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IV.

Über die sog. Moral insanity und ihre forensische

Bedeutung.

Vortrag, gehalten in der Österr. kriminalistischen Vereinigung

am 3. Dezember 1907.

Von

Primararzt Dr. Josef Berze, Wien.

Nur mit Zagen bin ich der Einladung des verehrten Ausschusses, in dieser illustren Vereinigung über moral insanity zu sprechen, gefolgt; was mir schließlich doch den Mut dazu verschafft hat, war die Überzeugung, daß jeder von Ihnen, m. H., einerseits die immense Literatur über diesen Gegenstand, andererseits die großen Schwierigkeiten und das geringe Ausmaß des Feststehenden auf diesem Gebiete genau kennt, und daher wohl niemand unter Ihnen von mir die Entwicklung besonders bedeutsamer Ideen oder gar eine die ganze Frage begreifende Klärung erwarten wird.

Wer sich mit der Frage der moral insanity befaßt, sieht bald eine Unmenge von Problemen auftauchen. Zunächst die rein psychiatrischen, namentlich die Frage der Abgrenzung des in Betracht kommenden Gebietes gegen das Gebiet des Normalen, die Frage nach der nosologischen Stellung der zu berücksichtigenden Fälle, nach der Gruppierung derselben, die verschiedenen symptomatologischen Fragen, die Differenzialdiagnose gegenüber akuten und chronischen Geistesstörungen, bei denen ein Moraldefekt zutage tritt. Dann zahlreiche anthropologische Probleme; „die psychiatrische Diagnose muß sich ja, wie Scholz richtig sagt, gerade in den Fällen von moralischer Defektuosität so oft zur anthropologischen Diagnose erheben"; es muß nach möglichst sicheren Kriterien für die Unterscheidung zwischen Abnormität und Krankheit gesucht werden, die Lehre von der hereditären Belastung sowie die Lehre von den somatischen und psychischen Degenerationszeichen und ihrer diagnostischen Bedeutung muß einer gründlichen Revision unterzogen werden. Groß ist dann die Zahl der auftauchenden psychologischen Fragen; die psycho

logischen Grundlagen der Moral, das Verhältnis der Moral, beziehungsweise ihrer Komponenten zur Intelligenz, die Beziehungen der Moral zu den verschiedensten seelischen Vorgängen müssen näher beleuchtet werden. Man kommt weiters an der Frage der Willensfreiheit, deren Erörterung zahlreiche Psychiater, indem sie dieselbe als eine metaphysische oder auch theologische Aufgabe bezeichnen, ganz beiseite lassen möchten, trotz allem Bemühen nicht recht vorüber. Die Erforschung der Ätiologie der pathologischen Moraldefekte, sowie die Betrachtung der moralischen Defekte, welche das Mileu schafft, die Ergründung der Rolle, die das Milieu spielt, und des Verhältnisses, in welchem der Einfluß des Milieus zur Bedeutung der individuellen Anlage steht, lenken auf soziologische Probleme. Die Frage nach der Sanierung der sozialen Verhältnisse, die da in Betracht kommen, führt uns auf sozialpolitisches Gebiet. Die Notwendigkeit der forensischen Beurteilung der kriminell werdenden Fälle setzt uns vor eine ganze Reihe weiterer Fragen. Außer der Frage der Abgrenzung gegen den gewöhnlichen Verbrecher taucht die wichtige Frage auf, wie denn die Form und der Grad der im Einzelfall angenommenen pathologischen Störungen festzustellen und in verständlicher Weise zu kennzeichnen wäre. Da die Begutachtung in einer solchen Form erfolgen soll, daß das Gutachten dem Richter als Unterlage für die Entscheidung über die Subsumtion des Falles dienen kann, sieht sich der Psychiater, der sich mit der moral insanity befaßt, auch gezwungen, juristischen Fragen näher zu treten, sich auch eine gewisse Kenntnis des einschlägigen materiellen Rechtes zu erwerben. In weiterer Folge tauchen kriminalpolitische Fragen auf, ferner die, wenn ich so sagen darf, anstaltspolitische Frage, in wieweit die Irrenanstalten und andere Anstalten zur Aufnahme derartiger Individuen herangezogen werden dürfen u. s. w. Schließlich drängen gerade die moralischen Defektzustände den Psychiater dazu, sich über die Stellung des Sachverständigen dem Richter gegenüber, über die Grenzen seiner Pflichten und seiner Kompetenz klar zu werden.

