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hervorklang. Keller konnte sich durch beides nur zu weiterer immer tiefer dringender Beschäftigung mit der Partei Dencks und ihrer Geschichte veranlaßt sehen.

Als erste Frucht dieser Studien erschien im Historischen Taschenbuche für 1885 der Aufsay: Johann von Staupik und das Waldensertum. Derselbe beschäftigt sich eingehend mit den Thatsachen, daß der alte Freund und Förderer Luthers in seinen lezten Lebensjahren seit 1521 sich mehr und mehr von dem lezteren zurückzog, ja in seiner Schrift von dem heiligen rechten christlichen Glauben ihm geradezu entgegentrat und daß er dennoch von der römischen Kirche nicht als ihr Angehöriger, sondern als Häretiker angesehen wurde und wird. Diese Thatsachen weiß Keller dahin zu erklären, daß Staupiß einer religiösen Richtung angehört habe, die zwischen den beiden herrschenden Kirchen stand, eben derjenigen, die in ausgeprägter Gemeindeform in Dend ein hervorragendes Haupt erhielt. Im Zusammenhange damit wird auch der kunstgeschichtlich bedeutsame Kreis humanistisch gerichteter Männer Nürnbergs, welchem Dürer, die Tucher, Holzschuher und andere angehörten und in welchem Staupig bei seinen Besuchen in der Metropole der Kunst und Litteratur eine erste Stelle einzunehmen pflegte, zu jener religiösen Richtung in Beziehung gesezt alles aber mit einer Zurückhaltung und Vorsicht namentlich in der Formulierung der Ergebnisse, welche die heftigen Angriffe, die gerade dieser Aufsaß erfahren hat, als doppelt ungerechtfertigt erscheinen läßt.

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Im selben Jahre mit der Abhandlung über Staupiß erschien das Hauptwerk Kellers auf diesem Gebiete: Die Reformation und die älte= ren Reformationsparteien. In ihrem Zusammenhange dargestellt. (Leipzig, S. Hirzel, 1885.) Das Eigentümliche des Buches liegt schon in dem Zusaße zum Titel angedeutet: den inneren Zusammenhang der älteren Reformparteien der Waldenser, Gottesfreunde, Mystiker von der Richtung Eckarts und Taulers, Begharden, Böhmischen Brüder, Taufgesinnten und unter welchem Namen sonst altevangelische Bestrebungen im Laufe der lezten drei Jahrhunderte vor der Reformation auftauchen mögen unter sich und mit den Bauhütten einerseits, den Rosenkreuzern und Freimaurern anderseits nachzuweisen, das ist das Ziel des Buches, und eine gewaltige Arbeitskraft, eine großartige Kombinationsgabe sind an dieses Ziel gewandt. Von der Fülle des verarbeiteten Materials läßt sich auch nicht annähernd eine Vorstellung geben, man müßte denn die Inhaltsangaben der zwanzig Kapitel, in welche das Buch zerfällt, abdrucken. Bedenkt man aber, nach wie

