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4.

Wirkung von Naturereignissen auf schwache Gemüter. Daß Naturereignisse wie Erdbeben, Eruptionen, Ueberschwemmungen, große Epidemien etc. imstande sind bei dazu Disponierten das psychische Gleichgewicht zu stören, ist schon längst bekannt und gerade die furchtbare Katastrophe in San Francisco hat dem Irrenhause so manche neue Insassen zugeführt. Daß aber auf dem Wege bloßer Suggestion auch psychische Entgleisungen erfolgen können ist selten genug. In dem Alienist and Neurologist, 1906, S. 489 lese ich nun, daß nach dem Erdbeben von Valparaiso in Tomsk (Sibirien) ein reicher, aber ungebildeter Gewerbetreibender, namens Loskutoff, offenbar irre geworden, alle seine Güter der Kirche übergab, in den sibirischen Dörfern umherwanderte und die Bauern zur Buße aufforderte, weil der Tag des Gerichts nahe sei. Noch sollten nach ihm 3 weitere große Erdbeben erfolgen, deren jedes eine blühende Stadt zerstören würde und darauf soll der Weltuntergang erfolgen. Loskutoff sammelte um sich mehrere Tausende von Gläubigen. Allabendlich kamen sie in Wäldern zusammen und hatten eigentümliche Zeremonien und manche gerieten so in Exstase, daß sie Krämpfe bekamen. Der Bischof von Tomsk hat das Erdbeben als Häresie“ bezeichnet.

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Wohl nirgends liegt so viel geistiger Zündstoff aufgehäuft, wie gerade in Rußland, was das Sektenwesen, die politischen Umstürze etc. genugsam beweisen. Es genügt dann nur, daß ein Fanatiker auftritt, mag er anch noch solchen Unsinn wie immer glauben, um sicher und leicht massenhafte Gefolgschaft zu finden. Hier spielen Rasse, Ungebildetheit das traurige Milieu, der Alkohol etc. mit. Wir haben ein Stück Mittelalter vor uns. Und in Sibirien liegen die Verhältnisse hierfür noch günstiger, als im europäischen Rußland. Die Verrführten sind aber, wie ich das schon s. Z. bez. der Duchoborzen sagte, nicht eigentlich geistesgestört, sondern nur suggestioniert.

5.

Dienstboten not und Dienstbotenjammer.

De Ryckère

hat seit Juli 1906 in den Archives d'anthropologie etc. eine Reihe von Aufsätzen über die Verbrechen der Dienstboten veröffentlicht, die hochinteressant sind, hier aber nicht weiter berührt werden sollen, dagegen einigermaßen die prophylaktischen Maßregeln. Die Kriminalität der Dienstboten hat zugenommen, wie de Ryckère nachweist und das meist aus sozialen Gründen, die sehr gut entwickelt werden. Hier also liegt der Angriffspunkt der Sanierung. Sehr richtig ist gesagt worden, daß noch ein guter Rest der alten Sklaverei in dem Verhältnisse von Dienstherren zu den Dienstboten enthalten ist und das von vielen in den Himmel gehobene alte patriarchalische Verhältnis ist sehr oft nichts weiter als verkappte Sklaverei. Darum zunächst weg mit dieser Patronisierung und dafür das neue Verhältnis des Vertrages, wie er bei der Fabrikarbeit und sonst besteht. Damit ist jedem Uebergriff seitens der Herren vorgebeugt. Wie richtig weiter gesagt wurde, muß eine künftige Gesetzgebung sich auch speziell der Dienstboten in sozialer Hinsicht annehmen. wie dies im Fabrikbetriebe geschieht, also vor allem mit

