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Wahrscheinlichkeit sind die Beweggründe abergläubische Vorstellungen der geschilderten Art.

Im Juli 1905 wurde in Neapel ein kleines Mädchen beerdigt und vor kurzem sollten die Ueberreste in einer kleinen Kapelle beigesetzt werden. Bei der Exhumierung fiel das außerordentlich leichte Gewicht des Sarges auf, und beim Oeffnen desselben stellte sich heraus, daß er nur den in Stroh gehüllten Kopf des Kindes und einige Weichteile des Körpers enthielt. Die Professoren Antonelli nnd Fiamiani, welche den Kopf untersuchten, erklärten, derselbe müsse bald nach dem Tode vom Rumpf gerissen worden sein. Die polizeilichen Nachforschungen führten zu der Entdeckung, daß der Körper des Mädchens unmittelbar nach dem Begräbnis wieder ausgegraben worden war, und daß die Knochen pulverisiert wurden, um für allerhand nekromantische und sonstige abergläubische Gebräuche zu dienen, welche bei der Bevölkerung jener Gegenden noch immer sehr beliebt sind.

17.

Ein religiöses Menschenopfer in Rußland. Rußland kann als das klassische Land des religiösen Fanatismus bezeichnet werden. Nirgends führen religiös gefärbte abergläubische Vorstellungen auch nur annähernd zu so vielen und schrecklichen Verbrechen wie im Reiche des Zaren. Viel Unheil richten besonders an die biblische Erzählung von der Opferung Isaaks und das Dogma von der Erlösung der Menschheit durch Christi Kreuzestod. Zu allen Zeiten und in allen Ländern hat es Fanatiker gegeben die durch ein Menschenopfer1) ein gottgefälliges Werk zu tun meinten und entweder sich selbst opferten oder einen Dritten ermordeten. Stoll 2) führt viele Fälle für beide Spielarten des religiösen Menschenopfers

an.

Löwenstimm 3) und neuerdings auch Stern) haben diese Beispiele speziell für Russland beträchtlich vermehrt. Einen neuerlichen derartigen bedauerlichen Vorgang schildern nach dem „Berliner Tageblatt" vom 12. August 1907 russische Blätter unter der Ueberschrift „Die Ermordung des Antichrist". Das grauenvolle Drama trug sich in dem Dorfe Syssajewo im Gouvernement Mohilew zu. In diesem Dorfe lebt ein gewisser Michael Koltschewski, der von den Bauern als „gottbegnadeter" Mensch betrachtet wurde. Dieser sonderbare Heilige erklärte eines Tages plötzlich, daß er im Schlaf ein Gesicht gehabt habe: alles Unheil in der Welt komme vom Antichrist, und dieser müsse getötet werden in der Person eines zweijährigen Knaben, des Sohnes des Bauern Grobatschewski. Koltschewski nahm den Knaben aus den Händen seines Vaters, der zu dieser Opferung seine Zustimmung erteilt hatte. Der Prophet legte nun das Knäblein zu

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1) Gut orientiert über die verschiedenen Arten des Menschenopfers Westermarck „Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe", deutsch von Katscher Bd. I (Leipzig 1907) S. 362-398.

2) Stoll Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie“ (2. Aufl. Leipzig 1904).

3) Löwenstimm „Der Fanatismus als Quelle des Verbrechens“ (Berlin 1899). 4) Bernhard Stern Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in RußlandBd. I (Berlin 1907) S. 228-255.

Boden und trampelte auf ihm mit den Füßen herum.

