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man in letzter Zeit mit der Seßhaftmachung von Zigeunern im Norden Berlins gemacht hat, bisher ganz gut ausgefallen zu sein scheint, so wird man doch wohl zu dem Resultat kommen müssen, daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen ist. Bis auf weiteres werden die Zigeunerhorden aber noch lange Zeit ein sozialschädliches Element der, modernen Kulturstaaten bilden. Sehr verkehrt aber wäre es, wenn man aus falschem Mitleid mit den Zigeunern fordern wollte, daß man ihr „Recht zu leben, auf Luft, Sonnenschein und Wandertrieb", wie es in der oben genannten Zeitschrift Walter Gaslischan tut, verteidigen und aus diesem Grunde gegen die modernen Maßregeln gegen die Zigeuner Front machen wollte. Der Staat handelt hier vielmehr nur in einer Art Notwehr gegen die Übergriffe der braunen Horden und da es bei Delikten die von einzelnen Mitgliedern von Zigeunerbanden verübt werden, oft so schwierig ist, den wahren Täter zu eruieren, dürfte es im Gegenteil sogar angebracht sein, den Kampf gegen die Zigeuner noch weit energischer als bisher zu betreiben, insbesondere in gewissem Umfange die in der Regel allerdings nur primitiven Entwickelungsstadien angehörige strafrechtliche Solidarhaftung wieder einzuführen.

3. Beten und Verbrechen.

Dafür, daß man gleichzeitig eifriger Beter und hartnäckiger Verbrecher sein kann, hat Ferri1) schon mehrere bekannte Belege beigebracht. Er erzählt uns von dem italienischen Briganten Biagini, der in seinem Portemonnaie zwei Fürbitten aufbewahrte, die er andächtig jeden Abend hersagte. Der Frauenmörder Verzeni besuchte häufig die Kirche und gehörte einer sehr religiösen Familie an. Nach Kennan wird ein russischer Bauer, mag er auch ein Räuber oder Mörder sein, nie vergessen, seine Gebete herzusagen. Im Jahre 1882 kam es in dem Prozeß Fenayron zur Sprache, daß die Gattenmörderin kurz vor der Tat in der Kirche gewesen war um vom Himmel das Gelingen des Verbrechens zu erbitten. Und aus der Bretagne weiß Elisée Réclus von einer Kapelle bei Trégnier zu berichten, in der man nachts um das Gelingen wilder Verbrechen flehte; die Frau betete dort um den Tod eines verhaßten Gatten und der Sohn um das Ende eines Vaters, der ihn zu lange auf die Erbschaft warten ließ. Diesen Fällen möchte ich einige weitere anschließen. Im Elsaß

1) Ferri „Religion und Verbrechen" in „Die Zukunft", Jhg. VII, Berlin 1899, Nr. 40, S. 28 ff.

wurde Anfang Januar 1906 ein Einbrecher erwischt und durch einen Schuß schwer verletzt. Der Dieb gab als Motiv Hunger an, da ihm als einem vorbestraften Menschen keine Arbeitsgelegenheit gewährt worden sei. Daß es ihm beim letzten Einbruche so schlecht gegangen war, erklärte er damit, daß er nicht wie in früheren Fällen um den Erfolg gebetet habe. 1) Nach dem bekannten Schriftsteller Hansjakob, dem lebendigen Schilderer Schwarzwälder Bauerntums soll es bei den Bauern im Schwarzwald noch vorkommen, daß der Sohn um ein baldiges seliges Ende des Vaters betet, da die für die arbeitsunfähigen Eltern vertragsmäßig ausgemachten Altenteile den Bauern oft ein Gegenstand schwerer Sorge sind. 2) Ganz Ähnliches wie von dem Elsässer Einbrecher wurde mir von einem Hamburger berichtet, den mein Gewährsmann, der von 1899 bis 1902 am Hamburger Untersuchungsgefängnis als Seelsorger wirkte, in seiner amtlichen Tätigkeit kennen gelernt hat. Dieser Dieb, der vielfach gestohlen hatte und an dessen Namen sich mein Gewährsmann nicht mehr erinnert, erzählte dem Geistlichen eines Tages, er pflege regelmäßig zu beten, und zwar immer vor einem Diebstahl, Gott möge ihn den Diebstahl gelingen lassen, und das habe Gott auch stets getan, nur das letztemal habe sein Gebet nicht geholfen. Der Dieb erzählte dies ganz ruhig und „offenbar in gutem Glauben, richtig gehandelt zu haben." 3) Krasser als in derartigen Anschauungen kann die moral insanity vieler Gewohnheitsverbrecher, die Überzeugung von der sozialen und ethischen Berechtigung ihres verbrecherischen Treibens kaum zum Ausdruck kommen!