vielen Seiten hin sich die Untersuchungen erstrecken mußten, wie dunkel und verdunkelt naturgemäß diese ganze „Keßergeschichte“ ferner Jahrhunderte in Akten, Briefen und Traktaten vergraben lag, so tief, daß auf einzelne Partien hier zum erstenmal ein Lichtstrahl fällt so kann man dem unermüdlichen Forscher den Zoll aufrichtiger Anerkennung nicht versagen, auch wenn man in noch so vielen Einzelheiten, wenn man selbst in sehr wesentlichen Punkten seine Resultate nicht zu unterschreiben vermag. Es sei uns gestattet, einige dieser Punkte, soweit es hier thunlich erscheint, kurz zu berühren. Bei den handgreiflichen Schäden der römischen Kirche in den lezten Jahrhunderten des Mittelalters war nichts natürlicher, als daß wieder und wieder wahrhaft gemütsfromme Menschen sich zu den ältesten und reinsten Quellen des Christentums zurückwandten; sie mußten dabei auf die eigene Lehre Christi, wie sie zumal in den Evangelien überliefert ist, das Hauptgewicht legen, dem Alten Testamente aber, auf dessen Analogien sich wesentlich das hierarchische Gebäude der Kirche stüßte, nur einen sekundären Wert beimessen. Infolge dieser notwendigen Beschränkung mußten sie auch eine von weltlichen Rücksichten beeinflußte ge= zwungene Auslegung von Christi Worten verwerfen, sie durften nicht schwören, sie hießen und waren „Brüder“, „Christen“ im prägnanten Sinne, sie mußten in erhöhtem Maße die Werke der christlichen Liebe pflegen und dergleichen mehr: alle diese Züge ergeben sich mit Notwendigkeit aus dem Wesen jeder rein auf religiösen Bedürfnissen gegründeten Opposition zur römischen Kirche und sind somit keine Beweise für eine direkte, ununterbrochene Überlieferung evangelischer Lehrsäße und Lebensregeln unter den,,Sekten“ wohl gar von altchristlicher Zeit her. Weiter lag es aber im Interesse der herrschenden Kirche, jede derartige irgendwo neuauftretende Bewegung als das Wiedererwachen einer bereits früher verdammten speciellen Keßerei zu bezeichnen, um indicta causa die Verfolgung zu eröffnen, wie es andererseits wieder im Interesse dieser Bewegungen lag, wo sie irgend in der Vergangenheit Vertreter ähnlicher Gedanken fanden, diese als ihre Ahnen und Stüßen in Anspruch zu nehmen, ihre Schriften von neuem zu verbreiten, um so dem Vorwurfe einer neumodischen und subjektiven Auffassung der christlichen Lehre zu entgehen. Auch diese Umstände dürfen also nicht wohl als Beweise für einen vorausgeseßten Zusammenhang der altevangelischen Bestrebungen verwandt werden. Neben solchen naturgemäßen Übereinstimmungen trifft man ferner hier und da schroffe Gegensäße in mehr willkürlichen Dingen: es wird uns schwer, ja unmöglich, an

ein engeres Band zwischen den Straßburger Gottesfreunden und den Bauhütten zu glauben, wenn die ersteren, in dieser „specifischen Eigentümlichkeit" mit den Waldensern übereinstimmend, gegen steingewölbte Kirchen einen entschiedenen Widerwillen zeigten und sich über dieselben auf das geringschäßigste äußerten, die Bauhütten aber wenn nicht ihre Existenz, so doch ihre Blüte eben diesen ,,Steinhäusern“ verdankten. Auch in seinen Folgerungen im Einzelnen geht Keller öfter zu weit, so läßt sich z. B. aus dem Sprachmaterial der Ergebenheitsadresse, welche eine Reihe oberdeutscher Städte an den widerpäpstlichen Kaiser Ludwig den Bayer richtete, noch nicht auf die Zugehörigkeit ihres Verfassers zur Bauhütte oder auch nur zum Baugewerke schließen. Richtig ist, daß derselbe astronomische Kenntnisse besißen mußte, um den Vergleich der beiden christlichen Obermächte mit Sonne und Mond so durchführen zu können, wie er es gethan hat: aber diese Kenntnisse besaß jeder leidliche Schüler des Quadrivium. Richtig ist ferner, daß Ausdrücke, wie fabricator mundi, machina sæculi, dispositor und ähnliche mehr bautechnisch anklingen, aber einmal war das bei der schulmäßigen Durchführung des Bildes vom Himmelsgewölbe kaum zu vermeiden, sodann kommen alle jene Ausdrücke, auf welche Keller ein besonderes Gewicht legt, ausnahmslos schon im klassischen Latein in demselben übertragenen Gebrauch vom Weltbauherrn und Weltgerüste (machina mundi) vor und sind in eben dieser Bedeutung schon von früheren Kirchenschriftstellern nachgebraucht.

