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3.

Homer, als Sånger betrachtet.

Ein andermal galt es die Gefangweise des Dich: ters; bei Homer das Hauptwerk. Denn gelesen zu werden, sind diese Gesänge ursprünglich nicht gedich tet; sie wurden gesungen; sie sollten gehört werden. * Dahin strebt der ganze Bau des Herameters, der abwechselnde, immer fortschreitende Gang seiner Bil: der und Tóne. Davon zeugen die oft wiederkommenden Worte und Beiworte, die wiederkehrenden Verse und Halbverse, die leichte Bindung der Gedanken durch eine Menge uns überflüßig-scheinender Parti

* Auf das Alter der Buchstabenschrift in Griechenland dürfen wir uns hierbei nicht einmal einlassen. Aus Phönicien kam sie, und wahrscheinlich ward in Jónien zuerst geschrieben; man bedenke aber, was dazu gehöre, daß Werke, wie die Ilias und Odyssee, mit Buchstaben, deren einige so spát ins griechische Alphabet gekommen, vollständig und genau ges schrieben werden. Die Kunst der Rhapsoden widerstand eher dem Bücherschreiben, als daß sie solches hätte fördern wollen: denn wie in Konstantinopel die Abschreiber des Korans, die Kalligraphen, der Einführung der Buchdrukerei entgegen waren, weil ihr Gewerb dadurch untergieng: so gieng durch Einführung der Buchstabenschrift jene Kunst der Sänger alls mählich unter. Es entstand Prose, aus dem Herameter einprosaischer Periodus; die Sagen der Menschen wurden Buchstaben anvertrauet; es verstummte die Stimme der Musen, die als Töchter Mnemosynens, den Schaß des menschlichen Gedächtnißes vorher allein aufbehalten und lebendig verbreitet hatten. Bücher waren das Grab des Epoě.

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keln, die dem lebendigen Vortrage Haltung und Schwung gaben, endlich die ganze Art loser Perio den, in der hier alles erscheinet. Für den Sänger war der Herameter gemacht. Nie konnte, nie durfte ́er stocken und ausbleiben; der Gesang zog mit sich fort. Eben jene leichten und eintönigen Ausklänge des Verses luden ohne Mühe zur Fortsetzung des Bildes oder der Geschichte ein; eine Reihe von wie derkommenden Ausdrücken und Versen gaben dem Sänger Zeit, weiter zu denken, indem sie immer noch das Ohr der Versammlung angenehm füllten. Stel: len konnten versetzt, unzählige kleine Züge wieder an gebracht werden; so daß, wer einige Gesänge der Iliade gesungen hatte, den ganzen trojanischen Krieg in dieser Manier fingen konnte. Der Sånger schwamm und bewegte sich in einem sehr freien Elemente.

Gut für den Homer, der gleichsam erfindend fang und singend erfinden konnte; gut auch für seine Nachfänger, die Homeriden; die Quelle des heroi schen Herameters floß ihnen unversieget. Wie stand es hiebei aber mit der Erhaltung solcher Gesänge im Munde der Rhapsoden? Mochten sie ihren Homer mit der gewissenhaftesten Treue gelernt haben und mit einer Art göttlicher Verehrung wiederholen: die Leichtigkeit des Verses und der Erzählung selbst lud zu Veränderungen ein. Hier konnte dieser, dort jes ner Vers eingeschaltet werden; het ähnlichen An: und Ausklången bot er sich von selbst dar. Uebers

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dem war die griechische Sprache auf allen den Küs ften und Inseln, in allen den Ländern und Städten, wo Jahrhunderte durch Homer gesungen ward, war und blieb sie dieselbe? In Asien, dem Archipelagus, in Alt- und Groß: Griechenland, mußte nicht der Sånger, wenn er verstanden, wenn er mit Entzücken gefühlt seyn wollte, sich hie und da dem Ohre des Volks bequemen, und also veråndern? Jedermann der es versucht hat, weiß, was die lebendige Gegens wart einer Versammlung dem Sprechenden für Ger fehe auflegt; hier kann er nicht alles sagen, was er dort sagen konnte'; er kann es nicht auf dieselbe Art sagen. Und da es der Zweck des Rhapsoden war, mit der Versammlung gleichsam ganz Eins zu wer den, und aus seiner in ihre Seelen homerische Be geisterung, Vergnügen und, Muse hinüber zu strdzi men, wozu er sogar auch mimische Kunst anwandte; so ist, wenn man sich dabei die griechische Lebhaftig: keit im Vortrage, im Erzählen, im Extemporiren erdichteter Geschichte einigermaßen vorstellt, * ein

