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natürlich. Es waren, wie immer, die Reaktionäre und die Neuerer. Die lateinischen Säße, aus vollem Halse geschrieen, durchkreuzten sich. Die „dic mihi quæso“ stürzten lärmend über die ,,distinguo", die ,,concedo", die ,,nego“ und das ganze Kauderwelsch des scholastischen Wortgefechtes hinweg. Um die erhigten Gemüter zu beruhigen oder anzuspornen -, hatte der Kandidat ein Büfett aufstellen lassen, wo es Wein, Bier und Backwerk gab. Im Hof sezte sich das Getöse fort unter den Freunden, den Lehrern, den Doktoren, die Anhänger oder Gegner der Theorien des Kandidaten waren; während die Klatschbasen des Stadtviertels, die sich an den Lärm schon gewöhnt hatten, ruhig zu dem bestürzten Vorübergehenden sagten: „Das sind unsre Doktoren, die diskutieren."

Unter den zur Diskussion gestellten Themen findet man sehr hübsche: „Ist es der Gesundheit zuträglich, sich im Monat mehr als einmal zu betrinken ?" Hier ein andres, nicht minder bedeutungsvolles Thema: „Sind die hübschen Frauen fruchtbarer als die andern?" Ein noch interessanteres Thema lautet: „Ist die Natur der Frau liebesbedürftiger als die des Mannes?" Man kann es wirklich nur bedauern, keiner Versammlung von Doktoren in schwarzen Togen, die mit Feuereifer über einen solchen Stoff ganz ernsthaft auf lateinisch diskutieren, beigewohnt zu haben. Andre Themen waren heikler: „Sind die Pariser mehr dem Husten ausgesezt, wenn Nordwind geht?" Oder: „War die Heilung des Tobias durch die Galle des Fisches ein Wunder oder ein natürlicher Vorgang?" und noch viele andre, die einen gleichen Scharfsinn erfordern würden.

Die Studenten waren indessen nicht immer in der Universität. Man kennt die großen Spiele und die großen Kämpfe mit den Leuten der Abbaye oder der Polizei des Pré aux Clercs. „Wir wollen euch nicht von der Wegnahme des Schildes der Halles', des davonlaufenden Mutterschweins, noch von der des Bären an der Porte Baudoyer erzählen, auch nicht von ihrer Hochzeit, die von den Studenten mit Lustbarkeiten gefeiert wurde, die Pantagruel und Gargantua hätten ergößen können. Wir wollen nicht von dem schließlichen Triumph der Polizei sprechen, den Verhaftungen, die vorgenommen wurden, den feierlichen Protesten des Rektors und der Fakultäten, den Tumulten und Schlägereien, die daraus entstanden: es bedürfte eines Homer, um diese Kämpfe zu besingen!" Dann noch die Kneipe der Studenten, der ,,Puits de Vérité". Das Schild stellt ein nacktes, aus einem Fasse hervorkommendes Weib dar.

Hier wurde gesungen:

In vino veritas.

Dans l'eau pour qui la boit gît la mélancolie,
Dans le jus du beau fruit qui croit en Normandie

Mensonge et perfidie:

In vino veritas. 1)

Früher hatten sich die Studenten mit Vorliebe im „Treillis vert"“ versammelt, aber seit einiger Zeit war die Schenke zu sehr von dicken Mönchen an

1) Jm Waffer liegt für den, der es trinkt, die Melancholie; in dem Saft der schönen Frucht, die in der Normandie wächst (Nepfel), Lüge und Falschheit: Im Wein ist Wahrheit.

gefüllt, die aus den benachbarten Klöstern tamen und die dort vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen ihre riesigen Bäuche mit Kannen voll Wein füllten; darum hatten die Studenten mit Manon und Lisette luftig den Plaz geräumt, und der lezte hatte mit Kreide auf die Türe geschrieben: Boire à la capucine,

C'est boire pauvrement;
Boire à la célestine,
C'est boire largement;
Boire à la jacobine,

C'est chopine à chopine;
Mais boire à la cordelier,
C'est vider le cellier!1)

Solche Studentenlieder, von denen die Wände des ,,Puits de Vérité" widerhallten, gibt es von allen Arten: mißvergnügte, sentimentale, naive, derb obscöne, die sich unmöglich wiedergeben lassen. Ludwig XIV. wurde darin schmählich verspottet. Aber vor allem begeisterte sie das reizende Mädchen mit dem wohlflingenden Lachen, den großen hellen Augen:

On ne croit boire que chopine,
Et quelquefois on en boit deux :
On croit rire avec sa voisine

Et l'on en devient amoureux. 2)

Die galanten Weisen enthielten nicht immer so viel Poesie:
Le vent des mes soupirs ferait moudre un moulin,

Le feu de mes désirs rostiroit du boudin. 3)

Ein andres Mal klingt das Lied bitter, fast grimmig:

Hélas! si la femme savoit

Quelle sujétion a celle

Qui faict métier de douzelle,

Elle n'en tasteroit jamais. 4)

Die meisten Lieder sind halb lateinisch, halb französisch. Viele von ihnen haben sich erhalten, und wir haben sie auf der Schule gesungen:

Vivent les vacances
Denique tandem ...5)

1) Trinken wie ein Kapuziner heißt erbärmlich trinken; trinken wie ein Cölestiner heißt reichlich trinken; trinken wie ein Jakobiner heißt einen Schoppen nach dem andern trinken; doch trinken wie ein Franziskaner heißt den Keller leer trinken.

