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Kapitel der Kriminalpsychologie ist aber zu schwierig und zu interessant, als daß nicht jeder neue Beleg willkommen sein müßte. Daher möchte ich hier hinweisen auf die zwar kleine, aber durch die Fülle der gesammelten Materialien für uns wertvolle Dissertation von Peter Dettweiler Über Schlaftrunkenheit, Traum zustand und Nachtwandel in gerichtlich-medizinischer Beziehung" (Gießen 1863). Die kleine Schrift besteht im wesentlichen aus Exzerpten älterer gerichtlich-medizinischer Werke und Zeitschriften, die, nebenbei bemerkt, von uns überhaupt nicht so vernachlässigt werden sollten, da sie eine Fülle von auch heute noch überaus wertvollen Materialien für die verschiedensten kriminalistischen Probleme enthalten.

Besonders wichtig, weil die Tatsächlichkeit des geschilderten Zustandes außer Frage stellend, sind die Fälle, in denen die Schlaftrunkenen angesehene, vollkommen glaubwürdige, einwandfreie Personen sind. Dettweiler erzählt mehrere derartige Beispiele. So gedenkt nach ihm Henke in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Medizin S. 201 eines ihm bekannten, jungen gebildeten, stark genährten Mannes, der jedesmal, wenn er, auch durch die sanfteste Anrede seiner Frau, aus dem Mittagsschlafe geweckt wurde, heftig und wütend um sich schlug und nur mit Mühe zu sich kam. Krügelstein erwähnt in Henkes Zeitschrift für gerichtliche Medizin den Tobsuchtsanfall, den der sonst vollkommen rüstige Staatsrat L. bekam, als er nach einer anstrengenden Jagd eingeschlafen war und wieder geweckt wurde; der Anfall, der eine volle Stunde dauerte, war so heftig, daß der Schlaftrunkene nur mit Mühe daran verhindert werden konnte, seine Frau aus dem Fenster zu werfen. Krügelstein, ferner Siebenhaar (Handbuch der gerichtlichen Medizin Bd. 2 p. 439) u. a. erzählen, daß der bekannte Kriminalist Meister, der uns einen forensischen Fall von Schlaftrunkenheit ausführlich geschildert hat, selber einmal in einem Zustande von Schlaftrunkenheit beinahe Gewalttätigkeiten verübt hätte. Meister schlief nach einer anstrengenden Reise auf dem Sofa seines Freundes in voller Kleidung ermüdet ein, und zwar so, daß der Kopf etwas über die Rücklehne gesunken war. Bei Annäherung der Dame des Hauses mit einem Lichte erwachte M. plötzlich und zwar, zum ersten Mal in seinem Leben, ohne jede Besinnung. Entsetzt griff er nach einem in der Nähe stehenden schweren Stuhl, um ihn nach der Dame zu schleudern. Als ihn die Dame, wenngleich sehr erschrocken, sanft fragte, ob ihm was fehle, ob er krank sei, dringt, wie er selbst erzählt, durch den Sinn des Gehörs ein schneller Lichtstrahl der Besonnenheit in seine Seele, er ließ den aufgehobenen Stuhl langsam sinken, von seinem starren Blick wird der Flor weggenommen, er

sieht nun wahrhaft, erkennt sich und seine Umgebung, und ist vollständig erwacht.

Ähnliche Berichte haben wir über Nachtwandler. So veröffentlichte Krügelstein in Henkes Zeitschrift für gerichtliche Medizin Heft IV (1853) einen interessanten Brief des Hofrates und Leibarztes Dr. Bernstein aus Neuwied, worin er seine eigenen somnambulen Zustände und die öfter darin versuchten Gewaltätigkeiten erzählt.

Im Anschluß hieran seien einige Zeitungsnotizen über analoge Vorfälle aus neuester Zeit wiedergegeben.

In dem „Berliner Lokal-Anzeiger" vom 4. Juli 1908 wurde berichtet, daß ein sechsundzwanzigjähriger Arbeiter Johannes Liesecke, Emdenerstr. 11, im Traumzustand aus dem Fenster gestürzt sei. Er habe einen bösen Traum gehabt, sei aufgestanden und im Halbschlaf im Zimmer umbergegangen. In dem Glauben, auf den Korridor zu gelangen und sich dort besser abkühlen zu können, stieg er aus dem offenstehenden Fenster und stürzte so aus der Höhe des dritten Stockwerkes in die Tiefe. Mit schweren Oberschenkelbrüchen und inneren Verletzungen wurde er in bedenklichem Zustande nach dem Krankenhause Moabit gebracht.

