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X.

Ein Fall von Schlaftrunkenheit.

Mitgeteilt von

Dr. Johann Jakob Przeworski, Advokat in Krakau.

Ein durchaus interessanter Fall der Schlaftrunkenheit ist im März 1908 in Lemberg vorgekommen und durch die Tageblätter beschrieben worden.

Gegen halb vier Uhr früh brachte in einer Droschke ein Polizeiwachmann zur Polizeiinspektion in Lemberg eine Frau, welche nur mit einem Hemd bekleidet war und vor Kälte zitterte. Man konnte sofort erraten, daß sie dem Bürgerstande angehörte. Befragt, gab sie an, daß sie Frau G. heiße, die Eigentümerin der Molkerei in Lemberg, Sniadeckistraße Nr. 7, sei, daß vor kurzem ein Mann in ihre Wohnung eingebrochen sei und ihre Tochter erschossen habe, zuletzt, daß sie unbewußt die Wohnung sofort nach der durch den unbekannten Mann verübten Tat verließ, darauf sei ihr der Polizeiwachmann begegnet, welcher sie auf die Polizeiwachstube brachte.

Unverzüglich hat die Polizei diesen Fall untersucht und folgenden Sachverhalt festgestellt:

Gegen drei Uhr früh hörte Frau G. in der an ihr Schlafzimmer angrenzenden Küche ein Geräusch. Sie stand auf und erblickte zu ihrem Schrecken in der Küche einen fremden Mann. Bestürzt ergriff sie einen Blumentopf und schleuderte ihn gegen den Eindringling. Der Blumentopf zerschlug einige Scheiben im Fenster und blieb dort liegen. Das Klimpern der zerschlagenen Glasscheiben machte auf die Frau den Eindruck eines auf ihre Tochter abgefeuerten Revolverschusses. Sie floh also auf die Straße, kam bloß mit einem Hemde bekleidet ein Stück Weg bis zum Postgebäude, dort begegnete ihr der Polizeiwachmann, führte sie zuerst zum Telegraphenamt, holte eine Droschke und brachte sie zur Polizeiwachstube.

Wie noch ermittelt werden konnte, ist der Dieb durch das Fenster in die Parterrewohnung eingeschlichen und sofort nach Eintreten der

Frau entflohen, da auf ihren Schrei die mit ihr in demselben Zimmer schlafende Tochter und der in dem angrenzenden Molkereilokal schlafende Bedienstete aus den Betten gesprungen sind und in die Küche in dem Augenblicke eintraten, als der Einbrecher, den sie noch gesehen haben, entfloh.

Die schlaftrunkene Frau wußte nichts davon, daß sie in der oben angegebenen Weise gehandelt hat, und war überzeugt, daß ihre Tochter durch den angeblich abgefeuerten Schuß ermordet wurde.

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Am 23. August 1858 wurde von der ledigen Antonie M. am Rukerlberg bei Graz ein Kind geboren, welches bei der Taufe den Namen Ernestine erhielt, und am 25. Oktober desselben Jahres ersuchte die Genannte unter Vorlage des Taufscheines bei dem Bezirksgerichte Graz um Aufstellung des Advokaten Dr. W. als Vormund für ihr uneheliches Kind, um dessen Vater zur Erfüllung seiner Pflichten zu verhalten. Die Bestellung des Dr. W. als Vormund der Ernestine M. erfolgte noch am nämlichen Tage und schloß derselbe am 10. Juli 1859 mit dem Vertreter des als Vater besagten Kindes bezeichneten Baron B. einen Alimentationsabfindungsvertrag, welcher vom Bezirksgerichte als Vormundschaftsbehörde am 13. Dezember 1859 genehmigt wurde. Laut dieses Vertrages verpflichtete sich Baron B. unter Anerkennung der Vaterschaft zu der am 23. August 1858 geborenen Ernestine M. zur Leistung der Alimentationskosten für dieses Kind von der Geburt an und weiters zum Erlag eines Kapitales von mehreren tausend Gulden mit der Bestimmung, daß die Zinsen desselben zur Bestreitung des Unterhaltes und der Erziehung der Ernestine M. verwendet werden sollen, wogegen für den Fall des Ablebens des Kindes vor seinem 16. Lebensjahre zwei Drittel des Kapitales an Baron B. zurück-, ein Drittel aber der Mutter Antonie M. zuzufallen habe. Als Baron B. starb, erfolgte am 7. April 1868 die Errichtung der Pupillarmasse Ernestine M. und bereits am 8. August 1869 überreichte Antonie M. beim Bezirksgerichte ein Gesuch um Bewilligung einer Aushilfe von 500 Gulden oder eines minderen Betrages aus dem Stammvermögen der Ernestine M., und zwar unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses über die Kränklichkeit des Kindes, und es wurde sohin die Extradierung von 200 Gulden in Obligationen zu Händen des Vormundes Dr. W. mit dem bewilligt, daß die Moda

Archiv für Kriminalanthropologie. 81. Bd.