2) Man denkt nur einen Schoppen zu trinken und trinkt manchmal zwei; man denkt mit seiner Nachbarin zu lachen, und verliebt sich in sie.

3) Der Wind meiner Seufzer könnte eine Mühle treiben, das Feuer meiner Wünsche könnte eine Blutwurst rösten.

4) Ach, wenn die Frau wüßte, in welch drückender Unfreiheit diejenige lebt, die das Handwerk einer Dirne treibt, würde sie es nie versuchen.

5) Hoch leben die Ferien, endlich sind sie da...

Oder auch die kleinen Verse, die jeder von uns auf die Innenseite seiner Büchereinbände geschrieben hat:

Aspice Pierrot pendu

Quod librum n'a pas rendu;

Si librum reddidisset

Pierrot pendu non fuisset.

Diese hübschen Couplets stammen aus der Zeit, in der in den Gymnasien, und zwar selbst in den niedersten Klassen, lateinisch gesprochen wurde. Unsre Studentenlieder sind freilich auf einen ganz andern Ton gestimmt. Man macht es sich zu nuße, daß „das Latein in den Versen der Sittsamkeit Hohn spricht“, um sich darin ohne Rücksicht gehen zu lassen.

Ein Trinllied lautet:

Je suis un docteur toujours gai,

Qui tient rang inter sobrios;

Et si jamais je n'ay vu livre

Qu'epistolas ad ebrios;

Et moy de qui la panse éclate

Nimis plena visceribus

J'ay les yeux bordés d'escarlatte

Et nasum plenum rubibus.

Das Latein steht bald am Ende, bald am Anfang der Verse, wie in den folgenden, die einem ganz allerliebsten Gedicht entnommen sind:

Philomena dit en sa chansonnette:
Ero hodie en vostre chambrette
Vobiscum jouer, si vous plaît blondette,
Ludendo saepe les doux jeux d'amour.

Es mußte indessen auch einmal ein Ende gemacht werden, und man machte zu Molières Zeiten wie heutzutage ein Ende, indem man sich verheiratete. Mit diesem Ende schließt auch das Buch Fauvelles, indem es den „Portraits" La Bruyères folgende schöne Feststellung entnimmt: „Es gibt wenig Frauen, die so vollkommen sind, daß sie dem Ehemann keinen Anlaß geben, wenigstens einmal am Tage Reue darüber zu empfinden, daß er sich eine Frau genommen hat, oder denjenigen glücklich zu finden, der keine hat." „Unser Student ist also jezt verHeiratet," sagt zum Schlusse unser liebenswürdiger Autor; „er ist nun seinerseits auf dem Wege, ein würdiger Doktor zu werden, der durch die Straßen eilt, um seine Kranken zu besuchen, Klistiere, Abführmittel und Aderlässe ohne Zahl verabreicht und immer voll Eifer ist, in der Universität zu streiten, während seine Frau nach alter Sitte sein Haus bewacht und sich damit unterhält, ihre Freundinnen zu besuchen und mit ihnen in die Messen und Predigten zu gehen. Später legen sie sich dann irgend ein kleines Landhäuschen bei Paris zu, wohin sie sich im Sommer das Vergnügen machen, mit den Freunden zur Weinlese

zu gehen. Dann kommen die Kinder an die Reihe; sie durchlaufen denselben Kreis, aber in andern Zeiten. Sie erleben dereinst den Tod des alten Königs und die Regierung Ludwig XV., des Vielgeliebten. Wenn sie Aerzte werden, was wahrscheinlich ist, machen sie auch große Kämpfe, große Streitigkeiten mit, in deren Verlauf sie nach dem Vorbild ihrer Vorfahren mit Leidenschaft das Ansehen und die Ehre der alten Fakultät verteidigen!"

Ueber die Entwicklung der Kunst im Leben des Kindes.

Di

Bon

Prof. Dr. E. Raehlmann (zurzeit in Weimar.)

ie darstellende Kunst kann definiert werden als die bildliche Wiedergabe der Dinge, die im Raume außer uns vorhanden sind. - Von einer Kunst im Leben des Kindes kann also erst die Rede sein, wenn das Kind den Raum und die Dinge in ihm kennen gelernt und ihre räumliche Beziehung zu einander genau verstanden hat.

Der Beginn jeder künstlerischen Aeußerung, sowohl der rezeptiven als der betätigenden, produktiven, seßt die Kenntnis der Raumvorstellung als gegeben

voraus.

