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III.

Die Entstehung des Asylrechts.')

Von

Erich Rogowski, Gnesen.

Das Recht einer Gemeinschaft rankt sich an ihrer Gesamtkultur empor, wie der Efeu an einem Säulenbau. Jeder Rechtssatz ist ein Efeuschößling. Erst wenn die einzelne Säule aufgerichtet dasteht, vermag der Efeuschößling an ihr emporzuklimmen. Erst wenn ein Kulturzweig entstanden ist, vermag sich zu seinem Schutz ein Rechtssatz zu bilden. Erst mußte die Erzeugung von elektrischer Kraft erfunden und angewandt sein, erst durfte an der elektrischen Kraft straffrei ein „Diebstahl" verübt werden; dann erst erging das Strafgesetz über die Entziehung von elektrischer Arbeit. Daß vollends ein Gewohnheitsrecht sich nur für bereits bestehende Kulturzweige bilden kann, liegt in seinem Begriff begründet.

Nur selten gibt es weitschauende Gesetzbildner, deren Blick Jahrzehnte der Zukunft und ihre werdende Neukultur durcheilt. Sie sind die einzigen, die Gesetze für noch ungeborene Kulturformen geben könnten: Das Autorrecht an dem Inhalt der phonographischen Platte, das Recht also, das z. B. der Komponist an seiner Schöpfung hat, wenn er sie, statt sie in Noten zu kleiden, vom Phonographen niederschreiben läßt, dieses Recht hat Kohler schon zehn Jahre vor der Erfindung der phonographischen Platte entwickelt.

Die Regel aber ist, daß der neue Rechtssatz sich eine Zeit später erst bildet als die neue Kulturerscheinung. Besonders deutlich erkennt man dies bei dem Entstehen der ersten Rechtseinrichtungen einer ursprünglichen Rechtsgemeinschaft, eines Naturvolks. Nur ganz wenig Rechtsgüter hat ein Naturvolk zu schützen, vor allem nur Leib und Leben. Und diese Rechtsgüter schützt das Naturvolk durch das Recht der Vergeltung, durch das Recht der Rache. Doch dieses Recht ist kein autochthon menschliches Recht, ist keine Erfindung gerade des Menschengeistes. Das Naturvolk hat

1) Die Abhandlung beruht auf einem Vortrag, der vor kurzem im Königlichen Kriminalistischen Seminar der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Direktor: Herr Geheimer Justizrat Professor Dr. Franz v. Liszt) gehalten wurde.

das Recht der Rache vielmehr mit den meisten lebenden Geschöpfen gemein, mit der Löwin, der man ihr Junges geraubt hat, wie mit dem gestörten Bienenschwarm. Wo die Rache des „Wilden", des Sohnes des Naturvolks, den Schuldigen nicht erreicht, wendet sie sich gegen des Täters Bruder, gegen seinen Sohn oder Neffen, je nachdem Vater- oder Mutterrecht herrscht, gegen seine Sippe. Oder aber, wenn der Schuldige Sippengenoß ist, verliert er bei manchen Völkern seine Rechte als Genoß und wird in die Wildnis hinausgejagt, bis er ein anderes Volk trifft, das etwa ihn aufnimmt.

Zum ersten Male wurde in einem Naturvolk der Rechtssatz der Rache durchbrochen, als ein Rächer als erster gehindert wurde, Rache zu nehmen; zum ersten Male wurde der Rechtssatz der Friedloslegung in seinen Wirkungen vereitelt, als ein Friedloser als erster im fremden Stamm aufgenommen wurde. Der erste Fall eines Asyls war damit gegeben, das sich nunmehr durch gewohnheitsmäßige Übung zum Asylrecht entwickeln sollte. Den Begriff des Asylrechts kennen wir bereits aus unseren Knabenjahren, wenn wir mit heißen Wangen unserm Freund, dem weißen Löwenjäger, in die Wüste folgten und ihn dort plötzlich von einer feindlichen Beduinenschar angegriffen sahen. Schon war sein Pferd tödlich getroffen unter ihm zusammengebrochen. Schon sprengten die Feinde mit dem Flintenkolben ausholend heran. Da blitzt ein Hoffnungsstrahl im Aug des Jägers auf. Er stürzt dem Vordersten der Angreifer entgegen, erfaßt sein Gewand und ruft ihm zu „ich stell' mich unter deinen Schutz" - und der Beduine muß ihn finsteren Blicks, aber mit freundlichem Wort gegen seine eigenen Stammesgenossen verteidigen.