Ein anderer höchst merkwürdiger Fall ereignete sich Mitte der neunziger Jahre in Bayern. Eine sehr fromme Familie Korn wurde von abgefeimten Schwindlern unter Benutzung ihres religiösen Aber glaubens aufs ärgste geprellt. Die Angeklagte gab unter anderem zu. in einer Klosterkirche Wachskerzen geopfert zu haben, damit die Großmutter des Simon Korn, welche vermögend war, recht bald sterbe. Sie behauptete dies auf Anregung der Frau Korn und ihrer Tochter Anna getan zu haben, welche sie auch hätten veranlassen wollen, die Großmutter zu vergiften, doch wurden diese Beschuldigungen von den Frauen als Lügen zurückgewiesen. 4) Manches spricht

1) Nach einer mir von dem Chemiker Abels (München) übersandten Notiz (vom 20. Januar 1906) eines in Frankfurt erscheinenden Blattes, vermutlich der „Frankfurter Zeitung". 2) Ebenda.

3) Briefliche Mitteilung des früheren Gefängnisgeistlichen Dr. H. Beneke, 4) Walch Himmelsbriefe“ („Der neue Pitaval der Gegenwart“), Bd. I, Heft 1, Leipzig 1903, p. 90.

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aber dafür, daß die Angeklagte die Wahrheit gesagt hat. Die Angeklagte hatte nämlich eine Korrespondenz der Himmlischen mit der Familie Korn in Szene gesetzt; während die Briefe der Familie Korn an Jesus, die Mutter Gottes und die verstorbene Ursula Korn leider verloren gegangen sind, haben wir gegen 50 an die Himmlischen gerichtete Briefe, die Walch teils im Wortlaut, teils durch Inhaltsangabe größten Teils veröffentlicht hat. In einem uns inhaltlich mitgeteilten Briefe läßt Maria bitten, es möchte die Familie Korn doch ein Darlehn aufnehmen und ihnen bald das Geld schicken, denn die Großmutter werde noch nicht gleich sterben, da der Tag noch nicht da sei, immerhin aber würden sie von ihr bald ein großes Erbgut erhalten. 1) Noch deutlicher ist folgende Stelle aus einem vom „Gottessohn Jesus Christus" unterzeichneten Briefe. Hier heißt es: Helfet uns doch nochmals aus und sendet 2000 Mk., dann brauchen wir nichts mehr, habet doch keine solchen Ängsten, die macht euch nur der böse Feind, der gibt euch ein, daß ihr nicht glauben sollt, daß ich euch aushelfe, und die Großmutter hole." 2) In einem dritten Briefe endlich werden, wie Walch bemerkt, die Kornschen Eheleute darüber beschwichtigt, daß Christus sein Versprechen, die Großmutter zu sich zu nehmen, nicht gehalten hat, und wird das Versprechen erneuert, indem es weiter wörtlich heißt: „O liebe Stellvertreter Gottes, ich habe es gehört, wie ihr so traurig zu der kranken Cölestine gesagt habt, wenn nur einmal die Großmutter sterben würde, jetzt hat man es uns auf den Herbst gewiß versprochen, und jetzt ist es wieder nichts, und wir können weiß Gott wie lange warten, und ich sah, wie es euch reute, daß ihr uns das Geld gegeben o liebe Engelspilger, habet nur ein rechtes Vertrauen, und werdet nicht kleingläubig, ich weiß schon, daß ich euch versprochen habe, ich hole die Großmutter im Herbst, lasset den Mut nicht sinken, ich werde sie einmal an einem unverhofften Tage holen." 3) Hier haben wir also eine höchst „religiöse" bayerische Familie vor uns, die um den Tod der Eltern betet; nimmt man noch die oben aus der Bretagne und aus dem Schwarzwald beigebrachten Fälle hinzu, so sieht man, daß manche Volksschichten sich noch nicht allzuweit von der bei