Nach 15 Minuten

war der „Antichrist", der unglückliche kleine Mischa, tot. Unbefriedigt von dieser Brutalität führte der Unmensch mit einem schweren Hammer noch 20 Schläge gegen den Kopf des Kleinen. Hierauf ließ er die Leiche des Kindes in zwei Teile zerreißen. Nachdem dieser Befehl von acht Bauern ausgeführt war, nahm der „Prophet" ein Beil und zerhackte den Körper des Kindes in vier Teile, die er auf einen Karren legen ließ. Der Karren wurde an den Schwanz eines Pferdes gebunden, worauf der „Prophet" selbst das Pferd bestieg und von einer Bauernschar mit brennenden Lichtern (die Untat geschah in der Nacht) begleitet durch das ganze Dorf ritt, um den „Antichrist" zu Grabe zu tragen; dem Zuge, der sich unter Absingung von Lobgesängen durch das Dorf bewegte, wurde ein Bild des Wundertäters Nikolaus vorangetragen. Als der Morgen anbrach, forderte Koltschewski die Bauern auf, um 8 Uhr abends wiederzukommen, um ein Wunder zu sehen: er werde auf ein Dach steigen, wie die Sonne strahlen, und nachdem er blendend weiß wie Schnee geworden, in den Himmel fahren“. Als um 8 Uhr die Bauern sich in der Hütte des „Propheten" einstellten, sagte Koltschewski, man habe die Genehmigung" des Geistlichen einzuholen vergessen. Nun gerieten die Bauern in große Wut. Zufällig fuhr der Stanowei-Priestaw vorbei, der den Koltschewski verhaften ließ. Hierauf wurden noch 34 Bauern des Dorfes festgenommen und nach Dubrowka zum Untersuchungsrichter gebracht. Koltschewski, ein erst 23 Jahre alter Mensch, ist anscheinend geistesgestört. Bemerkenswert ist, daß der Haupttäter geisteskrank sein soll. Es wäre dies dann ein neuer Beleg für die schon öfters konstatierte Tatsache, daß derjenige, von dem eine geistige Epidemie ihren Ausgang nimmt, vielfach geisteskrank ist, während die von seinen Ideen Angesteckten" psychisch nicht als abnorm bezeichnet werden. können.1)

18.

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Der Sinn des grumus merdae. Dr. Näcke meint am Schluß seiner letzten Mitteilung über die Vertreibung böser Geister durch schlechte Gerüche (Bd. 30 S. 174), der Gebrauch des grumus merdae am Tatorte seitens der Diebe sei vielleicht weniger ursprünglich als Sühnopfer aufzufassen, wie ich meine, sondern sei vielleicht dazu bestimmt, mit seinem Gestanke die guten Schutzgeister zu vertreiben. Als ich jene Hypothese aufstellte 2), befand ich mich noch in den ersten Stadien meiner Forschungen über kriminellen Aberglauben und hatte insbesondere über den Brauch des grumus merdae im Verhältnis zu den mir heute zur Verfügung stehenden Materialien nur relativ wenig gesammelt. Obgleich meine Hypothese von einem Volkskundigen von solcher Bedeutung wie Friedrich. S. Krauß gebilligt worden ist 3), bin ich mittlerweile selber zweifelhaft geworden, ob diese Annahme tatsächlich zutrifft. Daß Geister durch schlechte Gerüche vertrieben werden, ist ein dem Volksglauben ganz ge

1) Vgl. Hellpach „Geistige Epidemien“ (Frankfurt a. M. 1908). 2) Meine Skizze Weiteres über den grumus merdae“, „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform" Bd. II (Heidelberg 1905) S. 642 f. 3) Anthropophyteia", hg. von Krauß, Bd. IV S. 346.