Diese griechische Lebhaftigkeit im Vortrage, dem Erzählen, dem Extemporiren ist aus mehreren Reisebeschreibungen noch jeht als Charakter der Nation bekannt. Ju jenen alten dich terischen Zeiten mußte sie es ungeheuer mehr seyn. „Ich has be oft, fagt Wood (S. 49.), die lebhafte theatralische Des klamation der italienischen und orientalischen Dichter bewuns dert, wenn sie unter freiem Himmel Gedichte hersagen, und jeden Gegenstand, den sie beschreiben, in einer eingebildeten. Scene zeigen, die sich ihre Phantasie den Augenblick schaft,

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fteises Recitiren auswendig gelernter Verse, die uns ter allen Völkern Griechenlandes Jahrhunderte lang dieselbe geblieben wären, ganz undenkbar. Kaum läßt sich eine Geschichte, zumal im Feuer der Be redsamkeit, zweimal mit denselben Worten erzählen; und obgleich hier der Gesang und das Sylbenmaas dazu da war, daß es den Sånger innerhalb fester Schranken erhalten sollte: so waren diese Schranken doch so weit gesteckt, daß er unmöglich zu einer Sprachmaschine werden konnte, die unabånderlich dies selben Töne wiederholte. Es ist ein Trieb in unsrer Natur, zu dem Gelernten Eignes hinzuzuthun; es ist ein Trieb in ihr, diesen Augenblick, diese Stunde, diesen Kreis mit etwas Eignem zu bezeichnen, wenn es auch mit etwas Ungehörigem und Entbehrlichem wåre. So variiren alle Volkslieder auf der Erde; keine Provinz singt die ihrigen ohne Veränderung, Selbst unsre langsam: tönenden Kirchenlieder, wenn sie vom Volk auswendig gelernt werden, sind von Zufäßen, Worteinschaltungen und Herzens. Ergiess sungen nicht frei. Wer also an einen Urtext Homers, wie er aus seinem Munde floß, glauben kann, der glaubt viel.

zugleich aber sich jedes natürlichen Vortheils der Gegend des dienen, der sich auf ihren Gegenstand anwenden läßt, wo, durch sie ihr Gedicht mit dem Ort, wo sie es recitiren, in Verbindung_seßen," S. auch Guys literarische Reisen in Griechenland u. a.

Billoisons Homer.

€4.

Studium Homers

in Italien.

Unvermuthet zeigte sich mir eine große Erschei: nung: Villoisons Ilias. Wie staunte ich diesen Reichthum griechischer Kritik und Urtheile an! Hier fand ich meinen Jugendzweifel, ob die Ilias und Odyssee von Einem und Demselben Homer sey, im Namen einer ganzen Secte griechischer Kritiker, der Sonderer (Xweilovres) wieder; diese sagten: die Ilias und Odyssee sen nicht von demselben Dichter.

(Χωρίζοντες)

In den Anmerkungen über den Homer fand ich die Idee, Homers Gesänge als eine Art Encyklopädię des Wissenswürdigen zu betrachten, so verbreitet, wie sie uns das gesammte Alterthum zeiget.

Endlich erschrack ich beinah über die Freiheit, die man sich mit dem Tert Homers nehmen zu können, ja nehmen zu müßen lange Jahrhunderte durch ges glaubt hat. **

Homeri Ilias, edid. Villoifon. Venet 1788. Die Bekannt, machung dieser Schäße des Alterthums ist ein Verdienst, das allein schon Villoisons Nameu verewigen kann; wie sehr ist zu wünschen, daß dieser unermüdete Gelehrte seiner Ilias auch eine Odyffee, die gelehrte Reise durch Griechenland nämlich, wie er sie zu Erläuterung der gesammten griechis schen Literatur ans Licht ftellen will, hinzufügen möge. ** Wer die Ursachen hievon, samt einer ideenreichen und büne digen Geschichte der Behandlung Homers lesen will, lese

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