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Majoritäten erzielte, wo die Präfektur neutral blieb, ist ein Beweis der Einstimmigkeit der öffentlichen Meinung und des relativen Fortschrittes politischer Gesinnung. Mit etwas mehr Muth und etwas weniger Kirchthurmehrgeiz wäre der Sieg gewiß gewesen; aber wer hat nicht ein kleines persönliches oder verwandtschaftliches Interesse auf's Spiel zu setzen? Wer verschmäht hier zu Lande ein Titelchen oder gar ein Bändchen?

Warum aber blieb die Regierung nicht überall neutral, da sie nur, zwar liberale, aber doch der Dynastie ganz ergebene Candidaten vor sich sah? Ja, da liegt das Unbegreifliche, das einem Fremden Unbegreifliche und doch so leicht zu Fassende. Lassen Sie mich die Sache in ihrer ganzen Brutalität sagen: Herr Rouher hat den Kaiser, die Dynastie, das Land, ohne nur einen Augenblick zu zögern, seinem persönlichen Interesse geopfert; und der Kaiser war schwach genug ihn gewähren zu lassen. Es kann für keinen ruhigen Beebachter eine Frage sein, daß, wenn die Präfekturen und Bürgermeistereien neutral geblieben wären, die dynastisch-liberale Partei in 250 von 300 Wahlbezirken den Sieg davon getragen hätte, daß die absolutistische Rechte gar nicht, die radikale Linke nur, wie jetzt, mit 40 bis 50 Stimmen vertreten worden wäre und daß diese Stimmen, trotz ihrer Beredsamkeit und ihrer Leidenschaft vor der wahren Stimme. der Nation hätten verstuminen müssen. Die Folge einer solchen freien Wahl wäre einfach gewesen: der Kaiser hätte nothwendig Herrn Rouher müssen fallen lassen; denn in Frankreich ist's doch noch nicht möglich, wie in unserm politisch noch so jungen Deutschland, ein Ministerium am Ruder zu halten, das in den Kammern die Majerität nicht hätte er hätte ein konservativ-liberales Ministerium mit gemäßigt katholischer Färbung - etwa Buffet-Talhouët - berufen müssen. Damit war der Kontrakt seiner Dynastie mit Frankreich auf zwanzig Jahre, auf länger hinaus erneuert, seinem Sohne der Thron, dem Lande die ersehnte Ruhe gesichert und zugleich die allgemein verlangte Ministerverantwortlichkeit de facto eingeführt, ohne daß es dem Stolze des Souveräns irgend wie gekostet hätte. Denn aufgeklärt genug ist die Nation, keinen förmlichen Paragraphen zu verlangen, der jene Verantwortlichkeit in der Konstitution konstatirt; und es ist ihr sicher nicht darum zu thun, den Kaiser persönlich zu demüthigen, indem sie ihm ein förmliches Dementi seines vielberufenen persönlichen Princips der Selbstverantwortlichkeit aufzwänge. Allein es war zu Ende mit der Herrschaft des maire du palais; er war flug genug, es voraus zu sehen, und da man ihn gewähren ließ, so benutte er seine Macht alle unabhängigen Kandidaten bis auf's Aeußerste zu bekämpfen und im Nothfalle die radikalen Unversöhnlichen gegen die dynastisch Liberalen zu unterstützen wie in Rouen Dessaulx gegen Pouher Quertier.

