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eigenen Landesregierung unter den Entscheidungsgründen erhebliche Bedeutung beanspruchen dürfen.

Auf die inneren Eigenschaften Recht begründender Gewohnheiten kommt nichts an. Insbesondere ist es unerheblich, wie lange die Gewohnheit etwa fortgedauert hat. Wenngleich jede Gewohnheit auf der Vorstellung ihrer zeitlichen Dauer beruht, so läßt sich doch bei keiner Gewohnheit ein bestimmter Zeitpunkt für ihren Anfang mit derselben Genauigkeit nachweisen, wie bei der Publication von Gefeßen. Daher denn auch die Frage nach der Rückwirkung der Gewohnheit auf die angeblich vor ihrer Entstehung liegenden Rechtsverhältnisse nur dann gestattet werden kann, wenn man irriger Weise annimmt, daß lediglich die autoritative durch Anerkennung gleichsam nachträglich legalisirte Gewohnheit vom Richter beobachtet werden darf.*)

Ebenso wenig ist es zu billigen, wenn die Rechtsidee der Vernünftigkeit mit der Rechtsquelle der Gewohnheit vermischt wird. Dies geschieht dann, wenn, zumal in der Englisch-Amerikanischen Praxis, an dem Sage festgehalten wird, daß unvernünftige (unreasonable) Gewohnheiten keine Beachtung verdienen. Wohnt jeder Rechtsgewohnheit das psychologische Moment der positiven und bewußten Recht seßenden Nothwendigkeit inne, so darf das Rechtsbewußtsein des Volkes nicht wiederum hinterher durch die Organe der Rechtspflege negirt werden. Rechtsirrthümer sind auch in den Acten der Geseßgebung nicht ausgeschlossen. Muß das schlechte und juristisch fehlerhaft construirte Gesetz angewendet werden, so gilt dies auch von der tadelnswerthen oder sog. unvernünftigen Gewohnheit, bis zu ihrer Umbildung durch eine entgegengesetzte Gewohnheit oder bis zu ihrer Aufhebung durch das Gesetz. In der gegentheiligen Auffassung wirkt wiederum die Vermischung des positiven Rechtes mit dem fog. Naturrecht, oder die Folge jener ehemals gangbaren Vorstellung, wonach man das Römische Recht als geschriebene Vernunft (ratio scripta) nahm, um an diesem Maßstab die Zulässigkeit örtlich ab= weichender Gewohnheiten zu bemessen. Fehlt es an einem derartigen obersten Maßstab einer allgemein festgestellten ratio scripta, so würde die Anfechtung völkerrechtlicher Gewohnheiten aus dem Grunde ihrer angeblichen Unvernünftigkeit nur zu jener Unsicherheit führen, die nothwendig entstehen müßte, wenn vom Standpunkte des individuellen Bewußtseins gefragt wird, ob das nationale Element des Rechts aus logischer Consequenz in den Forderungen der Ethik oder in den Verhältnissen der Zweckmäßigkeit zu erkennen sei. 5)

In ihrer negativen Gestalt erscheint die Gewohnheit als desuetudo, als gewohnheitsrechtliche Verneinung eines geschichtlich vorangegangenen Zus standes. Desuetudo bewirkt Aufhebung früher bestandener Rechts- oder Pflichtverhältnisse.

Daß ein anerkannt gewesener Rechtszustand allmählich außer Wirksamkeit gesezt werden kann, wenn das Rechtsbewußtsein sich in einer ihm entgegengesetzten Richtung entwickelt, erscheint unbestreitbar.

Aber auch geschriebenes Recht kann durch vorfäßliche und fortgesetzt bes

thätigte Nichtanwendung oder durch Anwendung gegentheiliger, damit unvereinbarer Rechtsfäße aufgehoben werden. 6) Denn wenn es auch in England anerkannten Rechtes ist, daß statutarisch geschriebenes Recht durch desuetudo in den Gerichtshöfen nicht außer Wirksamkeit gesezt werden kann, so darf diese Ansicht auf völkerrechtliche Beziehungen nicht übertragen werden.