Doch mehr solcher Specialitäten könnten den Leser ermüden und schließlich wohl gar den Eindruck hervorrufen, als sollten damit Kellers Aufstellungen über die Reformparteien im Mittelalter überhaupt abgelehnt werden. Nichts läge uns ferner: so wenig uns seine Gründe genügen, um eine Art von ununterbrochener Tradition der altevangelischen Ideen von frühchristlicher Zeit bis zur Reformation glaublich zu machen, so vieles, der Natur des Gegenstandes entsprechend, bis auf weiteres nur den Wert einer geistreichen Hypothese hat

ebenso unumstößlich erscheinen uns die Beweise dafür, daß jene vielnamigen „Keßer“ sich vielfach untereinander berührt und beeinflußt haben, daß sie im wesentlichen einer Richtung angehörten, die sich als eine altevangelische bezeichnen läßt, daß die abenteuerlichen und greuelhaften Dinge, welche die Kezerhistorie den meisten von ihnen anhängt, durchweg böswillige Erfindungen sind — nebenher bemerkt sehen sie dem, was heidnischer Aberglaube den Christen der ersten Jahrhunderte nachsagte, so ähnlich, als wären sie aus Minucius Felix oder irgend einem anderen Apologeten abgeschrieben und endlich, daß diese

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sogenannten Kezer zumeist den Frömmsten und Besten ihrer Zeit zugezählt werden müssen.

In der zweiten Hälfte des Werkes behandelt Keller die Geschichte der Gemeinden während der Reformation. Auch hier sind Beziehungen aufgespürt und dargelegt, an die in diesem Sinne niemand gedacht: auf die Humanistenkreise von Basel und Nürnberg, auf die Wandlungen, welche ein großer Teil der deutschen Reformfreunde in ihrer Stellung zu Luthers Werken durchmachten, auf die Anfänge der großen Täuferbewegung, ihre Entwickelung und Verkümmerung fällt neues Licht, viel Verborgenes und Vergessenes wird an den Tag gezogen, darunter manches, vor dem auch der lutherische Leser sein Auge am liebsten verschließen möchte: die zahllosen Martyrien der Taufgesinnten,,des Glaubens halber“ auch in Landen, welche der Reformation anhingen, das placet mihi Luthero unter dem Gutachten der wittenbergischen Theologen, auf Grund dessen der Kurfürst von Sachsen gegen die „gewißlich vom Teufel“ stammende Sekte mit Leibes- und Lebensstrafen einschritt solche Dinge berühren empfindlich. 'Angesichts derselben versteht man auch und verzeiht, daß Keller Luther nicht gerecht geworden ist; denn das muß einmal auch hier ausgesprochen werden: Dencks weiche Güte, sein sublimiertes Christentum an Stelle Luthers und dessen starrer Position - und der Protestantismus führte vielleicht heute wieder ein Sektendasein ähnlich dem der evangelischen Gemeinden vor fünfhundert Jahren.

Nur skizziert wird die Katastrophe der Wiedertäufer in Münster, welchen Keller, wie bereits erwähnt, schon früher ein eigenes Buch gewidmet hatte, ebenso im leßten Kapitel die Fortbildung der altevangelischen Ideen in der Folgezeit und ihr Einfluß auf die geistigen Strömungen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, auf Rosenkreuzer und Freimaurer einer-, auf Lessing und Kant andererseits. Was hier gegeben wird, sind anregende und darum dankenswerte Andeutungen, doch bedarf gerade dieser Teil der Kellerschen Aufstellungen, ehe man sich ein Urteil darüber bilden kann, noch einer gründlichen Ausgestaltung.

Eine solche hat Keller seither einer anderen Frage, die er ebenfalls zuerst angerührt hatte, zu teil werden lassen in seinem jüngsten Buche: Die Waldenser und die deutschen Bibelübersekungen. Nebst Beiträgen zur Geschichte der Reformation. (Leipzig, S. Hirzel, 1886.) Den Kern desselben bilden Untersuchungen über die Herkunft einer mittelhochdeutschen Überseßung des Neuen Testamentes, welche Klimesch 1884 aus einer in dem böhmischen Kloster Tepl (daher codex Teplensis) aufbewahrten Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts ver

