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Rußlands innere Politik von 1861 bis 1863.

I.

Das Emancipationsgesetz vom 19. Februar 1861 bezeichnet einen

neuen Abschnitt in der Geschichte der russischen Monarchie. Datirt der Umschwung in den politischen Anschauungen der russischen Gesellschaft auch bis in die Tage des Krimmkrieges zurück, hatte die Regierung sich auch schon seit der Niedersehung des Hauptcomités für Reorganisation der bäuerlichen Verhältnisse zu einem Bruch mit dem alten System und zu einer Neugestaltung der wichtigsten Verwaltungszweige entschlossen, so begann die eigentlich reformatorische Thätigkeit derselben doch erst, als mit der Aufhebung der Leibeigenschaft die Schiffe des alten Militärabsolutismus verbrannt waren. Nachdem 25 Millionen leibeigener Bauern von der Willkühr ihrer Herren befreit waren, lag es nicht mehr in der Hand des Gouvernements, Tempo und Umfang der Reformen, an welche sie gedacht hatte, nach der eigenen Bequemlichkeit zu bestimmen; dasselbe war fortan an die Consequenzen des großen Schrittes gebunden, der am 19. Februar 1861 gethan worden, und dessen Tragweite sich zunächst noch nicht absehen ließ.

Aber noch in anderem Sinne bildet jenes Gesetz einen neuen Abschnitt in der russischen Entwickelung. Seit den Tagen Peters des Großen war die Einführung Rußlands in das europäische Staatensystem der Grundgedanke, ja fast der einzige Inhalt aller russischen Politik gewesen; die Erweiterung der Staatsgrenzen, welche während des achtzehnten Jahrhunderts angestrebt worden, Alexander's I. Versuche die europäische Civilisation in Rußland einzubürgern waren ausschließlich in den Dienst dieses Gedankens gestellt, bloße Mittel zu diesem Zweck gewesen. Im Gegensaz dazu sah die Aufhebung der Leibeigenschaft es auf die Erfüllung eines spezifisch russischen Bedürfnisses ab, bildete sie den Ausgangspunkt einer weitschichtigen legislativen Arbeit, welche es bloß mit den Interessen des Volks zu thun hatte, dessen Kräfte bisher nur der Staats- und Regierungszwecke wegen dagewesen zu sein schienen. Es versteht sich von selbst, daß damit Gedanken an die Erhöhung russischen Einflusses im AusPreußische Jahrbücher. Bd. XXIV. Heft 2.

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lande und russischer Widerstands- und Wehrkraft keineswegs ausgeschlossen waren; sie standen aber erst in der zweiten Reihe „la Russie pour les Russes" war das Motto dessen, was zunächst geschah. Dazu kommt noch, daß der ländliche oder bäuerliche Charakter des russischen Volkslebens und das in diesem wurzelnde Institut des ungetheilten Communalbesiges durch die Aufhebung der Leibeigenschaft so energisch in den Vordergrund gestellt wurden, daß sie fortan alle übrigen socialen und politischen Gebiete, ja alle Interessen beherrschten. Weil das Bauernthum allein von den Einflüssen westeuropäischer Civilisation unberührt geblieben war, bedeutete seine Freilassung zugleich eine Kräftigung der nationalen Idee, die von der panslawistischen Richtung sofort in tendenziösester Weise geltend gemacht und unermüdlich ausgebeutet wurde. Auf allen übrigen Reformgebieten ließ man der Regierung relativ freie Hand, die Neugestaltung der ländlichen Verhältnisse war dagegen eine Volkssache, in der die gebildeten Klassen sich das Recht mitzusprechen nicht nehmen ließen sie bildete, namentlich seit dem polnischen Aufstande, den Mittelpunkt aller Parteibestrebungen, der Hauptinhalt aller politischen Gedanken in Rußland. Der Wunsch, dem Staat mit Hülfe des national gebliebenen und jetzt frei gewordenen Bauernthums ein spezifisch russisches Gepräge zu geben, spielt in dem modernen Rußland genau dieselbe Rolle, welche der Kampf um eine dominirende Stellung im europäischen Staatensystem unter Peter, Catharina II. u. s. w. einnahm. Ihre Wünsche für Begründung eines Rechtsstaates, wahre Freiheit der Presse, Theilnahme des Volks an der Regierung, Verbreitung von Bildung und Unterricht in allen Klassen der Gesellschaft u. s. w. haben die Russen nach den ersten, ihnen entgegen= stehenden Schwierigkeiten wieder aufgegeben oder vertagt, der Gedanke, die Bauernemancipation bis in ihre letzten Consequenzen durchzuführen, mit ihrer Hülfe alle fremden Einflüsse an den Grenzen und im Herzen der Monarchie zu brechen und ein streng nationales System zu begründen, ist am Leben geblieben und wenigstens zum guten Theil in die Wirklichkeit übersetzt worden.