1) Walch a. a. O., S. 80.

2) eod. S. 85.

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3) eod. p. 86. Diese wichtigste Stelle war mir leider bei Abfassung meiner Skizze, Himmelsbriefe in einem Betrugsprozeß", (Ztscht. des Vereins für Volkskunde, Berlin 1906, p. 422-26) entgangen. Trotzdem habe ich schon dort die Vermutung aufgestellt, daß die Familie Korn höchstwahrscheinlich von dem Totopfern Kenntnis hatte.

Archiv für Kriminalanthropologie. 31. Bd.

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den Naturvölkern verbreiteten Sitte, die Alten und lästige Kranke zu töten 1) entfernt haben.

Es wäre im höchsten Grade wünschenswert, weitere Mitteilungen über die Religiosität" der Verbrecher zu erhalten; durch derartige Materialien dürfte das Problem der Beziehung zwischen Religion und Verbrechen der Lösung näher gebracht werden, als durch lange statistische Tabellen. 2)

4. Ein raffinierter Bettlerbetrug.

Jeder Kriminalist und Soziolog weiß, daß es mehr unverschämte wie verschämte Arme gibt, und daß die Leidensgeschichten, die uns professionelle Bettler erzählen, oder die Verkrüppelungen, die sie uns vortäuschen, vielfach nur erdichtet sind, um von mitleidigen Seelen milde Gaben herauszulocken. 3) In das Volk ist diese Erkenntnis leider immer noch nicht gedrungen. Der professionelle Bettler, der sich, ohne zu arbeiten, möglichst gut durchs Leben durchschlagen will, findet leider immer noch sein gutes Auskommen, vielfach sogar ein bedeutend besseres als hunderttausende fleißiger Arbeiter, Handwerker und kleiner Beamten. Vielfach beruht ihr Erfolg auf dem Aberglauben, daß es Glück bringe, jedem Bettler etwas zu geben, und daß andrerseits der Fluch der ohne Gabe scheidenden Bettler in Erfüllung gehe. 4) Es liegt dem ja sicher ein ethischer Gedanke

1) Vgl. vorläufig Sartori „Die Sitte der Alten- und Krankentötung“ im Globus“ LXVII, p. 108 ff. und Eduard Westermarck „Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe", deutsch von L. Katscher, Bd. I (Leipzig 1907). p. 322 ff. In der „Ztschft. f. Sozialwissenschaft" (Breslau) werde ich diese Sitte demnächst aufs eingehendste behandeln.

2) In der Ztschft. für Religionspsychologie (Halle a. S.) werde ich in kurzem ausführlich über „religiöse Verbrecher“ handeln. Aus der bisherigen Literatur hebe ich hervor: Aurelino Leal "La religion chez les condamnés à Bahia („Archives d'anthropologie criminelle", Bd. 14, Paris 1899, S. 605-631; E. Ferri „Il sentimento religioso negli omicidi“ („Archivio di psichiatria, scienze penali ed antropologia criminale", Bd. 5, Torino 1884, S. 276-282) und Francesco Cascella 11 brigantaggio“ (Aversa 1907) S. 163 ff.