Da wir nicht in der Lage sind, das Entstehen eines Asylrechts persönlich zu beobachten, müssen wir uns dieses Entstehen aus bestehenden Asylrechten heraus zu entwickeln suchen. Wir werden zu dieser Rekonstruktion die Asylrechte der heutigen Naturvölker verwerten, weil dies die einfachsten Asylrechte sind, die wir kennen. Berichte über Asylrechte der Naturvölker finden wir bei fast allen reisenden Wissenschaftlern, von denen Naturvölker besucht wurden. Gesammelt und gesichtet hat diese Berichte der bekannte Mitarbeiter dieses Archivs A. Hellwig, der durch Kohlers rechtsvergleichende Arbeiten angeregt, als erster ein „Asylrecht der Naturvölker" geschrieben hat. Ihm gebührt auch das Verdienst, als erster das Asylrecht eingeteilt zu haben in Verbrecherasyl, Fremdenasyl und Sklavenasyl: Verbrecherasylrecht ist der Schutz, der einem verbrecherischen Stammesgenossen unter bestimmten Umständen vom eigenen Volk gewährt werden muß; Fremdenasylrecht ist der Schutz, der dem

sonst rechtlosen Fremden unter bestimmten Umständen vom fremden Volk, vom Feindesvolk zuteil werden muß; das Sklavenasyl schützt den entlaufenen Sklaven vor seinem früheren Herrn.

Besonders rein erhaltene Typen des Asylrechts liefern, im Gegensatz zu Amerika, Australien, Afrika und Polynesien, weil zu den dortigen Naturvölkern der Weiße bis in die jüngsten Zeiten zumeist nur vereinzelt gelangt ist, die Völker selbst jedoch einander nur wenig beeinflußt haben; denn teils leben sie hordenweise über ungeheure Flächen zerstreut, teils sind winzige Inseln ihre Heimat, die nur selten ein Fremder besucht. Wenn trotzdem ihre Asylrechte sich verhältnismäßig gleichartig ausgebildet haben, so ist dies in der relativ gleichen Höhe ihrer übrigen Gesamtkultur begründet.

Die Rekonstruktion der Entstehung des Asylrechts, die wir uns zur Aufgabe gemacht haben, ist ein fast vermessenes Beginnen, da das von der Wissenschaft gesammelte Material noch lückenhaft ist und Fehler im Aufbau eines Systems gerade im Gebiet der vergleichenden Rechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie überaus häufig begangen werden. Doch stürzt der Turm, den wir bauen wollen, auch teilweise zusammen, so stand er doch eine kurze Zeit und gab dem Auge ein vielleicht einigermaßen anschauliches Bild von diesem so entlegenen Rechtsinstitut.

Wir nehmen nun den Faden wieder auf, den wir bei der Literaturangabe verließen. Es gab in jedem Naturvolk eine Zeit, wo ein Asylrecht noch nicht vorhanden war, sondern Rache (gegen den Sippegenossen vielleicht Friedloslegung) herrschte. Zu irgend einem Zeitpunkt wurde dann ein Rächer als erster gehindert, an einem Verfolgten die berechtigte Rache zu nehmen. Mit Erfolg gehindert konnte er nur werden durch etwas, das mächtiger war als sein auf die Erreichung der Rache gerichteter Wille. Dieses Etwas konnte entweder eine Hemmungsvorstellung in der eigenen Psyche des Rächers sein, oder aber der Wille eines anderen Menschen, den wir im folgenden mit Asylgewährer bezeichnen wollen. Doch vorerst sei von dem Asylgewährer noch nicht die Rede. Betrachten wir vielmehr, wie sich ein Asylgewohnheitsrecht entwickelt haben kann, einzig und allein durch Hemmungsvorstellungen in dem eigenen Innern des Rächers bedingt.

Solcher Hemmungsvorstellungen gibt es mehrere Kategorien. Zunächst die ethisch-ästhetischen Hemmungsvorstellungen, wie etwa das Mitleid, das der Rächer mit den Verfolgten fühlt. Diese Gruppe der Hemmungsvorstellungen scheint uns zum Hervorbringen eines Asylgewohnheitsrechts nicht geeignet zu sein, weil ethisch-ästhetische

Hemmungsvorstellungen, wie Mitleid, nicht in der Brust jedes Rächers eines Volks rege werden, sondern nur bei verhältnismäßig wenig Rächern, und dies in so großen zeitlichen Zwischenräumen, so intermittierend also, daß auf ihrer Basis ein Gewohnheitsrecht nicht zu entstehen vermag.

Eine fernere Klasse der Hemmungsvorstellungen in der eigenen Psyche des Rächers wäre die Klasse der materiellen Hemmungsvorstellungen, wie etwa der Gedanke: ich töte den Verfolgten nicht, weil er ein kräftiger Mann ist, den ich zum Sklaven gewinnen will; oder: ich töte den Verfolgten nicht, weil ich ihn gefangen nehmen und nur gegen schweres Lösegeld ausliefern will. Auch diese Gruppe scheint zur Hervorbringung eines Asylsgewohnheitsrechts nicht geeignet zu sein, weil die materiellen Hemmungsvorstellungen zumeist nicht stark genug sein werden, um das überaus mächtige Rachebedürfnis einzudämmen, das den Wilden erfüllt. Wir brauchen ja nur einen Vergleich zu ziehen zwischen dem Rachebedürfnis des gebildeten und dem des ungebildeten Europäers, um uns ungefähr ein Bild von dem furchtbaren Rachedurst machen zu können, den der Wilde fühlt,