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litäten der Verwendung des Geldes der Einsicht des Vormundes überlassen blieben, unter der Bedingung jedoch, daß das Geld nur für die Ernestine M. und insbesondere zur Herstellung der Gesundheit derselben verwendet werden dürfe. Dr. W. übergab der Antonie M. von der erhaltenen Summe zunächst nur einen Teil und machte die Ausfolgung des Restes von der Beibringung der Belege über die Verwendung des Empfangenen abhängig. Dagegen beschwerte sich Antonie M. beim Bezirksgerichte mittelst einer schriftlichen Eingabe und ersuchte zugleich um Enthebung des Dr. W. von der Vormundschaft und um Bestellung eines in der Ferne lebenden Verwandten als Vormund ihres Kindes, welchem Ansuchen jedoch keine Folge gegeben wurde. Bei dieser Gelegenheit gab Dr. W. Zweifel kund, daß die Ernestine M. überhaupt existiere, nachdem er auf die Mitteilung der Antonie M., ihr Kind sei in einem Kloster in Pension, über Nachfrage die Auskunft erhielt, daß sich dort kein Kind solchen Namens befinde. Dazu kam noch, daß Dr. W. auch die Entdeckung gemacht hatte, das sich Antonie M. behufs Erlangung des früher erwähnten ärztlichen Zeugnisses eines fremden Kindes bediente, welches sie dem Arzte gegenüber als ihre Tochter Ernestine ausgab. Es wurde infolgedessen gegen Antonie M. wegen Verbrechens des Betruges die Voruntersuchung eingeleitet, dieselbe jedoch mit Beschluß vom 12. Dezember 1870 eingestellt, weil sich der Tatbestand eines verbrecherischen Betruges nicht herstellen ließ. Für die Annahme, daß Ernestine M. eventuell gar nicht geboren wurde, mangelte nämlich jeder Beweis und stand daher nur ihr von der Mutter verheimlichter Aufenthalt in Frage. Überdies konnte bei dieser Sachlage auch von einer Schädigung des Baron B. deshalb noch keine Rede sein, weil laut Bestimmung des Alimentationsabfindungsvertrages für den Fall des Ablebens der Ernestine M. vor ihrem 16. Lebensjahre ohnedies ein Drittel des für sie deponierten Kapitales der Antonie M. ausgefolgt worden wäre und der bis dahin von der Mutter für das Kind erhaltene Betrag noch lange nicht die Höhe dieses Drittels erreicht hatte.

Antonie M. suchte hierauf neuerlich und wiederholt beim Bezirksgerichte um Enthebung des Dr. W. als Vormund an, gab aber noch immer, gleich wie in der Voruntersuchung, den Aufenthalt ihrer Tochter Ernestine nicht bekannt, erklärte vielmehr, daß sie hierüber nicht eher Auskunft geben werde, als bis ein anderer Vormund bestellt sein würde. Das Bezirksgericht mußte endlich gegen Antonie M., welcher von 1870 ab die Zinsen des Pupillarvermögens nicht mehr ausgefolgt wurden, Zwangsmittel zur Anwendung bringen, um

dieselbe dadurch zur Angabe des Aufenthaltes ihrer Tochter Ernestine zu bestimmen; allein selbst mit den Pönalien bis hinauf über 100 Gulden, die fast durchwegs in Arrest umgewandelt werden mußten, wurde kein anderes Resultat erzielt, als daß Antonie M. am 13. September 1873 die Mitteilung machte, sie hätte ihr Kind Ernestine bereits im Dezember 1867 der Ingenieursgattin Karoline W. geschenkt, welche dann mit dem Kinde nach Pest übersiedelt sei, von wo ihr dieselbe die letzten Nachrichten im Jahre 1869 hätte zukommen lassen. Es wurden auch diesbezüglich Nachforschungen angestellt, allein eine Ingenieursgattin Karoline W. konnte weder in Pest, noch anderwärts eruiert werden. Die weitere Anwendung von Zwangsmaßregeln gegen Antonie M. unterblieb nunmehr, die Einstellung des Zinsenbezuges von dem für Ernestine M. deponierten Kapitale wurde dagegen aufrecht erhalten, obwohl Antonie M. wiederholt Versuche gemacht hatte, aus der Masse Geld zu erhalten.

Am 11. September 1875 wurde Dr. W. auf eigenes Ansuchen von der Vormundschaft über Ernestine M. enthoben und dafür Advokat Dr. D. als Vormund bestellt, aber auch diesem gegenüber verweigerte Antonie M. unter allerlei unglaubwürdigen Vorwänden jede weitere Auskunft über den Aufenthalt ihrer Tochter, was die Vormundschaftsbehörde zu fortgesetzten Nachforschungen, und zwar im Jahre 1883 auch durch die k. k. Polizeidirektion Graz veranlaßte, wodurch speziell ich in die Lage kam, mich um die Klärung des mysteriösen Falles zu bemühen. Hierzu schienen mir drei verschiedene Wege offen zu stehen, nämlich:

1. Fortsetzung der Nachforschungen nach Ernestine M. unter der Voraussetzung, daß dieselbe wirklich geboren, später aber von der Mutter an die Ingenieursgattin Karoline W. verschenkt wurde. 2. Einleitung von Erhebungen im Hinblicke auf die Eventualität, daß Ernestine M. gar nicht geboren wurde.

3. Einleitung von Erhebungen in der Voraussetzung, daß Ernestine M. zwar geboren wurde, daß sie aber bereits gestorben war, als der Alimentationsabfindungsvertrag mit Baron B. perfekt geworden, ja vielleicht schon damals, als der erste Schritt zur Aufstellung des Dr. W. als Vormund gemacht worden war.

Ich wählte zunächst den letzterwähnten Weg, hauptsächlich deshalb, weil die dort hervorgehobenen Eventualitäten bisher nicht in Betracht gezogen worden waren, mir aber darin der eigentliche Grund zu liegen schien, weshalb die Antonie M. die Bekanntgabe des Aufenthaltes ihres Kindes so hartnäckig verweigerte. Ich forschte also zunächst beim Pfarramte St. Peter bei Graz, in dessen Sprengel

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