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Der Inhalt des Emancipationsgesetzes vom 19. Februar 1861 ist in dieser Zeitschrift so wiederholt und so eingehend erörtert worden, daß wir uns mit ihm an dieser Stelle nicht weiter zu beschäftigen haben von seinem Entwickelungsgange ist so gut wie Nichts bekannt und dem Zeitgenossen, der sich an die Geschichte dieses Gesezes wagen wollte, stehen Schwierigkeiten der verschiedensten Art, zum Theil unüberwindliche entgegen. Die officiellen Berichte über den Gang der betreffenden Arbeiten halten sich nur an das Formale derselben, d. h. sie erzählen uns, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Comités, Commissionen und Delegationen zu Rathe gezogen wor

den und in welcher Weise der Stoff von denselben getheilt wurde. Was weiter bekannt geworden, beruht auf abgerissenen, nichts weniger als zuverlässigen Mittheilungen einzelner betheiligter Personen, die Alexander Herzen im Kolokol veröffentlichte, und auf Conjekturen und Kanzelei-Klatschereien noch zweifelhafterer Art. Wichtiger und brauchbarer als diese in verschiedenen Zeitschriften verstreuten Notizen sind die zu London in russischer Sprache herausgegebenen Materialien zur Geschichte der Arbeiten des mit der Emancipationsangelegenheit betrauten Hauptcomités, welche ziemlich allgemein dem Geheimrath Miljutin (dem nachmaligen Staatssekretär für Polen und geistigen Urheber der Agrargefeße für dieses Königreich, die litthauischen und die weißrussischen Länder) zugeschrieben werden. Dieser schon am Ausgang der funfziger Jahre sehr einflußreiche Staatsmann repräsentirte innerhalb des zur Ausarbeitung der Poloshenie niedergesezten Comités die Anschauungen der radikalen Partei, welche unter vollkommener Gleichgültigkeit gegen die Interessen des Adels die Förderung des bäuerlichen Vortheils, womöglich die unentgeldliche Abtretung des Grund und Bodens rücksichtlos verfolgte. Die erwähnte Londoner Publikation enthält der Hauptsache nach die in der Minorität gebliebenen Anträge dieser Partei und ist eine als Parteischrift anzusehende Apologie derselben; als Vorzug muß ihr übrigens nachgerühmt werden, daß sie die einzelnen Fragen mit vieler Klarheit und logischer Schärfe behandelt und aus diesem Grunde die officielle Darstellung beträchtlich überragt. Diese lettere wurde in französischer Sprache durch das Journal de St. Petersburg veröffentlicht und ist wenn wir nicht irren später in einem Separatabdruck als Brochüre herausgegeben worden.*)

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Es ist oben bereits angedeutet worden, daß der Kaiser Nikolaus wiederholt an die Aufhebung der Leibeigenschaft gedacht und vorbereitende Schritte zum Behuf derselben gethan hat. Diese Maßregel stand, wie die Codificirung des russischen Rechts, bereits seit der Regierung Catharina's II. auf der officiellen Tagesordnung; aber weder diese Monarchin noch ihr Enkel Alexander I. hatten im Drang kriegerischer Schwierigkeiten zu einem entscheidenden Entschluß kommen und die Sache auch nur in *) Die einzige deutsche Publikation über das Emancipationsgesetz, welche die Sache zusammenhängend und mit gewiffer Gründlichkeit behandelt, ist des Freiherrn v. Harthausen,„, Ländliche Verfassung_Rußlands“ (Leipzig bei F. A. Brockhaus 1866). Dieses Buch ist aber so schwerfällig, confus und unpraktisch geschrieben, daß es nur sehr schwer zu benußen ist. Dazu kommt, daß der Verf. leidenschaftlicher Verehrer des russischen Communalbesitzes ist, und daß seine Urtheile demgemäß nur die Präsumtion des Gegentheils für sich haben. Die in diesem Buch verheißene ausführliche russische Darstellung der russischen Agrargesetzgebung und ihrer Geschichte von Dr. Skrebizky, dem Collaborator Harthausen's, ist leider noch nicht erschienen und wird, da sie auf fünf Bände angelegt ist, wahrscheinlich noch einige Zeit lang auf sich warten lassen.

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