Nicht ganz so schlimm endete der Ferientraum eines Knaben über den das Deutsche Blatt" vom 7. August 1907 folgendermaßen berichtete :

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"In der Nacht zum Dienstag verunglückte der 10 Jahre alte Stiefsohn Emil Lachmann des Kutschers Sohle aus der Landsberger Allee Nr. 135 dadurch, daß er im Traum aus dem Fenster der im ersten Stock gelegenen Schlafstube fiel. Der Knabe verlebte, wie uns hierzu weiter mitgeteilt wird, die Ferien bei seiner Großmutter in Königsberg in der Neumark. Vorgestern abend kam er nach Berlin zurück. Seine Mutter holte ihn vom Bahnhof um 8 Uhr ab. Gleich fing er an, mit großer Lebhaftigkeit von seinen Ferienerlebnissen zu berichten. Mit wachsender Aufregung erzählte er bis 11 Uhr. Auch dann gelang es den Eltern nur mit Mühe, ihn ins Bett zu bringen. Eine Stunde später fiel er aus dem Fenster auf den Hof hinab und zog sich eine Verletzung an der rechten Hüfte und eine leichte Gehirnerschütterung zu. Im Krankenhause am Friedrichshain erzählte er gestern nachmittag, wie das Unglück gekommen war. Der Knabe träumte sehr lebhaft von seiner Eisenbahnfahrt, glaubte, daß er eben erst auf dem Bahnhof angekommen sei, und wollte zum Abteilfenster hinaussehen, um seine Mutter zu begrüßen. Erst im Krankenhause wurde er sich wieder bewußt, daß er schon vorher angekommen und mit seiner Mutter nach Hause gegangen war.“

Alle diese Fälle mahnen uns von neuem, kein Vorbringen des Angeklagten, so absurd es vielleicht auch auf den ersten Blick erscheinen mag, von vornherein als unglaubhaft zu verwerfen, vielmehr mit den Hilfsmitteln der modernen Kriminalistik zu prüfen, ob es sich um eine faule Ausrede handelt oder ob dem Angeklagten Glauben geschenkt werden muß.

8. Verbot des Leichenkaufs führt zu Leichenraub und Mord. Noch in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts bestand in England ein aus religiösen Erwägungen entstandenes Gesetz zu Kraft, welches untersagte, anatomischen Instituten Leichen für wissenschaftliche Zwecke zuzuführen. Erst im Jahre 1829 (oder 1830?) wurde dies kulturfeindliche Gesetz aufgehoben.

Der Grund war folgender. Da es durch jenes Gesetz den Ärzten unmöglich gemacht war, sich das zu Studierzwecken unumgänglich notwendige Material auf legale Weise zu verschaffen, so bildeten sich nach und nach ganze Banden, welche gewerbsmäßig den Leichendiebstahl ausführten und den Ärzten so das nötige Studienmaterial verschafften. Alle Bemühungen hiergegen halfen nichts. Im allgemeinen waren diese Leichenhändler sonst rechtschaffene Leute; sie verabscheuten Mörder, Diebe und anderes Gesindel und glaubten, selber kein eigentliches Verbrechen zu begehen, weil sie doch niemand am Vermögen schädigten. Als es aber infolge strengerer Bewachung der Kirchhöfe immer schwieriger wurde, sich auf diese Weise Leichname zu verschaffen, gingen einige der rohesten Leichenhändler dazu über, sich durch Erwürgen die nötigen Leichname zu „machen“. Infolge eines größeren Prozesses, durch den dieses schändliche Treiben aufgedeckt wurde, wurde jenes Gesetz aufgehoben.1)

Dieses Gesetz und seine Wirkungen zeigen uns, daß in den Kulturbedingungen einer bestimmten Zeitperiode wirklich begründete Bedürfnisse sich nicht durch einen Federstrich unterdrücken lassen; daß gegen derartige Tatsachen des sozialen Lebens gerichtete Repressivgesetze nur schädliche Folgen haben können, indem sie das Übel vergrößern anstatt es einzudämmen. Andere Belege sind z. B. das Sozialistengesetz, welches die Sozialdemokratie eigentlich erst groß

1) Vgl. den Aufsatz über „Die Leichenhändler von Edinburg" in „Lebensbeschreibungen und Kriminalprozesse berüchtigter Räuber und großer Verbrecher älterer Zeit". Aus dem Französischen von Ludwig Hain. Bd. 3 (Leipzig 1846) p. 3-SS. Vgl. auch Annalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege", herausg. von Hitzig, Bd. 3 (Berlin 1829) S. 281-283.

gezüchtet hat, der § 175 St.G.B., welcher nur zu zahllosen schamlosen Erpressungen Anlaß gibt, ohne die Homosexualität ausrotten zu können, die Negierung der Vereins- und Versammlungsfreiheit, welche zur Bildung geheimer Gesellschaften führt, das Verbot Sonntags Kneipen zu besuchen, welches zur Völlerei innerhalb der eigenen Häuslichkeit Anlaß gibt usw. Auch dies ist ein Beleg für den Zusammenhang von Recht und Kultur.