Um also den Beginn einer kindlichen Kunst zeitlich nach dem Alter zu umgrenzen, und um zu wissen, wie und wann das Kind zuerst zur Kunst gelangt, müssen wir feststellen, wie sich seine Raumvorstellungen entwickeln, und wann sie umfangreich und fest genug sind, um künstlich, beziehungsweise künstlerisch reproduziert werden zu können.

die Bedeutung des Sehenlernens des neugebornen Kindes für die Entwicklung der Gefichtsvorstellungen.

Um der Frage nach der Entwicklung der Raumvorstellung beim Kinde näher zu treten, empfiehlt es sich, zunächst die Entstehung der Gesichtsvorstellungen überhaupt beim Kinde zu untersuchen und so die Frage vom Sehenlernen des Kindes gewissermaßen physiologisch und psychologisch zu analysieren.

Bekanntlich stehen sich in dieser Frage zwei Lehrmeinungen einander gegenüber; die eine, nativistische Anschauung sezt die Raumvorstellung, wie alle seelischen Eigenschaften, als angeboren voraus, nach der andern, der empiristischen Meinung, wird sie mühsam durch Erfahrung erworben.

Wenn wir die lebenden Wesen in der Natur bei ihrer Entstehung beobachten, so ist es zweifellos, daß viele von ihnen, namentlich die niederen Tiere, den

Raumbegriff voll entwickelt mit zur Welt bringen. Der Schmetterling fliegt, sobald er sich aus der Puppe entwickelt hat und seine Flügel sich mit Luft gefüllt haben, sicher umher und findet mit absoluter Sicherheit die Blume, auf der er sich niederläßt. Junge Hühnchen laufen gleich nach dem Auskriechen umher und picken die kleinsten Körner vom Boden auf, u. s. w. Anders ist es schon bei den höheren Tieren; sie werden um so weniger entwickelt geboren, je höher sie in der Tierreihe stehen. Am hilflosesten von allen aber ist der neugeborene Mensch, Homo sapiens, der von seinen späteren hochentwickelten geistigen Eigenschaften so gut wie gar nichts mit zur Welt bringt.

Das neugeborene Menschenkind zeigt nur vegetative Funktionen, die der Ernährung dienen. Seine Bewegungen entsprechen vegetativen Bedürfnissen oder sind unwillkürliche Reflexe, von der Haut oder den Sinnesorganen ausgelöft.

Eine Vorstellung von der eignen Person und ihrem Verhältnis zur Welt außer ihr, die Voraussetzung jeder Raumvorstellung, fehlt vollständig. Es läßt sich durch Beobachtung an neugeborenen Kindern feststellen, daß sie etwa um die fünfte Lebenswoche zuerst entsteht. Bis dahin sind alle Bewegungen des Kindes zwecklos; die der Augen nicht ausgenommen. Die Augen drehen sich nicht gesezmäßig, sondern atypisch. Eigentliche Blickbewegungen, die dem Zwecke des Sehens dienen, d. h. auf beiden Augen gleichmäßig (wie wir sagen: koordiniert) zu einander erfolgen, kommen nicht vor, und das Kind verhält sich mit offenen Augen wie pöllig blind. Und doch läßt sich zeigen, daß die Augen Lichtempfindung vermitteln. Befinden sich neugeborene Kinder im Dunkelzimmer, so kann man sich schon in den ersten Lebenstagen, leichter in der dritten bis vierten Woche, davon überzeugen, daß bei dem etwa ruhig liegenden Kinde Bewegungen auftreten, wenn plöglich geräuschlos das Zimmer erhellt wird. Das Licht bringt dann im Auge auf der Nezhaut einen Reiz hervor, der im Zentralorgan empfunden wird; aber ohne daß diese Empfindung zu irgend einer Vorstellung von der Ursache des Reizes in der Psyche Veranlassung gäbe.

Erst wenn der optische Lichtreiz so und so oft, und zwar in derselben Weise, wiedergekehrt ist, entwickelt sich die erste seelische Vorstellung von seiner Ursache: dem Lichte, d. H. den leuchtenden bezw. beleuchteten Körpern. Der erste Gegenstand unter diesen, den das Kind erkennen, d. h. als außer sich selbst befindlich auffassen lernt, ist wohl das Bild der Mutter. Das optische Bild der Mutter tam regelmäßig zur Geltung, wenn auch die übrigen Sinne die zum Bilde der Mutter gehörenden Sinneszeichen vermittelten. Das Kind hörte die Laute der Mutter, es bekam von ihr seine Nahrung, und auch der Gefühlssinn vermittelte bestimmte körperliche Beziehungen, die regelmäßig zum optischen Bilde der Mutter gehörten beim Wickeln, beim Baden u. s. w.

So entwickelte sich beim Kinde durch häufig wiederkehrende, gleichzeitige Einwirkung der Eindrücke verschiedener Sinnesgebiete, die mit dem optischen Bilde der Mutter gleichzeitig zur Geltung kamen, die erste Vorstellung von der Mutter als Person.

Ganz ebenso entstehen die psychologischen Begriffe andrer Dinge im Raume

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