Es ist ohne weiteres klar, daß die Erörterung all' dieser Detailfragen den Rahmen eines Vortrages weit überschreiten würde. Die Fülle des Stoffes kann aber auch in eine engere Form gepreßt werden, wenn von den erwähnten Fragen nur derjenige Teil berührt wird, der mit Rücksicht auf den Gesichtspunkt, von welchem aus eben die Frage der moral insanity betrachtet wird, notwendigerweise berührt werden muß. Mir ist der Weg vorgezeichnet, dadurch, daß ich die Ehre habe, in dieser Vereinigung über das Thema sprechen zu dürfen; ich habe die bezeichneten Fragen und vielleicht noch eine

oder die andere weitere Frage nur insoweit zu berühren, als es das Hauptthema meiner Ausführungen, das natürlich die forensische Beurteilung der hierher gehörigen Fälle sein muß, verlangt.

Unter denjenigen Personen, die Neigung zu antisozialem Handeln, und insbesondere zur Begehung krimineller Handlungen zeigen, stehen zweifellos die mit einem dauernden moralischen Defekt Behafteten obenan, und unter diesen gibt es ebenso zweifellos zahlreiche, deren Defekt auf einer pathologischen psychischen Konstitution beruht. In manchen Fällen, für die dies zutrifft, ist die pathologische moralische Insuffizienz begleitet von geistigen Defekten anderer Art, die an sich schon auf Geistesstörung oder auf hochgradige Unzulänglichkeit der geistigen Anlage weisen, oft in so ausgesprochener Weise, daß der Moraldefekt ihnen gegenüber in semiotischer Hinsicht zurücktritt. In anderen Fällen hingegen steht zwar die moralische Insuffizienz auch durchaus nicht etwa allein, ist aber doch all das, was sonst noch als Zeichen gestörter Geistestätigkeit oder defekter Anlage gedeutet werden kann, weniger auffällig, so daß der moralische Defekt jedenfalls entschieden im Vordergrunde steht, ja bei oberflächlicher Betrachtung geradezu isoliert zu stehen scheint.

Der Ausdruck: moral insanity, den man eine Zeit lang ohne viel Bedenken zur Bezeichnung dieser Fälle verwendet hat, hat heute keinen guten Klang mehr; gewichtige Stimmen treten dafür ein, daß man ihn fallen lasse. Indes haben wir kein reines Gefühl der Befriedigung, wenn wir dies tun, wenn wir auch die Gründe zu würdigen wissen, die dafür angeführt werden. Zweifellos gibt es ja Individuen, an denen zunächst nichts anderes auffällt oder wenigstens so auffällt wie der moralische Defekt, der sich als aus einer krankhaften psychischen Anlage herausgewachsen darstellt; zweifellos gibt es Individuen mit angeborenen Entartungszuständen, bei denen sich schwere moralische Defekte neben guter oder leidlicher Verstandesentwicklung finden und andere Zeichen geistiger Störung fehlen" (Gaupp). Das Bedürfnis, diese wohl charakterisierten und praktisch so wichtigen Fälle aus der großen Menge der Degenerierten, der psychopathisch Minderwertigen u. s. w. herauszuheben, besteht sicherlich, und dies zeigt sich u. a. auch darin, daß zur selben Zeit, da sich die Mehrzahl der Psychiater förmlich der Versuchung schämt, den Ausdruck: moral insanity anzuwenden, immer wieder neue Bezeichnungen für dieselbe Sache auftauchen, so die Bezeichnungen: moralischer Schwachsinn, moralische Entartung, moralische Anästhesie, ethische Imbecillität, moralische Defektuosität u. s. w. Ob einer von diesen Ausdrücken besser paẞt als die Bezeichnung moral insanity, will ich dahingestellt

sein lassen; jedenfalls scheint mir der Kampf gegen diese Bezeichnung des Eifers nicht wert, mit dem er betrieben wird.

Man kann die mit einem pathologischen Moraldefekt behafteten Individuen von zwei Gesichtspunkten betrachten. Erstens, indem man sie dem Durchschnittsmenschen gegenüberstellt. Diese Betrachtungsweise hat vor allem ein wissenschaftliches Interesse. Alles, was an den betreffenden Individuen pathologisch ist, wird zusammengetragen; es ergibt sich so eine Summe von Merkmalen, die für die verschiedenen Formen der hierher gehörigen Zustände mehr oder weniger charakteristisch sind. Was über moral insanity gesagt und geschrieben worden ist, ist zumeist auf diese Weise entstanden. Es ist daher nicht zu wundern, daß das Resultat der Arbeiten auf diesem Gebiete auch nur dann als ein erhebliches und befriedigendes erscheinen kann, wenn wir eben kein anderes als das rein wissenschaft liche Interesse im Auge haben.