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läufiger Gedanke und habe ich darüber eine Unzahl von Beispielen zur Verfügung. Insbesondere wendet man die Exkremente auch als Abwehrmittel gegen Hexen und gegen den Teufel an. So sagt man in Cusow in Hinterpommern, wenn die Milch behext ist und man deshalb nicht buttern kann: Wenn' t nich bottre schall, bottert nich, o wenn ma die Hose aftreckt o rinne schitt." 1) Und im zweiten Teil von Luthers Tischreden heißt es folgendermaßen: „Dr. Pommers Kunst ist die beste, daß man sie (die Teufel) mit Dreck plaget und den oft in der Milch rühret, so stinket ihr Ding aller; denn als seinen Kühen die Milch auch gestohlen wurde, so streifte er flux die Hosen ab und brocket dem Teufel einen Wächter in einen Asch voller Milch uud rührets um und sagt: „Nun fret (friß), Teufel!“ Darauf wart ihm die Milch nimmer entzogen. 2) Wenn man diesen Volksglauben berücksichtigt, so erscheint es tatsächlich nicht unwahrscheinlich, daß die Beschmutzung des Tatortes durch Diebe wenigstens ursprünglich in der Absicht vorgenommen worden ist, um Geister zu vertreiben. Ich würde allerdings eher annehmen, daß dadurch die bösen Geister, insbesondere der Teufel, verhindert werden sollen, sich des Diebes zu bemächtigen, über den sie seines sündhaften Tuns wegen Gewalt haben, als wie Näcke meint, daß dadurch die guten Schutzgeister verscheucht werden sollten. Gegen diese Hypothese spricht freilich die Bezeichnung des grumus merdae als Wächter", "Nachtwächter", Schildwache“, „Hirt“ usw. 3), worüber ich gleichfalls zahlreiche neue Belege gesammelt habe. Diese Bezeichnungen ließen sich mit der Theorie des Sühnopfers sehr gut erklären, nicht dagegen mit der Theorie der Geistervertreibung. Auch werden die Analogien des grumus merdae, wie wir sie bei den Griechen und Arabern finden, nämlich das Onanieren am Tatort und Zurücklassen von Sperma 4) auf diese Weise nicht erklärt. Schließlich findet die Theorie des Sühnopfers auch ihre Stütze in den zahlreichen Parallelen, die ich im nächsten Hefte des Archivs in einer Abhandlung über Kriminaltaktik und Verbrecheraberglauben zusammenstellen werde. Aus diesen Gründen scheint mir meine ursprüngliche Theorie doch noch am meisten Wahrscheinlichkeit zu haben, da sich durch sie weit mehr erklären läßt als durch die zuerst von Näcke zur Sprache gebrachte. Vorläufig möchte ich das Problem aber noch unentschieden sein lassen; wenn ich später einmal meine sämtlichen Materialien über den grumus merdae verarbeite, werde ich wohl auch hierüber mir Klarheit gewinnen.

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19.

Mystische Meineidzeremonien. Angeregt durch die in dem Handbuch von Groß enthaltenen Angaben über Meineidsaberglauben habe

1) Knoop, „Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuche und Märchen aus dem östlichen Teile von Hinterpommern" (Posen 1885) S. 171 Nr. 147.

2) Birlinger, „Aus Schwaben", I, 409, zit. bei F. Liebrecht „Zur Volkskunde" (Heilbronn 1879) S. 353.

3) Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform", I 270, II 640 f.

4) Ebenda Bd. II 064.

ich in zwei größeren Abhandlungen („Gerichtssaal" Band 66 S. 79/105 und Band 68 S. 346/402) zahlreiche Meineidsceremonien der verschiedensten Völker systematisch gesammelt und zu erklären versucht.') Seitdem habe ich schon wieder zahlreiche neue Belege gefunden, die ich in einiger Zeit in einer größeren Nachtragsabhandlung zusammenhängend darstellen werde. Im folgenden möchte ich nur die wertvollen hierhergehörigen Notizen wiedergeben, welche ich in dem „,Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde" von Ludwig Hugo Franz von Jagemann (Frankfurt 1838) gefunden habe. In der älteren kriminalistischen Litteratur finden sich zahlreiche, auch für die moderne Kriminalistik wichtige Notizen, und insbesondere das Jagemannsche Handbuch kann in gewissem Sinne als ein interessanter Vorläufer des Groß'schen Handbuches gelten. Im § 489 spricht von Jagemann von den Ränken der Schwörenden. Er sagt dort wörtlich: „Es gibt solcher Hintergehungen gar viele und mancherlei. Manche träumen sich, der Eid gelte nicht, wenn sie die Schwurfinger nach außen kehren, weil sie dann nicht ins Innere sondern, nach dem gemeinen Ausdruck aus dem Gewissen heraus schwören. Man muß daher nicht zulassen, daß die rechte Hand nach auswärts gedreht werde. Andere strecken nicht die drei ersten, sondern drei andere Finger, oder auch nur zwei, aus, und denken, der Eid habe keine verbindliche Kraft (dies ist wenigstens dem Verfasser schon versichert worden und hat, besonders bei dem heimtückischen Charakter der Bauern viel wahrscheinliches) weshalb man jedesmal aufmerken muß, daß die übliche Form eingehalten wird. Noch andere halten die linke Hand unter Ausstreckung derselben Finger heimlich wider den Rücken und bilden sich ein, der Eid bleibe so nicht in der Seele haften sondern dringe unmittelbar durch den Körper hindurch (besonders Juden sollen sich dieser List bedienen. Doch machte der Verfasser noch keine derartige Erfahrung.) Diese plumpe List ist aber leicht zu erkennen und zu verhindern. Ferner muß man darauf wachen, daß sämtliche Schwörende die ganze Eidesformel ohne Zusatz oder Auslassung genauestens nachsprechen, und bemerkt man, daß jemand ein Wort unterdrückt dieses hat der Verfasser selbst schon häufig beobachtet und in einem Falle sogar die ganze Formel noch einmal von vorne sprechen lassen so spricht man es ihnen wiederholt vor, bis er es deutlich nachsagt. Am leichtesten kann es vorkommen, daß ein schlauer Zeuge dem Worte: „Ich schwöre!" das Wörtchen „nicht" halblaut oder nur in Gedanken beisetzt, oder daß er statt: „nichts, als die Wahrheit" sagt:,,nicht die Wahrheit" (auch dies begegnete dem Verfasser schon). Wenn mehrere zugleich schwören, so muß natürlich die Aufmerksamkeit des Richters um so schärfer sein. Wir haben hier Belege für fast alle Gruppen der mystischen Meineidszeremonien die ich aufgestellt habe. Auch noch an verschiedenen anderen Stellen seines Handbuches spricht v. Jagemann von dem Meineidsaberglauben und macht insbesondere mit Recht darauf aufmerksam, welchen großen Wert das Volk auf die genaueste Beachtung aller Förmlichkeiten bei der Eidesleistung legt.

