Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

zeitig aber lebend geboren waren, schnell starben und von einer schwindsüchtigen Mutter stammten, im gesamten Zentralnervensystem leichte pathologische Veränderungen und Entartungen am Zellenleibe und an den Nervenfasern nachweisen konnte. Er meint wohl mit Recht, daß nicht nur die Toxine der mütterlichen Schwindsuchtsbazillen und die schlechte Ernährung im Uterus den kindlichen Keim im ganzen geschädigt haben, sondern im besonderen auch das Nervensystem, welches folglich anders funktionieren muß und minderwertig bleibt, selbst wenn eine gewisse restitutio ad integrum möglich sei. Diese Minderwertigkeit erkläre dann das leichte Entstehen von Nerven- und Geisteskrankheiten bei solchen Abkömmlingen.

Von Dr. Albert Hellwig, Berlin-Weidmannslust.

10.

Sittlichkeitsverbrechen aus Aberglauben. In Band 30 S. 177 berichtet Dr. Näcke ein interessantes Beispiel sexuellen Aberglaubens. Zu Unrecht scheint er mir aber auf beiden Seiten den guten Glauben zu bezweifeln. Möglich ist freilich, daß sich die Sache so zugetragen hat, wie er vermutet, für sehr wahrheinlich halte ich dies aber nicht. Der betreffende Aberglaube, sich durch den Coitus mit einem unschuldigen Mädchen von Geschlechtskrankheiten heilen zu können, ist weit verbreitet. Ich habe ihn kurz behandelt in § 10 meiner Abhandlung über den kriminellen Aberglauben in seiner Bedeutung für die gerichtliche Medizin (Aerztliche Sachverständigen-Zeitung Berlin 1906 Nr. 16 ff.)1) Zurzeit bin ich gerade dabei, meine umfassenden Materialien darüber zu verarbeiten. Als Resultat läßt sich feststellen, daß der fragliche Aberglaube weiter verbreitet ist, als man annimmt. Daß dieser Aberglaube sich nur auf die untersten Schichten beschränkt, halte ich für irrig; wie auch bei anderen nicht minder krassen Arten des Aberglaubens finden wir hier und da auch sogenannte " Gebildete", welche in dem gleichen Aberglauben befangen sind. Dr. Näcke meint, das Mädchen habe sich ihrem Bräutigam, trotzdem sie an jenen Aberglauben nicht glaubte, aus Liebe oder Mitleid" hingegeben. Dieses Motiv wäre meines Erachtens aber nur dann vorhanden, wenn sie in jenem Aberglauben befangen gewesen wäre, also geglaubt hätte, ihren Verlobten durch ihre Preisgabe heilen zu können. Daß der Bräutigam jenen Aberglauben teilte, erscheint mir deshalb wahrscheinlich, weil er andernfalls doch gewußt hätte, daß er seine Braut anstecken werde und deshalb befürchten mußte, daß nicht nur die Verlobung aufgelöst werde, sondern er auch noch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werde. Wichtig ist, daß der Abergläubische wohl durchweg meint, auf diese Weise werde er von seiner Krankheit befreit, ohne daß das Mädchen angesteckt werde. 2)

[ocr errors]

1) Vgl. auch meine in der Krauß'schen „Anthropophyteia" Bd. III veröffentlichte Umfrage über „Volksglaube und Sexualdelikte".

2) Analogien bieten das Übertragen von Krankheiten auf Bäume (vgl. mein Buch „Verbrechen und Aberglaube", Leipzig 1908, § 7) und auf Tiere; letzteres führt zur Sodomie.

11.