Die zweite für uns belangvolle Betrachtungsweise dagegen ergib sich, wenn wir die Individuen, an denen wir einen pathologischen Moraldefekt konstatieren, dem sogenannten gewöhnlichen Verbrecher gegenüberstellen. Da tritt an die Stelle des rein wissenschaftlichen Interesses, das, wie Hoche sagt, in einer voraussetzungslosen Psychopathologie den einzelnen Symptomen ihre Stellung anweist, ein eminent praktisches Interesse. Die Unterscheidung wird da weit schwieriger, die einzelnen Fragen müssen da weit subtiler angefaßt werden. Während wir nämlich, so lange nur das wissenschaftliche Interesse in Betracht kommt, den moralisch Defekten einem Individuum von normaler, d. h. durchschnittlicher Organisation in intellektueller und moralischer Hinsicht gegenüberstellen dürfen, haben wir jetzt den moralisch Defekten mit dem gewöhnlichen Verbrecher, zu vergleichen, der bekanntlich nur selten frei ist von mehr oder minder deutlichen Zeichen psychischer Insufficienz, so zwar, daß, wie Hans Groß in seinem Artikel Degeneration und Strafrecht" sagt, ein fließender Übergang vom wirklichen Verbrecher über den einfach degenerierten und den psychopathisch degenerierten Verbrecher bis zum kriminellen Geisteskranken führt. Hier handelt es sich nicht mehr bloß darum, zu zeigen, was an dem untersuchten Individuum abnorm oder pathologisch ist, sondern ganz besonders um die Feststellung, ob sich das untersuchte Individuum durch psychische Defekte, welche dem gewöhnlichen Verbrecher nicht oder doch nicht in demselben Maße eigen sind, von diesem unterscheiden läßt. Die Frage lautet also, wenn es sich um die forensische Beurteilung handelt, nicht dahin, ob es eine moral insanity gibt, sondern ob wir und, wenn

ja, mit welchem Grade von Sicherheit und an der Hand welcher Kriterien wir Individuen, die an einer strafrechtlich relevanten moral insanity leiden, aus der Gesamtheit der Verbrecher, insonderheit der Gewohnheitsverbrecher, herausheben können.

Wenn wir die Entwicklung der moral insanity-Frage überblicken, so sehen wir, daß für dieselbe im allgemeinen die Anschauung richtunggebend war, daß ebenso wie bei anderen psychopathischen Zuständen auch bei der sogenannten moral insanity die Unterscheidung zwischen strafrechtlich relevanten und nicht relevanten Graden möglich sei.

Bevor ich, meine Herren, an die Betrachtung der Frage von diesem Gesichtspunkte gehe, möchte ich betonen, daß ich es zunächst unerörtert lasse, ob der damit betretene Weg der richtige ist oder nicht. Und wir gehen also zunächst, nur gleichsam der historischen Entwicklung der Frage folgend, daran, zu untersuchen, mit welchem Maße von Sicherheit jene große Masse von moralisch Defekten, die wir auf Grund der Ergebnisse der voraussetzungslosen Psychopathologie in das Gebiet des Pathologischen verweisen möchten, von den durch äußere Einflüsse, durch das Milieu Depravierten unterschieden werden können. Wir halten uns dabei vor Augen, daß diejenigen Fälle von pathologischer moralischer Defektuosität, für die etwa eine andere strafrechtliche Beurteilung und Behandlung zu fordern wäre als für die wirklichen" und für die einfach degenerierten" Verbrecher in dieser großen Masse von moralisch Defekten enthalten sein muß, und daß wir somit nur dann, wenn wir zu dem Resultate kommen sollten, daß die Abgrenzung jenes Gebietes, welches die sogenannte moral insanity umfaßt, gegen das Gebiet der physiologischen Variationsbreite und der einfachen Degeneration" mit zu reichender Sicherheit möglich ist, überhaupt erst hoffen können, daß die feinere Distinktion zwischen einem forensisch relevanten und einem forensisch irrelevanten Grade der in Rede stehenden Defektuosität durchgeführt werden kann.

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Meine Herren! Am sichersten kann die Zugehörigkeit eines einzelnen Falles zu einer bestimmten Gruppe von psychopathischen Zuständen immer dann erwiesen werden, wenn direkte Beweismittel gefunden werden können; als solche können vor allem diejenigen Erfahrungen gelten, die dem normalen Geistesleben fremd sind und demnach durch ihr Auftreten allein schon das Pathologische des Zustandes sicherstellen, weiters quantitative Defekte gewisser psychischer Leistungen, die durch ihre Erscheinungsweise, namentlich durch ihr die physiologische Variationsbreite deutlich überragendes Maß als

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