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öffentlicht hatte, sowie über ihre Beziehungen zur Bibelübersehung Luthers. Keller war der erste gewesen, der in seinem Werke über die Reformparteien darauf hingewiesen hatte, daß man es hier wahrscheinlich mit einer Waldenserarbeit zu thun habe. Diesem Fingerzeige waren andere nachgegangen, und binnen Jahresfrist hatte sich bereits eine ganze Litteratur für und wider diese Ansicht gebildet. Die Wichtigkeit der Frage leuchtet ein, wenn man erfährt, daß sämtliche deutsche Bibeldrucke vor Luther es sind ihrer dreizehn und zum mindesten eine ganze Reihe der weit zahlreicheren Teil-Ausgaben namentlich der Evangelien gerade diese Tepler Verdeutschung zur Grundlage haben, obwohl außer ihr noch heute eine große Zahl handschriftlicher Übersehungen der heiligen Schriften, aus den leßten Jahrhunderten vor der Reformation stam mend, in unseren Bibliotheken vorhanden sind. Woher die Bevorzugung gerade dieser einen Version? Kellers Antwort lautet kurz formuliert: Weil sie die recipierte deutsche Bibel der altevangelischen Gemeinden war. Er geht davon aus, daß die katholische Kirche stets gegen die Benußung der Bibel in den Landessprachen gewesen sei und solche bis zur Reformation durch weltliche und geistliche Autoritäten habe verbieten lassen, daß dagegen die Verbreitung der Evangelien und Episteln in den Landessprachen stets als ein wesent licher Zug der Waldenser und verwandter Richtungen von ihren Gegnern hervorgehoben werde. Danach dürfe man von vornherein auf kezerischen Ursprung und Gebrauch einer Übersezung schließen, die nachweislich schon vor der Erfindung der Buchdruckerkunst in Abschriften, seit 1470 aber in zahlreichen Drucken verbreitet worden. Nun sei es aber weiter eine auffällige Thatsache, daß Luthers Überseßung in einer Reihe wesentlicher Stellen mit dem Tepler Texte übereinstimme, und daß gerade diese Übereinstimmungen einem katholischen Gegner Luthers, Hieronymus Emser dem ersten, der mit fürstlicher und bischöflicher Approbation eine deutsche Bibel drucken ließ Anlaß zu dem Vorwurfe gegeben habe, Luther habe bei seiner Arbeit ein „hussisches Exemplar" benut, in welchem was den Glauben und die heiligen Sakramente antrifft, mit Fleiß verkehrt oder gar ausgelassen worden ist“. — Unsererseits auf diese Fragen einzu

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gehen* oder die weiteren Beweisstücke, mit denen Keller den waldensischen Ursprung des codex Teplensis und den Einfluß dieser Dolmetschung auf die Luthersche darzuthun versucht, sowie die zahlreichen, wertvollen Nachträge zur Geschichte der Reformparteien auch nur kurz zu verzeichnen, müssen wir uns mit Rücksicht auf den Raum versagen und dürfen es, denn unser Aufsatz hat nur den Zweck, weitere Kreise auf die Kellerschen Bücher aufmerksam zu machen und das Studium derselben zu empfehlen. Nur ein paar Worte noch zum ersten Kapitel. Dasselbe enthält eine im wesentlichen wohlgelungene Abwehr der Angriffe, welche Kellers frühere Arbeiten von seiten einiger theolo= gischer Fachmänner erfahren haben. So ruhig diese Abwehr durchweg gehalten ist, fühlt man doch heraus, wie tief der Ton der gegnerischen Polemik den Verfasser verwundet hat; und in der That ist es bedauerlich, einen Mann, dessen wissenschaftliche Befähigung und Bedeutung keinem Zweifel unterliegen kann, der bei aller Kühnheit der Kombination doch im Geltendmachen des schließlich Erwiesenen sich stets maßvoll zu bescheiden weiß, der endlich, mag er auch mit seiner ganzen Persönlichkeit mehr als andere wissenschaftliche Forscher innerhalb der von ihm vertretenen Anschauungen stehen, doch überall redlich zu Werke geht und schon durch seine Stellungnahme einen ehrenwerten Mut der Überzeugung beweist — einen solchen Mann in Formen bekämpft zu sehen, die Lessing für ganz andere Kategorien von Schriftstellern reserviert wissen will. Auch wer in keinem Punkte den Untersuchungen Kellers zustimmen kann, der sollte doch zum mindesten die unendliche Förderung dankbar in Rechnung ziehen, welche der Wissenschaft durch dieselben mittelbar zu teil wird: zweifelsohne wird sich im Anschluß an diese Untersuchungen auf einem der dunkelsten Gebiete der Kirchenund Kulturgeschichte eine rege Thätigkeit der Erforschung und des Anbaus entwickeln, und wie viele Straßen auch eine spätere Zeit hindurchvielleicht in anderer Richtung

führen wird, Keller war der Pfadfinder! W. Br.