Dank seinen Präfekten, Unterpräfekten, Bürgermeistern und Flurschüßen, Dank den Einschüchterungen und den Versprechungen, brachte er es denn auch dahin, solche Kandidaten in Mehrheit durchzusetzen, die ihm überall folgen werden, wohin seine Befehle sie kommandiren: 200 Deputirte, die zu Allem Ja sagen werden, zum Kriege wie zum Frieden, zum Schutzoll wie zum Freihandel, zur Beseßung wie zur Räumung Roms, zur Heiligsprechung wie zur Verurtheilung Haußmann's, erscheinen den 28. Juni im Palais Bourbon, neben 40 Vertretern des souveränen Volks der großen Städte, ebenso fest entschlossen Nein zu sagen zu Allem und Jedem was von oben kommt. 60 Abgeordnete, die sich die Freiheit ihres Urtheils und ihrer Abstimmung bewahrt, die die bestehende Ordnung der Dinge aufrecht erhalten wollen, aber Garantien verlangen für wirksame Kontrole und Ueberwachung, 60 Abgeordnete, die weder Ideal- noch Bedientenpolitik, sondern praktische Mannespolitik treiben wollen, werden allein die wahre Meinung des Volkes vertreten, und wir sind, Dank der Feigheit der gebildeten Klasse, der unbegreiflichen Blindheit des Kaisers, dem nur zu begreiflichen Egoismus von Herrn Rouher, wieder im verhängnißvollen Widerspruche des sogenannten pays légal mit dem wahren Lande; d. h. in der Lüge, der Fiktion, die Frankreich im Jahr 1847 in's Unglück gestürzt und seitdem verschwunden war: denn, was man auch sagen mag, um die Schuld vom Lande ab und auf den Kaiser zu wälzen, die drei servilen Majoritäten von 1852, 1859 und 1863, waren der wahre Ausdruck der Volksstimmung; die von 1869 ist eine Unwahrheit und repräsentirt Nichts als Herrn Rouher und sein Beamtenheer. Ein Räthsel wird's immer bleiben, ein Räthsel, das ich nicht unternehmen will zu lösen, was die Motive des Kaisers gewesen, seinem Großwessir solche Freiheit zu gestatten: War's Indolenz? war's Ueberzeugung von der Unentbehrlichkeit des Mannes! hat der Kaiser wirklich die Witterung der öffentlichen Meinung soweit verloren, daß er noch an die Existenz der „alten Parteien“ im Lande glaubt, für das die Orleans und Bourbons mythologische Namen sind? Es wäre ein ganzes Kapitel zu schreiben über des merkwürdigen Mannes Verhält= niß zur öffentlichen Meinung: vielleicht schreib' ich's Ihnen ein andermal: für heute berichte ich nur die Thatsachen.

Traurige Thatsachen! Denn so günstig die Dinge lagen vor vier Wochen, so gründlich verfahren sind sie jezt. Niemand sieht ab, wie man aus dieser Sackgasse noch je herauskommen soll, und es bemächtigt sich aller Denkenden entweder ein Gefühl patriotischer Verzweiflung oder bitterer Fronie. Was jett? fragt sich ein Jeder; und ein Jeder antwortet mit dem Worte Montaigne's, des großen Zweiflers: que sçais-je? Wie wäre auch umzubiegen? selbst das äußerste, undenkbare Mittel, die