Wie erklären sich Identitätsirrtümer? In Band 28 Seite 381f, hat Professor Reiss im Anschluß an meine in Band 27 Seite 352 ff veröffentlichte Arbeit über Identitätsirrtümer zwei weitere sehr interessante Fälle beigebracht und ausgeführt, daß zur Erklärung derartiger Fälle vor allem die Tatsache herangezogen werden müsse, daß wir den Toten in liegender Lage nicht wiedererkennen, daß daneben freilich wohl auch noch die von mir betonte Autosuggestion an den Rekognitionsirrtümern schuld sei. Meiner Ansicht nach ist aber der Einfluß der Suggestion, die durch die verschiedenartigsten Umstände bewirkt werden und in negativer und positiver Hinsicht sich geltend machen kann, bei weitem der Hauptfaktor. Denn die Ungewöhnlichkeit der Lage kann doch nur bei der Rekognoszierung Fremder wirksam sein, nicht aber, wenn es sich, wie in dem krassen Barunschweiger Fall, um Mann und Frau handelt oder wenn sonstige nahe Familienangehörige in Frage kommen, die sich doch oft genug auch in liegender Stellung gesehen haben, die also durch die Lage der Leiche nicht irregeführt werden können. Daß letzteres Moment neben der Suggestion auch noch in Frage kommen kann, will ich durchaus nicht bestreiten. Vielleicht wäre zu erwägen, ob man aus diesem Grunde nicht die Leichen, deren Identität festgestellt werden soll, in eine aufrechte Lage bringen soll, was durch irgend eine kleine Vorrichtung doch sicherlich ohne Mühe bewirkt werden kann. Bemerkt sei noch, daß auch Professor William Stern in einem Referat über meine Arbeit in der Zeitschrift für ange wandte Psychologie und psychologische Sammelforschung" (Bd. 1, Leipzig 1908, S. 448) bezüglich des Braunschweiger Falles bemerkt: „Selten ist wohl eine durch Autosuggestion bewirkte Wahrnehmungsfälschung in so krasser Weise hervorgetreten wie hier", meiner Ansicht also beitritt.

12.

Ermordung Besessener durch Indianer. Der Glaube, daß es eine dämonische Besessenheit gibt, und daß manche Krankheiten, besonders Epilepsie und manische Geisteskrankheiten auf derartige übelwollende Dämonen, christlich geredet, den Teufel zurückgeführt werden müßten, kann als universal bezeichnet werden. Wenn selbst moderne Theologen diesen Glauben als heiliges Dogma betrachten und auch spiritistische Ärzte die Realität des Besessenseins fanatisch verteidigen, ja, wenn selbst aus neuester Zeit in den modernen Kulturstaaten Fälle bekannt geworden sind, wo dieser Glaube zu Verbrechen Anlaß gegeben hat 1) — auch manche Mißhandlung von Geisteskranken mag auf diesen Aberglauben zurückgehen, so kann es wirklich nicht Wunder nehmen, wenn kürzlich von den Zeitungen berichtet wurde, daß unter den CreeIndianern noch der Glaube herrsche, ein im Fieberdelirium befindlicher Kranker müsse erdrosselt werden. Die Regierung von Canada hat drei Häuptlinge des Stammes, die vor kurzem unter großen Zeremonien 20

1) Vgl. meinen Aufsatz: Zur Psychologie und Therapie der Besessenheit“ (,,Kosmos", Stuttgart 1907) S. 228-231 und mein Buch Verbrechen und Aberglaube (Leipzig 1908) § 4.

[ocr errors]

Personen auf diese Art aus dem Leben befördert hatten, wegen Mordes unter Anklage gestellt. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so müßten m. E. die Angeklagten freigesprochen werden, so wenig wünschenswert die Straflosigkeit derartiger Mordtaten auch wäre. Die Angeklagten glaubten sich zu ihrer gesetzwidrigen Handlung nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Der Fall liegt ganz analog den Ermordungen von Hexen, den Leichenschändungen aus Vampyrglauben und ähnlichen Straftaten. In allen diesen Fällen wird meistens das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit fehlen und dürfte es deshalb kaum angängig sein, die Missetäter wegen vorsätzlichen Handelns zu verurteilen: höchstens könnte eine Fahrlässigkeitsstrafe Platz greifen. Besonders aktuell könnte dies Problem in unseren Kolonien werden. So sicher es

eine der dringendsten Aufgaben unser Kolonialpolitik ist, den sozialschädlichen Aberglauben der Eingeborenen zu bekämpfen, so falsch wäre es andrerseits, wenn derartige Auswüchse des Aberglaubens mit dem beliebten Maßstab des "normalen" Kulturmenschen gemessen würden. 1)

13.