den hygienischen Verhältnissen sich befassen. Und hier sieht es, namentlich in den Großstädten, traurig genug aus. Ein großer Prozentsatz hat kein eigenes Gemach, oder nur einen kleinen finstern Alkoven, oder nachts müssen alle Dienstmädchen eines großen Hauses in kleinen, kalten, im Sommer durchhitzten Dachbodenkammern schlafen und ihr Zusammenkommen bildet außerdem große sittliche und andere Gefahren. Man sollte, wie schon vorgeschlagen ward, Preise ausschreiben für die beste wohnliche Unterbringung von Dienstboten, wie man für Arbeiterwohnungen etc. Preise ausschreibt. Das ist sehr schwierig, weil bekanntlich in Großstädten der Platz sehr knapp ist. Und doch muß ein eigener, hygienischer Raum für jede Person verlangt werden, ein eigenes kleines Heim, wohin sie in der freien Zeit sich zurückziehen können. Daß die Kost genügend sein muß, was nicht immer der Fall ist, versteht sich wohl von selbst. Sozial wirkt es schlecht wenn der Dienstbote andere Kost erhält als der Herr, meine ich, dagegen braucht er nicht am Familientische zu sitzen, das würde für beide Teile unangenehm sein und den Respekt untergraben. Daß aber eine üppigere Kost der Herrschaft, ebenso eine Reihe von Festlichkeiten aller Art die Dienstboten neidisch machen muß, versteht sich von selbst. In einer sozial so ernsten Zeit wie jetzt sollten die Herrschaften ein gutes Beispiel in Einfachheit etc. geben; wie viele aber denken daran? Gesundheitlich wären feste Stunden, nach Art eines Bureaudienstes am besten, leider läßt sich das, besonders, wo Kinder da sind, schwer bewerkstelligen. Doch sollte man Mittags eine bestimmte Ruhepause eintreten, abends nur bis zu einer bestimmten Stunde arbeiten (außer in Ausnahmefällen) und auch die Mädchen nicht zu früh aufstehen lassen. Auch freie Stunden an jedem Sonntage womöglich. Alles muß aber vertragsmäßig fixiert werden, damit sich niemand beklagen kann.1) Wenn man auf dem mir allein richtig dünkenden Standpunkte des Vertrages steht, so hätte sich die Herrschaft um das, was das Personal in der Freizeit macht, soweit ihr kein direkter Schaden daraus erwächst, nicht zu kümmern. Und doch wird man ethisch einzuwirken suchen. Man soll sich um das Wohl und Wehe der Leute kümmern, vorausgesetzt, daß sie es nicht etwa a limine abweisen, soll sie auch an harmlosen Vergnügungen etc. teilnehmen lassen und nicht vergessen, daß es Menschen sind, die wie wir wünschen, hoffen, verzweifeln. Dadurch wird also wieder eine Art patriarchalischen Verhältnisses angebahnt, das aber mit dem früheren nur wenig mehr gemein hat. Wie oft findet man in den obereren Ständen Fälle, Wo die Haustöchter in der Saison die Woche manchmal 2 bis 3 Bälle mitmachen und man es empörend findet, wenn das Mädchen einmal im Monate tanzen möchte! Man suche sie aber von öffentlichen Bällen abzuhalten und sie in ge

1) Es ist ein großer Unterschied, ob das hier Gewünschte freiwillig von der Herrschaft gewährt wird wie es in vielen guten Familien geschieht oder ob es ein Recht der Dienstboten ist. Erst mit letzterem stehen sie der Herrschaft gegenüber unabhängig da und haben ihr Maß von Freiheit, das sie als moderne Menschen verlangen dürfen.

schlossene Gesellschaften ihres Standes einzuführen. Auch finde man es nicht frech, wenn sie einen Bräutigam haben oder suchen. Ein schwerer Übelstand ist gesundheitlich die Kocherei in warmen, oft schlechten Küchen. Das Idealste wäre freilich, gemeinsames Kochen und Ausführenlassen gewisser Arbeiten, wie Reinigen, Scheuern etc. durch eine Art von Beamten, sodaß schließlich außer Kinderpflege und persönlicher Bedienung nicht viel anderes zu tun übrig bliebe. Aber eben diese 2 Punkte werden sich nicht gut anders als durch heimische Dienstboten ausführen lassen und auch die anderen Verrichtungen werden wohl noch lange dem Hause erhalten bleiben. Das Wirtschaften mit einer „Aufwartung“ ist ein trauriges Surrogat und bei kleinen Kindern und besonders, wenn die Hausfrau kränklich ist, nicht anwendbar. Das ist mehr für einzelne Leute. In Amerika hat man angefangen, für bestimmte Hausarbeiten Boys anzustellen und wird vielleicht auf diesem Wege weiter gehen. Das Letzte ist dann das Wohnen im Hotel mit Kind und Kegel, wie es oft in Amerika geschieht, wobei dann aber von einer eigentlichen Häuslichkeit nicht mehr die Rede sein kann.