Kammer sogleich aufzulösen und neue, freie Wahlen auszuschreiben, käme zu spät. Verläßt Herr Rouher heute die Geschäfte, wie man sagt, wie ich es aber nicht glaube; denn er wird jede Chimäre des Kaisers zur seinigen machen, ehe er sein Palais im Louvre verläßt, ruft der Kaiser ein konservativ-liberales Ministerium an's Ruder, so ist dieses eben nicht mehr Organ der parlamentarischen Majorität, sondern einer Minorität, und mehr als je wird die Theilnahme des gesetzgebenden Körpers eine Fiktion. Liberale Zugeständnisse, ohne liberale Männer sie auszuführen, werden Niemanden Vertrauen einflößen. Und welche Concessionen? Frankreich hat mehr Versammlungsrecht als es braucht, verträgt und wünscht: in echt-französisch-revolutionärer Weise hat der Kaiser ein theoretisches, abstraktes Gesetz oktrohirt, das keine Volkssitte nothwendig machte, wie in England und Deutschland. Die Preßfreiheit ist so groß wie sie sein kann und kaum beschränkter als in Belgien oder Italien; die wirk lich nügliche Presse, die Lokalpresse, welche die Regierungsbeamten an Ort und Stelle kontrolirt, denkt das französische Volk nicht sich zu geben, obschon es seit einem Jahre alle Mittel dazu hat: ihm ist's nur um die Rhetorik der Pariser Blätter zu thun. Ausdehnung der Privilegien des gesetzgebenden Körpers; was hülfe die mit einer Majorität, die kein Interesse, keine Idee, keine Leidenschaft, die Nichts vertritt als eine Person, Herrn Rouher, und die von keinem Privileg Gebrauch machen würde? Vielleicht gäbe man so den Schreiern der Linken ein wenig mehr Gelegenheit zur Phrase und sie hat deren schon zu viel -; aber dann? Abschaffung des Artikels, der die gerichtliche Verfolgung der Beamten verbietet? Ge= wiß eine solche Concession würde dankbar aufgenommen werden; aber würde sie genügen? Wahl der Bürgermeister. Schön, aber alles Ernstes, entwaffnet das eine erbitterte Nation, der man 200 Deputirte von oben herab ernannt hat? denn unter solchen Umständen ist von einer Wahl nicht mehr die Rede. Bleibt eben die Freiheit der Wahlen. Gewiß, gewiß, unfehlbar, aber leider zu spät.

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Wenn aber liberale Zugeständnisse unmöglich sind, was bleibt übrig? Krieg oder Revolution. Diese halte ich für unausführbar. So entschieden auch die Kleinbürger, Studenten und Arbeiter der großen Städte gegen das Kaiserreich gestimmt sind, die Gebildeten, selbst in den Großstädten und soviele deren auch durch die Wahltaktik in die Opposition quand même geworfen worden sind, die Gebildeten wollen auch jetzt noch die Erhaltung des Bestehenden; und die Reaktion der Provinz gegen Paris würde unaufhaltsam sein. Man ist aufgebracht in ganz Frankreich gegen den Uebermuth des Pariser Wählers, der sich noch gemäßigt und politisch glaubt, weil er nicht gerade seine politischen Possen und Schabernacks bis zum

Wahnsinn getrieben. Interesse und Schamgefühl würden das Uebrige dazu thun, die Bewegung unwiderstehlich zu machen. Jeder Gebildete in Frankreich fühlt, daß eine Revolution nicht allein ein unberechenbares, momentanes Unglück wäre, sondern auch auf immer das Land der Militärreaktion à l'espagnole Preis geben würde. Ernest Renan's traurige Prophezeiungen über Frankreichs Zukunft unter Säbel und Krummstab werden von Hunderten der feinsten Köpfe nicht nach- sondern mitgesprochen: sie sind so zu sagen in der Luft. Besser noch der Zwitterzustand, den die Nation in diesem Augenblick ertragen muß, als die Unvermeidlichkeit jener Perspektive.

Bleibt der Krieg; und warum nicht? Im Augenblicke ist die Nation sehr friedfertig gestimmt; allein es würde ein Monat genügen sie aufzuregen. Dank der Taktik der Radikalen, welche die Wiedergeburt Deutschlands als eine Erniedrigung Frankreichs darzustellen nicht müde geworden sind, schlummert der Haß gegen unser Vaterland nur und es wäre ein Leichtes, ihn zu hellen Flammen anzufachen. Und dann? Ja dann; ein guter Gott wird uns schüßen, uns und unser gutes Recht, und

,,es werden noch stets die entschlossenen Völker gepriesen,

die für Gott und Geseß, für Eltern, Weiber und Kinder

stritten."

