen. Ob diese Macht durch geheime Machenschaften vorbereitet worden war oder nicht, konnte nur einem Manne zufallen, der fähig war sie auszuüben, und Gambetta hat sie seit 1874 mehr und mehr ausgeübt; ich möchte fast sagen, er übt sie noch immer aus. Die Vaterlandsfreunde, die jezt dieses Rennen auf den Abgrund zu entsegt und betrübt macht, stellen gerne die Politik Gambettas der seiner Nachfolger gegenüber. Ist das nicht eine retrospektive Illusion? Wer hat denn die Daseinsberechtigung der Republik in dem Emporkommen „einer neuen sozialen Schicht" gefunden, wenn nicht er? Und in einer Nation, in der seit Jahrhunderten die verschiedenen Geschlechter sich miteinander vermischt haben und ineinander verschmolzen sind, in der seit mehr als einem Jahrhundert jedes Geburtsprivilegium abgeschafft ist, - aus welchen Leuten kann da diese neue Klasse bestehen, die von der Regierung Besit ergreift, als aus Männern ohne Tradition und ohne Vorgeschichte, ohne politische Vorbereitung und Kompetenz? Ist es nicht wiederum Gambetta, der seiner Partei die Parole ausgegeben hat: „Der Klerikalismus ist unser Feind?" Diese Parole schien damals dem Fürsten Bismarck entlehnt zu sein. In Deutschland wütete der Religionskrieg, in Frankreich herrschte Religionsfriede. Heutigen Tages wütet bei uns der Religionskrieg, während jenseits des Rheines der Religionsfriede wiederhergestellt ist. Die Parole Gambettas wird vollzogen, und zwar von den Männern, deren Emporkommen er vorhergesagt und vorbereitet hat.

Es fragt sich nur noch, wie lange diese Männer unsre Herren sein werden und wie lange ihre Politik die Oberhand haben wird.

Das Ausland hat es oft gesehen, und ein venezianischer Gesandter, ein aufmerksamer Beobachter unsrer Zwistigkeiten und unsrer Bürgerkriege, schrieb es im 16. Jahrhundert: „Wenn Frankreich am tiefsten steht, erhebt es sich am schnellsten und höchsten.“

Anmerkung der Redaktion. Die gegenwärtige Kirchenpolitik Frankreichs wird auf die freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reiche und der französischen Republik keinen nachteiligen Einfluß ausüben. Weit eher könnte sich dieses Verhältnis ändern, wenn die Klerikalen wieder zur Herrschaft in Frankreich gelangen würden, da diese niemals die Freunde des protestantischen Kaiserreichs waren.

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Medizinische Rücksichtslosigkeiten.

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Prof. Dr. med. Hermann Eichhorst in Zürich.

enn ich im folgenden von medizinischen Rücksichtslosigkeiten sprechen will und darunter Rücksichtslosigkeiten verstehe, die sich nicht etwa der Arzt, sondern das Publikum zu schulden kommen läßt, so bin ich fest davon überzeugt, daß die meisten meiner Leser der Ueberzeugung sein werden, daß sie meine Auseinanderseßungen gar nichts angehen. Es gehört in der Tat ein gewisser Mut dazu, einem Leserkreise gegenüber von Rücksichtslosigkeiten zu sprechen und ihm vielleicht gar solche vorzuwerfen, der mit Recht den Ruf feiner Bildung und guter Erziehung genießt. Rücksichtslosigkeit wird mit gutem Grunde als ein Fehler des Charakters oder der Erziehung oder von beidem angesehen, und man pflegt demjenigen die Eigenschaften eines tadellosen Menschen abzusprechen, an dem man Rücksichtslosigkeiten zu bemerken Gelegenheit gehabt hat.

Wenn ich auch für das, was ich hier besprechen möchte, den Ausdruck Rücksichtslosigkeit nicht zurücknehmen kann, so muß ich doch als mildernden Umstand hervorheben, daß sich die meisten medizinische Rücksichtslosigkeiten in ganz unbewußter Weise haben zu schulden kommen lassen. Vielfach sind es sogar die besten und edelsten Absichten gewesen, denen die Rücksichtslosigkeit entsprang. Wenn das alte Wort richtig ist, daß Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung ist, dann darf ich vielleicht auch hoffen, daß meine Erörterungen manchem Leser nicht unwillkommen sein werden, daß sie ihm zeigen werden, wie er bisher ohne Ahnung von seinem Mißgriff gefehlt hat, und daß sie ihn in Zukunft veranlassen werden, auch den Regeln medizinischer Bildung und Erziehung streng nachzuleben.

Wie sehr ich davon entfernt bin, mich hier immer nur als Ankläger aufzuspielen, geht wohl besonders deutlich daraus hervor, daß ich für eine große Zahl von Fällen gerne bereit bin, den medizinisch Rücksichtslosen bis zu einem gewissen Grade in Schuß zu nehmen, in dem Sinne wenigstens, daß er unbewußt gefehlt hat. Denn die Dinge, um die es sich hier handelt, sind zu einem großen Teil erst durch die neuesten Fortschritte der medizinischen Wissenschaft in ihrer weittragenden Bedeutung erkannt und mit mathematischer Sicherheit und Genauigkeit klargelegt worden. Derjenige freilich macht sich einer Entschuldigung unwürdig, der die medizinischen Rücksichtslosigkeiten kennt, es aber nicht der Mühe für wert hält, ihnen mit Beharrlichkeit und Strenge zu entsagen. Mitunter, das wollen wir gerne zugeben, gehört große Selbstüberwindung dazu, aber ist etwa dieses Opfer zu teuer erkauft, wenn es sich um die Gesundheit nicht nur des eignen Körpers, sondern um Glück und Wohlergehen ganzer Familien und noch weiterer Kreise handelt? Wir werden im folgenden erfahren, daß es Lebens

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