Bei dem jetzigen Regime versteht man es, daß die Dienstboten immer knapper werden uud lieber als freie Fabrikarbeiter und besser bezahlt leben wollen. Das Bedürfnis nach Freiheit läßt sich nicht mehr unterdrücken. Jeder will ein möglichst gutes Plätzchen an der lieben Sonne haben. Wenn die Herrschaften die ganze Schuld auf die Dienstboten, auf ihre immer größeren Ansprüche werfen, so ist das ziemlich ungerecht. Wie viele oder vielmehr wie wenig Herrschaften verstehen es wirklich gut mit ihren Leuten zu sein und in ihnen nicht eine Art von Sklaven zu sehen! Lassen wir erst den fest fixierten Vertrag eintreten und sicher werden dann bessere Bezahlung mit eingerechnet mehr und bessere Dienstboten zu erhalten sein und es wird auch eine erzieherische Wirkung auf viele Herrschaften haben, da dann impulsive, hochmütige keine Leute mehr bekommen werden, wenn sie sich nicht ändern. Und dann wird auch gewiß die Kriminalität abnehmen!

6.

Erleichterung der Ehescheidung, unterstützt vom anthropologischen Standpunkt. Da leider die menschlichen Paarungen so oft unglücklich ausfallen, so hat man schon seit längerer Zeit aus rein humanitären Gründen, und das sogar neuerdings in katholischen Ländern energisch, eine größere Erleichterung der Ehescheidung als bisher verlangt und sie ist in Amerika am leichtesten zu erreichen. Ziemlich neu dagegen ist, daß auch wichtige anthropologische Erwägungen das fordern. So sagt A. Marro 1) die Frau wählt, wo sie kann, mit einem viel richtigeren Instinkte den tüchtigeren Mann, als umgekehrt. Der Mann ist viel blinder in der Liebe als die Frau. Ihm kommt es auf möglichst schnelle Erreichung des Coitus an. Viel weniger der Frau. Daher kommt

1) (Il divorzio dal punto di vista antropologica. Ricerche e studi die Psichiatria etc. dedicati al Prof. Enrico Morselli al XXV° anniversario del suo insegnamento. Milano, Vallardi, 1906).

es, daß bei Kreuzungen meist der weiße Mann die farbige Frau aufsucht, der farbige Mann aber im allgemeinen nicht die weiße Frau, während alle farbigen Frauen gerne mit Weißen verkehren, weil sie ihnen als die tüchtigere Rasse instinktiv erscheinen. Die Frau sucht bei der Gattenwahl gern Mutige aus und der Mut ist eine der Wurzeln des Altruismus, ebenso sucht sie die Intelligenz. Je freier das Weib wird, und je gebildeter und selbständiger, wie dies am meisten in Amerika der Fall ist, um so richtiger für die künftige Generation wird sie die beste Gattenwahl treffen. Hat sie sich einmal geirrt, so ist die Trennung dort leicht und sie kann den Fehler durch eine bessere Wahl wett machen. „Überall, sagt Marro, finden wir, daß der Fortschritt der Völker parallel läuft der Freiheit, welche die Frau in der Gattenwahl erlangt hat." Namentlich ist die Bemerkung Marros sehr richtig, daß mit der Bildung und mit einem Berufe die Frau besser, freier wählen wird. Sie ist ja dadurch selbständiger geworden, freier in ihrem Urteil, weniger zugänglich den Verführungskünsten der Männerwelt und schon deshalb allein wäre durchaus höhere Bildung und ein Beruf jedem Mädchen snzuempfehlen. Sie erhebt sich dann über das bloße Geschlechtstier", das aie noch leider jetzt für viele Männer ist. Daß sie auch dann nicht unfehlbar in ihrer Wahl sein wird, ist klar, zumal auch sie wahre Liebe oft genug blind macht. Erleichterte Ehescheidung könnte hier Remedur schaffen; leider hat aber bekanntlich Erleichterung auch ihre Schattenseiten, namentlich bez. der Kinder und des Geldes. Ein Beruf der Frau könnte aber auch hier leichter darüber hinweg helfen.

7.

Neues Unterscheidungsmittel zwischen Mensch und Tier. Kürzlich haben ein solches Kemyeres u. Hengi bez. des Knochengewebes kund getan. 1) Sie untersuchten die Extremitätenknochen von Mensch, Kaninchen, Hase, Reh, Hirsch, Katze, Hund, Rind, Schwein. Der größte Unterschied zeigte sich in Zahl u. Weite der Haversschen (Knochen)Kanäle. Beim Menschen sind sie im Querschliff bedeutend spärlicher als bei den Tieren, aber dafür weiter. Dann ist charakteristisch, daß bei Tierknochen im Querschliff an einigen Stellen ziemlich einander parallel laufende Kanäle sich finden, beim Menschen nie: Sollten sich diese Befunde durchgehends bewahrheiten, so wäre, das meine ich, ein wichtiger Fortschritt, zumal die Untersuchung eine leichte ist; es genügen grobe Schliffe mit feiner Säge, Schleifstein und Schmirgelpapier. Verf. machen selbst mit Recht auf die forensische Wichtigkeit des Befundes aufmerksam, da „Fälle von Mord, Leichenzerstückelung vorkommen können, in denen ein einziges Knochensplitterchen nicht nur die Tat beweisen, sondern eventuell auch den Täter bezeichnen kann". Herr Abels in München, dem ich die Kenntnis obiger Arbeit verdanke, macht aber noch auf ein anderes wichtiges Moment aufmerksam, dem er vielleicht demnächst nachgehen will. Sollte es sich nämlich herausstellen, daß Affen- und Menschenknochen in den oben bezeichneten Punkten einander sehr nahe stehen, so würde damit ein weiterer Beweis der nahen Verwandtschaft zwischen Affen uud Menschen gegeben sein.