1) Vgl. jetzt auch mein Buch über „Verbrechen und Aberglaube“ S. 119 ff. In dem „Archiv für Religionswissenschaft" (Leipzig) werde ich das Thema nächstens wiederaufnehmen.

Besprechungen.

1.

Rudolphine Poppee, beeidete Schriftsachverständige beim kk. Landgericht Wien, „Graphologie", mit zahlreichen in den Text gedruckten Schriftproben. Leipzig 1908. J. J. Weber.

Das kleine Buch stellt die wichtigsten Momente der Graphologie gut dar und bringt namentlich eine große Zahl trefflich wiedergegebener Schriftproben. Solche Schriftproben machen häufig den Eindruck von Fälschungen: sie sehen ängstlich, strichweise nachgemacht und zu vorsichtig aus, sie bringen nur die Form, nicht den Inhalt der dargestellten Schrift. Dies ist vorliegend nicht der Fall, die Reproduktionen sind gut. Im Text geht die Frau Verfasserin entschieden zu weit; wie sie sagt, will sie Ungläubige bekehren", will Medizinern und Juristen die Bedeutung der Graphologie nachweisen; sie behauptet, die Zusammenhänge zwischen besonderen Schriftformen und Schrifteigenheiten mit seelischen und geistigen Eigentümlichkeiten aufgedeckt zu haben" etc. So weit sind wir noch lange nicht, und Vorgänge der letzten Zeit haben ernsthaft zur Vorsicht gemahnt.

H. Groß.

2.

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R. E. Schnorf Schematische Anleitung zur Untersuchung von Brandfällen. Zürich und Berlin 1907. Arnold BoppGanz gut und kurz. Aber die Instruktion und Fragebogen für Brandstiftungsuntersuchungen" von R. Medem (Greifswald 1889) sind vor H. Groß.

zuziehen.

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3.

Menschen, die den Pfad verloren", von Schwester Henriette. Arendt, Polizeiassistentin in Stuttgart. Zweite Auflage. Stuttgart. Max Kielmann.

Das am wenigsten Gelungene des Buches ist der Titel, der einen Roman vermuten läßt. Einen solchen haben wir aber nicht vor uns. Die Verfasserin ist eine sehr kluge, wohlwollende und wohltätige Frau, die in ihrem Berufe als Polizeiasstistentin viel Unglück und Schlechtigkeit mit klarem, nachsichtigen Blick wahrnahm, viel geholfen hat, und nun ihre Ansichten und Vorschläge in schlichten, gesund empfundenen Worten dar

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