* Von gegnerischer Seite hat namentlich F. Jostes in zwei ausführlichen Kritiken (Paderborn, Schöningh) die von H. Haupt selbständig ausgestaltete Hypothese Kellers mit sehr beachtenswerten Gründen bekämpst.

Litterarische Notizen.

Aus Herrn Walthers jungen Tagen. Eine Geschichte aus Österreichs Vorzeit von Viktor Wodiczka. (Leipzig, H. Haessel.) Auch

dieser Roman gehört zu den kulturhistorischen; aber er vermeidet glücklich den einen Fehler, welcher meist derartigen Werken anhaftet:

das unnötige, unkünstlerisch angebrachte Prunfen mit übermäßiger Gelehrsamkeit. In lebhaften Farben entrollt der Verfasser ein Bild aus der Blütezeit der Hohenstaufen. Die äußerst spannende Handlung hat Wien mit seiner weiten Umgebung zum Hintergrunde. Wohlgelungen und psychologisch annehmbar ist die Charakterentwickelung des Helden, unseres großen mittelalterlichen Lyrikers, dargestellt; poetisch schön wird das Wesen der ,,niederen“ und „,hohen“ Minne, wie die Fachausdrücke lauten, in den beiden Frauengestalten Ursel und Hildegunde veranschaulicht. Nur in der Sprachbehandlung hätte der Dichter sich größerer Einfachheit befleißigen sollen. Wozu alle psychologischen Vorgänge, zumal bei derartigen Stoffen, gar so umständlich auseinanderlegen? Eine That, eine Bewegung, ein Wort der betreffenden Personen erzielen viel schönere und dichterisch allein berechtigte Wirkungen. Beschreibungen", in welcher Umhüllung sie auch auftreten, sind immer vom Übel.

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Sören Kierkegaard: Stadien auf dem Lebenswege. Überseßt von A. Berthold. (Leipzig, J. Lehmann.) — Der Überseber sagt im Vorworte: „Als dies Werk zum erstenmal erschien (1845, wenige Tage vor Kierkegaards zweiunddreißigstem Geburtstage), fam es zu früh, in demselben Sinne, wie Sokrates in seiner Zeit zu früh kam, da eben noch die Sophisten das Volk bezauberten. Seitdem ist die Reflexion merklich gewachsen und in demselben Maße ist man wohl diesem Buche näher gekommen." Troßdem ist kaum zu glauben, daß es viele geben wird, welche dieses sehr umfangreiche Buch zu Ende lesen. Der Humor und die Satire des Verfassers liegen zu versteckt. Dazu kommt, daß über dem Ganzen ein Hauch von Dumpfheit weht, welcher den ästhetisch gestimmten Leser selten recht froh werden läßt. Die Studie: „Schuldig nicht schuldig?" wird sogar vielen widerwärtig vorkommen, so sein auch die Charakteristik des jämmerlichen Helden" ist. Der Tod der Dichtkunst wäre da, würden solche Erscheinungen „Modelektüre“, während hinwiederum der Wissenschaft mit Hervorbringung derartiger Schöpfungen wenig ge= holfen ist.

Richard Wagners Frauengestalten. Von Ella Mensch, Dr. phil. Dritte Auflage. (Stuttgart, Levy und Müller.) ,,Wagner und immer wieder Wagner!" werden viele mißmutig ausrufen. „Giebt's keine Mysterien mehr in den Werken der klassischen Meister? Warum nicht einmal wirklich Neues über Brahms, Rubinstein u. s. w.?" Der Verfasserin mag es Herzensbedürfnis gewesen sein, kurz zu wiederholen, was andere ausführlich geschrieben haben; aber giebt sie uns bessere