Die Berufung auf desuetudo befugt den Richter ebenso wenig wie andere Staatsgewalten, dem geschriebenen Recht mit dem Bewußtsein des Ungehorsams eine diesem zuwiderlaufende Praxis zum Zwecke der Anbahnung einer späterhin zu consolidirenden Gewohnheit entgegenzusetzen. Anders verhält es sich indessen mit dem Fall, wo eine in früheren Jahrhunderten zwischen zwei Staaten nach der üblichen Formel der ewigen Dauer" getroffe= nen Stipulation allmählig in Vergessenheit gerieth und dann eine gegentheilige Praxis durch Gewohnheit eingebürgert wird.

Auch darf in solchen Fällen wohl erwogen werden, ob, wie in Deutschland gegenüber den griechischen Novellen Justinians oder in den Nordamerikanischen Staaten nach ihrer Losreißung von England, die politische Continuität der Herrschergewalt zerrissen wurde, von welcher ursprünglich ein Saß des geschriebenen Rechtes ausging.

Sicherlich kann die völkerrechtliche Frage nach der Zulässigkeit der desuetudo nur dann richtig entschieden werden, wenn man sich von der durchaus unzutreffenden Analogie moderner Privatrechtsgeseßgebungen frei gemacht und außerdem erwogen hat, daß Gewohnheit im Völkerrecht durchaus nicht die untergeordnete Rangstellung einnimmt, wie im Privat- oder Strafrecht. 7)

Ob neben und außer den Gewohnheiten noch Völkersitten als eigene Art der Rechtsquellen anerkannt werden können, hängt von der Bestimmung des der, Sitte zukommenden Begriffes ab. Gewöhnlich wird die Sitte als eine Vorstufe zur Bildung gewohnheitsrechtlicher Normen angesehen. 8)

Richtiger dürfte es sein, zwischen Völkerrechtssitte und Völkerrechtsgewohnheiten keinerlei besondern Unterschied in juristischer Hinficht zu machen. Wenigstens würde jedes praktische Bedürfniß der Unterscheidung fehlen, nachdem man anerkannt hat, daß Gerichtszwang kein entscheidendes Criterium für die Positivität des Völkerrechtes bildet.

Andererseits hat man sich aber davor zu hüten, nicht ethnologische Völkersitten gleichbedeutend zu nehmen mit Völkerrechtssitten, deren Wesen darin besteht, daß sie eine als verpflichtend erachtete Uebung im internationalen Verkehr zum Ausdruck bringen müssen. Etwaige Uebereinstimmung der Nationen in den religiösen Gebräuchen, im Kunststil, in Kleidungen und Trachten hat keinerlei rechtliche Bedeutung und ebenso wenig dürfen die Hofceremonialien, auch wenn sie seit langen Zeiten beobachtet wor= den find, als Völkerrechtssitten gelten.

Zwischen Rechtssitten und anderen Volkssitten sind freilich mancherlei Uebergänge und Mischungen möglich. Die Acte des religiösen oder kirchlichen Cultus haben bei orientalischen Völkern, wo alles Recht auf der Idee

göttlicher Offenbarung ruht, eine rechtliche Bedeutung, die ihnen in Europa nicht mehr beigemessen werden kann.

1) Insofern die Gewohnheit sich in gegenständlicher Richtung spezialisirt, wird fie zum Rechtsgebrauch (Seegebrauch, Kriegsgebrauch). Dagegen bleibt im Interesse fester Terminologie noch heute Savigny's Wunsch berechtigt, daß Bezeichnungen wie Observanz und Herkommen vermieden werden möchten (a. a. D. S. 98).

2) Denkbar wären freilich international-örtliche Gewohnheiten, wenn sich unter der Gränz bevölkerung benachbarter Staaten (unter Billigung und Zulaffung der betheiligten Regierungen) eine bestimmte Verkehrspraris in Sinne eines mos regionis oder consuetudo regionis ausbildete (L. 7. pr. Dig. de off. procons. 1, 16; L. 4. Dig. de feriis 2, 12).