Deutschland kann aus dem schweren Kampfe nur, wenn auch spät, kräftiger und größer hervorgehen; aber für Frankreich, für Europa, das Frankreichs bedarf, wird dieser Krieg namenloses Unheil bereiten; und dieser Strieg wird kommen, früher oder später. Die Niederlage der Liberalen, der Triumph der Absolutisten und Radikalen kann ihn nur beschleunigen: hatte ich Recht zu sagen, dieser Augenblick sei der wichtigste gewesen für Frankreich seit 1789 und daß Frankreich die Probe schlecht bestanden? Paris, den 14. Juni 1869.

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Politische Correspondenz.

Berlin, Anfang Juli.

Mit dem 22. Juni sind wir endlich in die sehnlich herbeigewünschte parlamentslose Zeit getreten. Die Abgeordneten sind in ihre Heimath geeilt, nachdem der größere Theil von ihnen fast acht Monate den Privatgeschäften und der Familie entzogen war. Der Bundesrath feiert und die preußischen Ministerialbeamten haben wieder Zeit in ihren Büreaux zu arbeiten. Die Pause dauert nur wenige Monate, dann wird der abgerissene Faden am Dönhefsplat wieder angeknüpft. Der äußere Umfang unseres parlamentarischen Lebens droht uns zu erdrücken; er fordert einen Berufsstand von Politikern, eine reiche Zahl social unabhängiger Männer, deren Verhältnisse es zulassen, den größten Theil des Jahres in der Hauptstadt zu leben. Einen solchen Stand haben wir noch nicht, die ökonomische Entwickelung unseres Volks ist noch zu jung, es fehlt allen Parteien an der rechten Auswahl der Kräfte. Selbst unsere grundbesigende Aristokratie trägt die Opfer kaum leichter als die bürgerlichen Kreise, weil sie persönlich Landwirthschaft und Gewerbe treibt und meist treiben muß, um zu existiren. Wir bedürfen auf das dringendste einer Abkürzung unserer parlamentarischen Sessionen, die wieder nur durch eine Reform der preußischen Verfassung, durch engere Verbindung von Reichstag und Abgeordnetenhaus erzielt werden. kann. In der heutigen unorganischen Gestalt kann die Schöpfung von 1866 nicht bleiben, oder wir enden wirklich in der allgemeinen Ermüdung und Erschlaffung, die von mißtrauischen Gemüthern ja längst als der stille Zweck dieser Anhäufung vieler Parlamente vorausgesagt ist.

Zu der unmäßigen Dauer der parlamentarischen Arbeitszeit kommt noch die Masse des Stoffs und die Haft der Arbeit. Der Reichstag hat, wenn man die Sonntage und die Pausen während des Oster- und Pfingstfestes abrechnet, an allen Tagen, mit Ausnahme von zweien, Plenarsizungen gehalten. Nun ist die Beschlußfähigkeit des Hauses an die Hälfte der Mitglieder gebunden; von jedem nicht beurlaubten Mitglied wird erwartet, daß es in den Sigungen erscheine, und so reicht die durch das Plenum, die Commissions- und Fraktionsberathungen in Anspruch genommene Kraft kaum aus, um sich oberflächlich mit den wichtigsten Vorlagen vertraut zu machen. Ein eingehendes Studium der vorliegenden Fragen ist unmöglich; der Abgeordnete verbraucht, was er an Sachkenntniß in sich hat; an eine Vermehrung seiner Kenntnisse ist nicht zu denken, wenn man nicht mißbräuchlich die Fähigkeit so nennen will, rasch die Hauptgesichtspunkte einer Frage aufzugreifen und nach der allgemeinen Richtung der Partei ein Urtheil zu formuliren. Unsere Parlamente bedürfen einer schärferen Arbeitstheilung und um diese vorzubereiten, einer Herabsetzung der beschlußfähigen Stimmenzahl. Nur so können sich für die einzelnen Zweige des Staatslebens Specialitäten heranbilden. Heute kommen uns diese mehr und mehr abhanden, und an ihre Stelle tritt eine allgemeine Redefertigkeit, die Gefahr

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