Nachdem wir die ethisch-ästhetischen und die materiellen Hemmungsvorstellungen in der eigenen Psyche des Rächers als ungeeignet zum Asylbegründen ausgeschaltet haben, kommen wir zu einer dritten Kategorie der Hemmungsvorstellungen, den religiös magischen. Diese scheinen uns sehr wohl geeignet zur Begründung eines Gewohnheitsrechts. Denn einmal treten sie nicht nur bei einzelnen Volksgenossen auf, sondern leben in relativ ebenderselben Intensität in jedes einzelnen Seele. Zum anderen aber ist ihre Intensität bei jedem einzelnen Stammesgenossen so groß, daß sie geeignet erscheinen, selbst das mächtigste Rachebedürfnis zu überwinden. Es kann nun nicht unsere Aufgabe sein, einen Abriß etwa der Glaubensvorstellungen der Völker zu geben, vielmehr müssen wir uns darauf beschränken, zwei religiöse Ideengänge der Völker zu skizzieren, welche uns für die Entstehung des Asylrechts von ganz besonderer Bedeutung zu sein scheinen: einmal die Furcht vor Verzauberung, zum andern die Furcht vor den Toten.

Der Wilde glaubt, daß jemand dann die Fähigkeit erlangt, ihn zu verzaubern, d. h. ihm mit Erfolg etwas Böses zu wünschen, z. B. eine Krankheit oder den Tod, wenn der andere sich in den Besitz eines Teils der Ichpersönlichkeit des zu Verzaubernden gesetzt hat. Oder drastisch gesprochen: A glaubt, daß B ihn dann verzaubern, ihm dann mit Erfolg den Tod wünschen könne, wenn B ein Büschel Haare des A in den Händen hat. Nach dem Vorstellungsvermögen

mancher Völker genügt es auch, daß B den A vor der Verzauberung berührt hat oder aber, daß B gegen A bestimmte Zauberworte ausspricht: Der entlaufene Aschatisklave (an der afrikanischen Goldküste) vermag es, irgend einen Herrn zu zwingen, ihn zum Sklaven zu nehmen und dadurch vor seinem bisherigen Herrn zu schützen, indem er dem neuen Herrn für den Weigerungsfall den Tod anwünscht.1)

Und der zweite religiös-magische Ideengang, welcher besonders geeignet zum Begründen eines Asylrechts zu sein scheint, ist die Furcht vor den Toten. Allen Völkern der Erde gemein ist die Furcht vor dem Tode. Bei den Naturvölkern gipfelt die Furcht vor dem Tode in der Furcht vor den Toten. Jeder Tote hat die Macht, jedem, dem er will, Schaden zuzufügen. Von dieser Macht wird der Tote sicherlich Gebrauch machen, wenn er selbst von jemand ge kränkt, oder aber, wenn irgend einer seiner Angehörigen von jemand verletzt wird. Ebenso wie für seine Angehörigen, wird aber der Tote auch eintreten für alle, die zn ihm in ein gewisses Kontaktsverhältnis getreten sind, etwa dadurch, daß sie sein Grab betraten. Besonders gefürchtet wird natürlich der mächtige Tote, der schon im Leben nach Rang und Macht in hervorragender Weise respektiert wurde. Betrachten wir nun einmal folgenden Fall: Der Rächer verfolgt einen Schuldigen. Dieser, in furchtbarer Angst, flieht blindlings dahin und gelangt plötzlich auf das Grab eines mächtigen Häuptlings. Bei klaren, nicht von Angst getrübten Sinnen wäre der Verfolgte niemals auf das Grab geflohen, weil seine Furcht vor der Macht des Toten eine viel zu große ist. Nun er aber einmal das Grab berührt hat, ist er in ein Kontaktsverhältnis zu dem Toten getreten. Und dieser wird nun sicherlich jedem ein Leid zufügen, der es wagen sollte, den Schuldigen mit Gewalt vom Grabe fortzureißen. Der Rächer naht, er erkennt die veränderte Situation; die furchtbare Angst vor der Macht des Toten, der ja nunmehr den Schuldigen schützt, überwindet das gewaltige Rachebedürfnis des Rächers. Er steht von einer weiteren Verfolgung ab, wenigstens so lange, als sich der Schuldige auf dem Grabe aufhält.

Ein Präzedenzfall ist im Volk geschaffen. Die Sache spricht sich herum. Das nächste Mal, wenn ein Schuldiger fliehen muß, flüchtet er vielleicht bereits mit Absicht auf das Grab des mächtigen Toten. Ein Gewohnheitsrecht kann sich natürlich erst durch eine lange Reihe solcher Einzelfälle entwickeln. Mit auf diesem Ideengang beruht es, daß wir bei den heutigen Naturvölkern auf fast der 1) Post, „Afrik. Jurisprudenz", I, S. 104, zitiert von Hellwig S. 93.

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