Ein Mord aus Aberglauben? In der Neuen Hamburger Zeitung vom 13. August 1907 finde ich folgende Depesche aus Posen: ,,In der Nähe des Ortes Nekla fand man auf freiem Felde die Leiche des wandernden Schneidergesellen Adolf Hübner aus Sachsen. Der Tote war auf ganz entsetzliche Weise verstümmelt. Die Haut war ihm buchstäblich über den Kopf gezogen. Aus dem Körper waren drei Stücke Fleisch herausgeschnitten; die Finger fehlten. Von den Tätern fehlt jede Spur. Diese grausige Verstümmelung der Leiche legt den Verdacht nahe, daß es sich um eine Leichenschändung oder gar um einen Mord aus Aberglauben handelt. Gerade aus dem Osten Deutschlands sind auch aus den letzten Jahrzehnten eine Reihe ähnlicher Fälle von Mannhardt2) und von mir in meinem Aufsatz über „Die Bedeutung des kriminellen Aberglaubens für die gerichtliche Medizin" in der „Aerztlichen Sachverständigen-Zeitung", Berlin 1906 Nr. 16 ff) veröffentlicht worden. Demnächst werde ich eine vierfache Leichenschändung aus Talismanglauben, die vor einem Jahre die Posener Strafkammer beschäftigte, aktenmäßig ausführlich darstellen 1). Dieser Fall ist auch insofern interessant, als bei den Ermlittelungen alle andern möglichen Motive in Betracht gezogen wurden, nur nicht der Aberglaube, trotzdem die ganze Ausführung des Verbrechens auf einen abergläubischen Täter schließen ließ.

[ocr errors]

1) Vgl. jetzt auch die interessanten Ausführungen von Reichel über Gespensterglauben und Zurechnungsfähigkeit in Bd. 29. Ich stimme ihm ganz bei; vgl. auch mein Buch 5. Sowohl obigen Artikel als mein Buch hatte ich übrigens fertiggestellt, bevor Reichels Artikel erschien.

2) Mannhardt: „Die praktischen Folgen des Aberglaubens“ (Berlin 1879) S. 21 f.

3) Vgl. auch Hermann L. Strack: „Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit“ (5.-7. Aufl., München 1900, S. 71 ff), sowie mein Buch über -Verbrechen und Aberglaube" (Leipzig 1908) S. 73-78.

4) Kurz behandelt in meinem eben zitierten Buch S. 75.

14.

Wirksamer Diebszauber. Zahlreich sind die mystischen Mittel, durch die in primitiven Verhältnissen die soziale Ordnung aufrecht erhalten wird. Auch der heutige Volksglaube hat noch zahlreiche abergläubische Mittel, um Diebe und andere Verbrecher von der Begehung von Straftaten abzuhalten oder wenn die Verbrechen schon verübt sind, die Missetäter zu ermitteln bezw. zu bestrafen. Es leuchtet ein, daß bei den sogenannten Naturvölkern, wo die ganze soziale Ordnung auf dem Glauben an die Wirksamkeit dieser mystischen Prozeduren beruht, diese Mittel auch den gewünschten Erfolg haben. Daß wenigstens eins dieser Mittel auch bei den heutigen Kulturvölkern noch mit Erfolg in der Rechtspraxis Anwendung findet, ist allgemein bekannt ich meine den Eid. Daß aber auch envoûtement, Totbeten und ähnliche Praktiken noch mit Erfolg angewendet werden können, dafür ließen sich viele Belege auch aus neuester Zeit anführen. Es genüge folgendes, das die „Ostpreußische Zeitung" (Königsberg, den 13. Juli 1907) berichtet: „Mehrere Polen kneipten nach Schluß der Bahnarbeit recht wacker. Bei Zahlung der Zeche vermißte einer seine Börse mit 30 Mark. Niemand der Anwesenden wollte sie ihm genommen haben. Sogleich wurde großer Rat gehalten und beschlossen, der Bestohlene sollte sofort eine Reise nach der heiligen Linde zur Mutter Gottes machen, sie würde die Sache schon in Ordnung bringen. Im Nu waren 10 Mark Reisegeld von den Brüdern gespendet und die Reise sollte angetreten werden. Da trat ein Pole, ganz geisterbleich hervor und gab die 30 Mark zurück mit dem Bemerken, er hatte nur Spaß (zarty) machen wollen. Die Prügel, die er für diesen zarty besehen hat, waren nicht von schlechten Eltern.“1)

15.

Hexenglaube und Blutkuren.

An anderer Stelle habe ich einen aktenmäßigen Fall geschildert, in dem eine Frau eine angebliche „Hexe" mißhandelte, bis ihr Blut aus der Nase floß und dann mit diesem Blute ihren an Epilepsie erkrankten Sohn, dem die Krankheit von jener Hexe angetan war, zu bestreichen 2). Ein ähnlicher Fall wird jetzt wieder von den Zeitungen berichtet, u. a. von dem „Oberschlesischen Anzeiger" (Ratibor, den 9. August 1907). Die in Lötzen wohnende Arbeiterfrau S. war längere Zeit nervenkrank. Vergeblich wandte man allerlei Mittel an. Da gab eine „kluge Frau“ vor, die Ursache des Leidens und auch die Mittel zur Heilung entdeckt zu haben. Die Kranke war nach ihrer Meinung von einer Nachbarin, die sie genau bezeichnete, behext. Um zu genesen, sollte sie ihr Gesicht mit dem Blute der Hexe einreiben, sodann ein Stück von dem Kleid verbrennen. Die Kranke war damit einverstanden. Die vermeintliche Hexe wurde unter einem Vorwande an