9. Eid und Aberglaube: Zwei praktische Fälle.

Über die volkstümliche Auffassung von Eid und Meineid und ihre Bedeutung für den Kriminalisten habe ich schon des öfteren gehandelt. In meinen Abhandlungen über mystische Zeremonien beim Meineid habe ich auch einigemal eine Abhandlung über „Eid und Aberglaube" erwähnt, die demnächst erscheinen sollte. 1) Es handelt sich um zwei selbsterlebte Fälle, die ich im Sommer 1904 an Herrn Professor Dr. Groß gesandt habe und die von ihm auch für sein Archiv angenommen waren. Da das Manuskript aber verloren gegangen ist, andrerseits aber die Fälle, besonders als selbstbeobachtete, interessant genug erscheinen, will ich versuchen, sie soweit sie mir im Gedächtnis sind, hier wiederzuerzählen. Nur muß ich um Entschuldigung bitten, wenn ich nur noch die wesentlichen Grundzüge wiedergeben kann, mich aber nicht mehr genügend auf alle Einzelheiten zu entsinnen vermag, um meine Ansicht, es handle sich hier um den von mir angegebenen Aberglauben, genügend zu begründen.

Beide Fälle ereigneten sich in einer und derselben Schöffengerichtssitzung beim Amtsgericht Köpenick. Ich vertrat damals gerade den beurlaubten Amtsanwalt.

Bei dem einen handelt es sich m. E. gewissermaßen um ein Survival einer mystischen Meineidszeremonie. Ein Zeuge nahm beim Schwur in ganz auffälliger Weise eine mystische Meineidszeremonie vor, wenn ich nicht irre, die Blitzableiterzeremonie. Das wäre nun zwar interessant, aber nichts Besonderes, da, wie wir wissen, derartige abergläubische Meineidsgegenmittel auch heute noch weitverbreitet im Volke sind. Das Merkwürdige aber ist, daß gegen den Zeugen keine Spur des Meineidsverdachtes vorlag, seine Angaben vielmehr aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen durchaus glaubwürdig waren. Nun liegt die Annahme nahe, daß der Zeuge nur zufällig jene Bewegungen vorgenommen habe, welche in ihrer Geund Bd. 68, S. 346-402.

1) „Gerichtssaal", Bd. 66 (1905) p. Archiv für Kriminal anthropologie. 31. Bd.

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samtheit das Merkmal jener Meineidszeremonie bilden. Aber auch diese Möglichkeit hielt ich damals aus mir gleichfalls entfallenen Gründen für ausgeschlossen. So ist der Tatbestand folgender: Der Zeuge hat bewußt ein Meineidsgegenmittel gebraucht, trotzdem er willens war seine Aussage nach bestem Wissen und Gewissen zu machen und diesen Vorsatz auch ausgeführt. Dieser Tatbestand läßt sich nur so erklären, daß sich das ursprünglich nur beim Meineid angewandte Mittel allmählich umgewandelt hat in ein Mittel, das auch davor behüte, beim fahrlässigen Falscheid bestraft zu werden und vielleicht auch davor, überhaupt eine objektiv unrichtige Aussage zu machen; daß also der Zeuge jene Zeremonie gewissermaßen nur zur Vorsicht angewandt habe, daß er das ihm als hilfreich bei gerichtlichen Vernehmungen überlieferte Mittel angewandt habe, ohne sich überhaupt klar zu sein über die eigentliche Bedeutung seiner Gesten. Für eine derartige, nicht dolose, Anwendung eines mystischen Meineidsgegenmittels habe ich auch in der Literatur wenigstens ein Beispiel finden können, das mir augenblicklich aber nicht gegenwärtig ist. Wiederum werden wir gemahnt, nun, wo wir die mystischen Zeremonien beim Meineid in ihrer großen praktischen Bedeutung kennen, nicht in den Fehler zu verfallen, sie als Indizien für einen Meineid zu überschätzen: Sie können einmal auch nur zufällig vorgenommen werden und dann auch zwar bewußt, aber nicht in doloser Weise.

Der zweite Fall ist anderer Art. In einer kleinen Sache, ich glaube es war eine Klage wegen Tierquälerei, waren auch zwei Damen zu vernehmen, eine ältere und eine jüngere, die beide schon längere Zeit im Zuschauerraum anwesend und mit sichtlichem Interesse den Verhandlungen gefolgt waren. Die jüngere wurde als Zeugin vernommen und vereidigt. Als die ältere den Gerichtssaal betrat, um ihre Aussage zu machen, fiel mir gleich ihr aufgeregtes Wesen auf. Als sie vereidigt werden sollte, fing sie plötzlich heftig an zu weinen und war durchaus nicht zu beruhigen, sodaß sie aus dem Sitzungszimmer entfernt werden mußte. Mittlerweile sollte ein anderer Zeuge vernommen werden. Da die Erregung der Zeugin offenbar in schlechtem Gewissen ihren Grund nicht baben konnte. da hiergegen der ganz vorzügliche Eindruck sprach, den die Zeugin machte, ihre Aussage, welche sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung zu Protokoll gegeben hatte, außerdem durch andere Zeugenaussagen durchaus bestätigt wurde, so konnte die Befangenheit und heftige Erregung nur in einer gewissen Scheu vor dem Schwören begründet sein. Möglicherweise war hier nur die in weitesten Kreisen, insbesondere auch unter Frauen, verbreitete Scheu vor der feierlichen

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