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Credo. Gesammelte Auffäße von Friß Mauthner. (Berlin, J. J. Heine.) Aus einer Reihe von „,Feuilletons", die meist schon in Zeitungen und Wochenschriften erschienen sind, seßte der Verfasser dieses geistvolle Buch zusammen. In vielen Dingen wird man der Unerschrockenheit Mauthners beipflichten, in einigen nicht. So ist die Parallele zwischen Richard Wagner und Klopstock durchaus mißlungen; leßterer ließe sich viel eher Viktor Hugo an die Seite stellen, wenn derartige Vergleichungen überhaupt von Wert sind. Höchst befremdlich nimmt sich daneben der Hymnus aus auf Heinrich Heine und Jakob Offenbach. Sollte sich der verklärte Heine in der Unterwelt wirklich die Duzbrüderschaft Offenbachs als eines gleich „hohen Mitstrebenden“ gefallen lassen? Wir glauben doch, Heine zöge den Umgang mit Richard Wagner vor, dessen Werke dem bekannten Spiegel von Lichtenberg gleichen. Troß dieser beiden Aufsäße, in welchen dem Verfasser nicht sein nach Wahrheit ringender Verstand, sondern das durch Zeitströmungen beeinflußte Herz die Feder führte, enthält das Buch eine Fülle von anmutigen Scherzen, Einfällen, mit guter Laune gezeichneten Lebensbildern. Ernsthafte Leser wird es genug geben, denen gerade eine solche Behandlung von Zeit- und Streitfragen" behagt.

Einen neuen, vielversprechenden ungarischen Lyriker lernen wir kennen in Ludwig von Bartók: Karpathenlieder. Erinnerung an die ungarischen Alpen. Dem Magyarischen nachgedichtet von A. Silberstein. (Budapest, Verlag des Franklinvereins.) Hier und da ist der Einfluß Heines und französischer Lyriker bemerkbar, von Petöfi zu geschweigen; aber der junge Dichter (er ist 1848 geboren) besigt unbestreitbar großes Talent. Wer die Alpenwelt der Karpathen kennt, wird sie in diesem Buche wieder auferstehen sehen, vom Glanz der Poesie doppelt verschönt. Ganz besonders verdienen noch die Illustrationen hervorgehoben zu werden nach Zeichnungen des ungarischen Landschaftsmalers B. Spányi.

Welt und Wille. Gedichte von K. Bleibtreu. (Dessau, P. Baumann.) Der seltsam gesuchte Titel läßt freilich alles andere eher vermuten als einen Strauß Gedichte, aber wir haben troßdem wirkliche Poesien vor uns. Manche Verse wie: ,,Das Werden wird, damit es eben wird. War und wird sein unbedingt, unbeirrt" — sind nur scheinbar tiefsinnig; indessen troß vieler Mängel im Ausdruck redet der Verfasser doch seine eigene Sprache. Karl Bleibtreu, wie aus seinen Versen ersichtlich ist, hat Ungarn, Schottland, Norwegen gesehen, Nebel, Wolken und Berge: Entschlösse er sich jezt einmal, den Zauber des hesperischen Landes auf seine Seele wirken zu lassen, so käme das der Ausbildung seines ästhetischen Formgefühles gewiß sehr zu statten. Wem es in der Lyrik vor allem auf die Persönlichkeit ankommt, der wird an dieser eigenartigen Musengabe nicht achtlos vorübergehen.

Hinemoa. Eine neuseeländische Sage von H. Schön. (Leipzig, A. Unflad.) Der Verfasser, welcher den Schauplaß dieser poetischen Erzählung mit eigenen Augen sah, hat derselben ein altes Maorimärchen zu Grunde gelegt. Man kann dem Dichter beistimmen, wenn er behauptet, daß sich diese Sage wohl mit unseren schönsten Volkssagen vergleichen lasse. Verschiedene eingelegte Lieder, teils Übersezungen, teils freie Nachbildungen, geben zugleich einen Begriff von der Dichtweise dieses hochbegabten Volkes.