3) Die weltgeschichtlich bedeutendsten Manifestationen der gewohnheitsrechtlichen Cultur find: Rom, Deutschland und England. In Deutschland wirkte für die privatrechtliche Materie die romanistisch gelehrte Standesbildung der Juristen als personales Moment, wodurch allein freilich der Gegensatz des germanischen und feudalen Elements nicht völlig überwunden werden konnte. In Rom wirkte das personale Moment (Prätur, auctoritas jurisprudentium, Kaiserliche Justiz) mit der territorialen Einheit des Stadtgebiets zusammen. Aehnlich in England, wo das personale Element durch die Könige seit dem Normannenzeitalter durch den Lordkanzler, durch die Curia regis und die judices itinerantes, das territoriale Element durch die Centralisation der Rechtspflege in London repräsentirt ist. England ist das einzige Beispiel eines großen Territorialstaates, dessen öffentliches und privates Recht durch zusammenhängende Gewohnheiten (common law) einheitlich gestaltet wurde.

4) Nach Austin's Meinung beginnt das Gewohnheitsrecht seine Wirkung erst nach erlangter richterlicher Anerkennung. Gegen diese in England vielfach getheilte Auffassung wendet sich Holland a. a. D. § 48 und Wharton, Commentaries § 15: »The courts do not determine, that a custom is to be in force in the future; they decide, that when a reasonable custom exists, it governs prior cases in the sphere of its operation. We may recur as illustrating this position to the annulling by common consent, in the colony of Pennsylvania of such English statutes, as were inconsistent with colonial conditions.<<

5) Schon das Römische Recht erkennt die Unzulänglichkeit der Rationalität und Logik bei der Prüfung des positiven Rechts an. Vgl. L. 51 § 2 Dig. 9, 2: Multa autem jure civili contra rationem disputandi pro utilitate communi recepta esse.

6) Wharton, a. a. D. § 122.

7) v. Kaltenborn sagt in seiner Kritik des Völkerrechts: „Das Eigenthümliche des Völkerrechts ist das, daß es mehr als andere Zweige des Rechts seine Quelle in der Gewohnheit hat'

"

8) Bierling, Kritik S. 150:,,Wirklich zu folgern ist vielmehr, daß die Eigenschaft der Rechtssitte, die natürlichste und vollkommenste Geltungsbewährung des Rechtes zu sein, nichts anderes ist, als der allgemeine charakteristische Inhalt der Sitte, sofern er als auf das Recht bezogen erscheint."

9) F. v. Martens (Völkerrecht I, § 43), welcher auch die Regeln der Etis quette als Rechtssitten aufgefaßt sehen will. S. darüber oben § 19. S. 69. Daß zwischen der höfischen Etiquette und den Völkerrechtsgewohnheiten kein Unterschied im Festigkeitsgrade obwaltet, kann zugegeben werden. Es ist sogar möglich, daß die Vorschrift der Etiquette von Fürsten und Diplomaten mit peinlicher Sorgfalt auch dann geachtet wird, wenn sie vom Völkerrecht eine geringe Meinung haben.

§ 26.

Die Staatsverträge als Völkerrechtsquellen. Literatur: E. Meier, Der Abschluß von Staatsverträgen. Leipzig 1874. Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge. Wien 1880. PH. 3orn, Staatsrecht des Deutschen Reichs. Bd. II, S. 419. Heffter, Völkerrecht §§ 81-99. Bluntschli, Völkerrecht. §§ 402–461.

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Die von den Staaten als Völkerrechtssubjecten ausgehenden Vereinbarun= gen oder Vertragsschlüsse sind juristisch unter einem zwiefachen Gesichtspunkt zu würdigen.