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3) Vgl. beispielsweise die Angaben bei Löwenstimm „Das Bettlergewerbe mit besonderer Berücksichtigung der russischen Verhältnisse“ („Kriminalistische Studien“, Berlin 1901) p. 1 ff., und Roskoschny „Das arme Rußland" (Leipzig 1889) p. 176 ff. Bernhard Stern „Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland“, Bd. I (Berlin 1907) p. 324 ff. Lino Ferriani „Schlaue und glückliche Verbrecher", deutsch von Ruhemann (Berlin 1899) p. 429 ff.

4) Vgl. z. B. Löwenstimm a. a. O. p. 22. V. Zingerle „Sagen aus TirolTM in der Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sittenkunde", Bd. II (Göttingen 1855) p. 57f. Szulczewski „Allerhand fahrendes Volk in Kujawien“ (Lissa i. Pr. 1906) p. 11 vgl. p. 27. Zahlreiche Materialien über die Beziehungen zwischen

zugrunde, und wenn alle Bettler tatsächlich arme Leute wären, die unverschuldet ins Elend gekommen sind, so ließe sich gegen eine derartige Maxime kaum etwas einwenden. Da aber der größte Teil der Bettler das Betteln als Handwerk betreibt und tausenderlei Kniffe und Schliche anwendet, um seinen Beruf möglichst lukrativ zu gestalten, so muß das gedankenlose Almosengeben an jeden Unbekannten, der darum anspricht, ohne Prüfung seiner Würdigkeit als durchaus sozial schädlich bezeichnet werden. Die leichtfertigen Almosengeber, die ein gutes Werk zu tun glauben, unterstützen durch ihre übelangebrachte Mildtätigkeit vielfach schädliche Parasiten. Bis zu welcher unglaublichen Dreistigkeit derartige „Arme" sich versteigen, mag folgendes Geschichtchen lehren, das vor kurzem durch die Presse. ging: Zu einer als sehr wohltätig bekannten reichen Dame kam eine in Eimsbüttel-Hamburg wohnende Frau. Die überaus ärmlich gekleidete Besucherin erzählte unter einem unversiegbaren Tränenstrom, daß ihr Mann, der Ernährer von vier Kindern gestorben sei und die Familie hilflos und in größter Not zurückgelassen habe. Nicht ein mal Geld zu einer einfachen Beerdigung sei vorhanden. Die Dame versprach zu helfen, und schluchzend entfernte sich die Bittstellerin, nachdem sie noch ihre in Eimsbüttel gelegene Wohnung aufgegeben hatte. Bald darauf erhielt die Dame den Besuch einer Freundin, der sie von der grenzenlosen Not der armen Witwe erzählte. Beide Damen beschlossen, sofort helfend einzugreifen, und begaben sich in die bezeichnete Wohnung. Dort stand in einem mehr als notdürftig möblierten Zimmer eine einfache weiße Holzkiste. Darin lag die Leiche des Familienoberhauptes. Zu einem Sarge hatte die Frau kein Geld. Verschüchtert standen die vier Kinder in der Ecke und starrten auf das blaue Gesicht des im Sarge liegenden Vaters. Erschüttert von solchem Elend, wandten die Damen sich ab. Die Frau erhielt 150 Mark für die Beerdigung, weitere 50 Mark für die Familie und das Versprechen, daß fernerhin für sie gesorgt werden solle. Man tröstete die Ärmsten, und dann gingen die beiden Damen fort. Zwei Stunden später wollte. die Dame noch einen Ausgang machen. Da entdeckte sie, daß ihre Handtasche, ein wertvolles Andenken an ihren verstorbenen Gatten, verschwunden war. Sie entsann sich, die Tasche in der ärmlichen Wohnung zurückgelassen zu haben. Schnell fuhr sie nochmals nach Eimsbüttel und betrat das Sterbehaus, in dem sie bereits so viel Jammer gesehen hatte. Als sie fast lautlos die Tür aufklinkte und Bettlerei und Aberglauben habe ich gesammelt und werde sie demnächst in der Ztschft. f. Sozialwissenschaft" veröffentlichen.

1) „Das deutsche Blatt" (Berlin) vom 1. Januar 1907.

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