Weitab von der gewöhnlichen litterarischen Heerstraße wandelt E. Epp mit seinem Werke: Vom Dorf und aus der Stadt. Säße und Auffäße, Sprüche und kleine Geschichten. (Mann- | heim, T. Löffler.) Das Buch enthält volkstümlich geschriebene Bilder aus dem Leben, kurze Anekdoten und sehr viele oft ganz neue Betrachtungen über Religion, Kunst und Leben. Der Verfasser hat wohl nicht an die gewohnheitsmäßigen" Leser gedacht; wer aber selten liest und, hat er einmal Muße, dann gern etwas Gediegenes zur Hand nimmt, der sei auf dieses eigentümliche Buch aufmerksam gemacht.

Anders geartet ist und an einen ganz bestimmten Leserkreis wendet sich Sara Hußler (Frau Kainz) mit ihrem liebenswürdigen Büchlein: Kleine Menschen. Aus dem Kinderleben. (Berlin, J. J. Heine.) Jede dieser neun Skizzen hat ihren eigenen Reiz, langweilig ist keine, nur hin und wieder stört etwas zu viel,,Parfüm". Auch ist die Moral in unserem Jungen“ allzu zart; der Leser wird es mit dem ,,Onkel" halten, welcher für die Ungezogenheiten dieses Bürschchens nur das Urväterrezept für gut hält: „Ein wenig mit dem spanischen Röhrchen!" Auch die Sprachbehandlung könnte noch sorgfältiger sein.

Eine Wendung wie diese: „eine zurückgeschlagene, elegant trabende Droschke“, oder gar: „Ein leiser Seufzer huschte über der Mutter Lippen und zog sich scheu und ungesehen in das Frauenherz zurück“, ist sehr bedenklich. Der Verfasser der Reisebilder,,vom Kreml bis zur Alhambra" hat eine, wie immer, geist= volle Kritik als Vorwort zu dem Werkchen geschrieben, das, wenn auch völlig harmlos, ,,kleinen Menschen“ nicht in die Hand gegeben werden sollte.

Ganz dem Gebiete der Phantastik, der Sage gehören an: Liebesmärchen von E. Ertl. (Leipzig, A. G. Liebeskind.) Eine bedeutungsvolle Parabel dient zur Einleitung der acht mitgeteilten Märchen. Der dieser Dichtungsart eigene Ton ist glücklich getroffen, alles Süßliche, Ungesunde vermieden. Durch die beigegebenen Photogravüren und Heliotypien erhält das Buch einen besonderen Schmuck und macht es zum Geschenke für bestimmte Gelegenheiten sehr geeignet.

Die Extreme berühren sich. Finden Gussow, Skarbina und andere von Tag zu Tag mehr Anhänger, so wird sich auch die Schar derer vergrößern, welche nur von Böcklins Farbenwundern und Märchenungetümen etwas wissen“ wollen. Ebenso in der Litteratur. Will der Naturalismus allzu sehr sich breit machen, so wird das schöpferische, mit hoher Phantasie begabte Geister veranlassen, dem Troß zu bieten und mit Leistungen aufzutreten, welche im ersten Augenblicke so seltsam, so ungewöhnlich erscheinen, daß der Mitlebende kaum den Maßstab zu richtiger Beurteilung findet. In diese Lage wird unser deutsches Publikum gebracht, wenn es die Schöpfung Der ewige Jude, ein dramatisches Gedicht in drei Teilen von Max Haushofer (Leipzig, A. G. Liebeskind), einer aufmerksameren Betrachtung würdigt. Romanische Völker wüßten mit diesem Phantasiegemälde überhaupt nichts anzufangen. In der Form schließt sich der Dichter an Goethes Faust an: er giebt uns fünfhundert Seiten voll gereimter Verse. Von Bühnenfähigkeit ist natürlich auch keine Rede. Das Ganze stellt mehr eine Reihe von Bildern dar, von denen einzelne von hochpoetischer Wirkung sind und die nur durch das Band der symbolischen Idee miteinander verbunden werden. Übrigens ist der Held" hier nicht als Vertreter der Menschheit aufgefaßt, wenn er auch gleichsam die wandelnde Unsterblichkeit veranschaulicht. Denk an die Schuld von Golgatha!" heißt es im Anfang. Den „Mythos" des ersten Teiles mit seinen Zwischenbildern, die Tragödie, den zweiten Teil, läßt vielleicht jeder ohne „Bemerken“ hingehen; rätselhaft wird vielen die „phantastische Ko

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