1) Vgl. auch mein Buch über „Verbrechen und Aberglaube" (Leipzig 1908) S. 97 f. Manchmal werden freilich auch falsche Geständnisse erzielt: Ebendort S. 98. 2) Vgl. meine Skizze „Ein Fall von Körperverletzung infolge Hexenglaubens“ in der „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform“ Bd. III S. 219-222.

das Bett der Arbeiterfrau S. gerufen. Hier wurde die Frau vom Manne der Kranken festgehalten, während letztere ihr Gesicht zerkratzte und das Kleid zerriß. Diese Tat hatte den Erfolg für die Kranke, daß sie die Frau nunmehr reichlich entschädigen mußte. Hier hat der Aberglaube also nicht nur zu einer Körperverletzung sondern auch zu einer Sachbeschädigung geführt; eine Strafanzeige ist aber anscheinend nicht erstattet worden. Der Glaube von einer angehexten Krankheit durch Bestreichen mit dem Blut der Hexe und durch Verbrennen eines Stückes ihrer Kleidung heilen zu können, geht wohl auf den universalen Gedanken zurück, daß der Besitzer eines Gegenstandes, der mit irgend einer Person irgendwie in Beziehung steht, auch Herr über diese Person ist, sodaß er sie bezaubern kann, während sie ihm nichts anzuhaben vermag. Aus diesem Grunde benötigt man zu Zauberprozeduren meistens menschliche Sekrete oder Exkremente, wie Speichel, Schweiß, Urin oder auch Haare, Nägelschnitzel, oder auch irgend einen Gegenstand, den die betreffende Person hat. Aus diesem Grunde leiht man vielfach verdächtigen Personen keinen Gegenstand, 1) besonders nicht zu gefährlichen Zeiten, wo die Hexen sowie so großen Einfluß haben, so z. B. in den zwölf Nächten von Weihnachten bis Neujahr oder, wenn sich eine Wöchnerin im Hause befindet. Verbrennt man nun z. B. ein Kleidungsstück der Hexe, so ist damit ihr Bann gebrochen. Noch sinnfälliger wird man der Hexe Herr, wenn man sich mit ihrem Blute bestreicht, wobei zu berücksichtigen ist, daß das Blut als Seelenträger 2) gilt. Auf diesen Blutaberglauben gehen auch die zahlreichen uns bekannten Fälle von Leichenschändungen und Mordtaten aus Talismanglauben zurück. 3)

16.

Eine Leichenschändung aus Talisman glauben in Neapel. Immer wieder neue Fälle zeigen, daß der Aberglaube selbst in seiner schlimmsten Gestaltung noch durchaus lebenskräftig ist, daß die Verbrecher sogar vor Leichenschändungen und Mordtaten nicht zurückschrecken, wenn es gilt ihre abergläubischen Zwecke zu verwirklichen. Der Glaube, daß alle Teile des menschlichen Körpers als Ingredienzien einer besonders heilkräftigen Medizin von größtem Werte sind, ist uralt und lebt noch immer im Volke, wenngleich er zu Verbrechen nur noch selten Anlaß gibt. 4) Daß dieser Aberglaube dennoch als mögliches Verbrechensmotiv in Betracht zu ziehen ist, zeigt von neuem folgender Vorfall, den die „Bohemia" (Prag den 16. Mai 1907) aus Neapel zu berichten weiß. Die Motive sind allerdings noch nicht genügend aufgeklärt und werden es wohl auch niemals völlig werden, da es kaum gelingen dürfte des Täters habhaft zu werden; aber mit großer

1) Vgl. mein Buch „Verbrechen und Aberglaube" (Leipzig 1908), S. 9, 13. 2) Vgl. Wundt „Völkerpsychologie" Bd. II Teil 2.

3) Über Blutaberglaube und Hexenglaube“ vgl. jetzt auch S. 69f. meines Buches.

[ocr errors]

4) Vgl. mein Buch über Verbrechen und Aberglaube" (Leipzig 1908) S. 63 ff. 71 ff.

Archiv für Kriminalanthropologie. 30. Bd.

25

« ZurückWeiter »