1) Unterscheidung des menschlichen und des tierischen Knochengewebes. Viertelsjahrsschr. f. ger. Medizin u. öffentl. Sanitätswesen. 3. Folge, XXV, 2. 1906.

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Alkoholver such als diagnostisches Hilfsmittel. Seit einiger Zeit wurde auch für Obiges plädiert und kürzlich hat Tomaschny1) darüber ausführlicher gehandelt. Er weist darin nach, daß Alkohol für gewisse Fälle von Wert ist, namentlich bei larvierter Epilepsie, zur Erzeugung eines Anfalles oder um eine pathologische Reizbarkeit darzutun, die eventuell in concreto zu einem Delikt geführt haben sollte. Nur positive Resultate sind, nach nötiger Kritik, beweisend, nicht negative, denn bedenken, daß durch längeren Anstaltsaufenthalt der Zustand sich so bessern kann, daß keine abnorme Reaktion auf Alkohol mehr eintritt. Stets soll nur nach Einverständnis das Experiment vorgenommen werden, da es besonders bei Epileptikern und Traumatikern nicht ganz ungefährlich ist. Es ist also immer bloß für schwierige Fälle aufzuheben. Anzustellen ist es nur unter Anstaltsbehandlung. Die Gefahr einer Simulation ist kaum vorhanden und höchstens nur, wo mehrere Versuche gemacht wurden. Nach Einigen soll bei pathologischen Alkoholreaktionen fast stets die Pupillenreaktion auf Lichteinfall träge oder ganz aufgehoben sein, was dann gegen Simulation schützt. Ref. hält es kaum für nötig, bei diesem immerhin ziemlich harmlosen Versuche wirkliche Gefahr ist bis jetzt dadurch wohl noch nie konstatiert worden! erst die Genehmigung des Betreffenden einzuholen. Gerade Raffinierte geben diese oft nicht, wie Tomaschny selbst sagt und die Möglichkeit einer Simulation, welche immerhin nicht ganz ausgeschlossen erscheint trotz veränderter Pupillenreaktion, wird unmöglich, wenn der Versuch unerwartet gemacht wird. Am besten geschieht er dann wohl durch Eingießung einer Alkohollösung in den Magen.

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Die Tuberkulose als erblich belastendes Moment. Schon seit langem haben namentlich französische Forscher unter die für eine Nerven- oder Geisteskrankheit der Nachkommen in Frage kommenden erblichen Momente auch die Schwindsucht, Zuckerharnruhr und die sogenannte arthritische Diathese, d. h. Gicht, Rheumatismus hingestellt, und zwar weil auffällig viele solcher Kranken in der nächsten Verwandschaft von Geistesund Nervenkranken sich befinden. In Deutschland hat diese Ansicht nur wenige Vertreter bisher gefunden. Ich bin dagegen für sie wiederholt eingetreten. Es ward vor allem gesagt, daß die besagten Krankheiten so häufige seien, besonders aber die Schwindsucht, daß man einen Zusammenhang zwischen ihnen und den Geistes- und Nervenkrankheiten kaum statuieren können. Wenn nun ersteres auch wahr ist, so steht wohl ziemlich fest, daß die genannten Krankheiten auffallend häufiger bei der Aszendenz von Geisteskranken, Nervenleidenden vorkommen, als bei Normalen. Folglich muß ein Zusammenhang zwischen beiden Reihen doch wohl bestehen. Dafür spricht auch sehr der Befund von A. Morselli 2) welcher an 2 Föten von 6 und 8 Monaten, die vor1) Über Alkoholversuche bei Beurteilung zweifelhafter Geisteszustände. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatre etc. 63. Bd.

2) Le lesioni nervose dei feti nati da madre tuberculosa. Rivista di patologia nervosa e mentale, anno XI, 1906.

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