Sie erscheinen einmal als internationales Rechtsgeschäft mit einseitiger oder wechselseitiger Verpflichtung und sehen dann zu ihrer Beurtheilung im einzelnen Fall und ihrer Geltendmachung die Entwickelung der auf die Staatensubjecte, ihre Handlungsfähigkeit und Willensbethätigung bezüg= lichen Lehren voraus, so daß erst an einer andern Stelle der materielle Inhalt und die Gültigkeit solcher Staatsverträge erörtert werden kann. Sodann haben aber auch die Staatsverträge außerdem noch die Eigenschaft Quelle des internationalen Rechtes zu sein. Insofern dies der Fall ist, muß von ihnen einleitend gehandelt werden, ehe die Erörterung der Rechtsverhältnisse im Einzelnen begonnen werden kann.

Die Gränzlinie zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen ist vom Standpunkt der Systematik nicht leicht zu ziehen. Man hat sich zuvor die Verschiedenheit zwischen den Grundsäßen des Privatrechts und denjenigen des öffentlichen Rechts zu vergegenwärtigen, gleichzeitig aber auch zu bedenken, daß nicht nur im Völkerrecht, sondern auch im Staatsrecht Verträge die Eigenschaft einer objectiv Recht sehenden Quelle haben. Denn aus den Bündnißverträgen, die zur Herstellung von unlösbar conföderirten Staatsrechtsgebilden zusammengeseßter Art führen, ist nicht blos das jeweilige Rechtsverhält niß der Contrahenten, sondern außerdem auch der objective Inhalt staatsrechtlicher Normen zu entwickeln. Das Eigenthümliche solcher unter den Quellen des Staatsrechts und Völkerrechts zu würdigenden Ver= tragsschlüsse liegt darin, daß die Contrahenten dabei nicht nur wie contrahirende Privatpersonen frei für sich selbst disponiren, sondern auch gleichzeitig Geseze geben und für ihre souveränen Willensäußerungen die Form des Vertrages wählen können. Handbuch des Bölkerrechts I.

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Vertragsschlüsse des öffentlichen Rechts können somit, abgesehen von der Selbstbeschränkung der Contrahenten durch Uebernahme bestimmter Verpflichtun gen, auch andere Personen (Unterthanen und Behörden) dauernd zu bestimm ten Handlungen oder Unterlassungen verpflichten.

Indem souveräne Staaten mit ihres Gleichen in der Absicht der Rechtsehung contrahiren, wollen sie eine Norm schaffen, die den nächsten Anlaß einzelner Rechtgeschäfte überdauert. Jeder Staat erzeugt alsdann in Beziehung auf sein eigenes Verhalten gegenüber dem Auslande eine bleibende Rechtspflicht, deren verbindliche Kraft den verfassungsrechtlich anerkannten Pflichten der nach Innen wirkenden Staatsgewalt grundsäßlich völlig gleichsteht. Andererseits wird auch der Mitcontrahent in Beziehung auf sich selbst unmittelbar einer identisch von ihm gewollten Rechtsnorm unterworfen. Beide Contrahenten gestehen sich wechselseitig die Anwendung derjenigen Mittel zu, welche den Rechtsbruch verhüten oder rückgängig machen können. Jeder derartige Vertrag folgt daher neben seinem ausdrücklich erklärten Inhalt einer aus dem allgemein und folglich auch von den Contrahenten anerkannten, zur Beit seiner Entstehung gegebenen Völkerrechtszustande zu entnehmenden Norm. Damit Staatsverträge die Bedeutung einer objectiv Recht erzeugenden Quelle haben können, ist zweierlei erforderlich1):

Vorauszusehen ist: 1. daß die gewohnheitsrechtlichen Bestandtheile des auswärtigen Staatenverkehrs hinreichend erstarkt sind, um die Verpflichtung zur gewissenhaften Erfüllung vertragsmäßig übernommener Leistungen als regelmäßige und völlig selbstverständliche Rechtsfolge des gegebenen Verkehrszustandes überall annehmen und Vertragsschließungen mit den Mitteln gegenseitiger Täuschung als widerrechtlich verwerfen zu können; 2. daß die Contrahenten nicht darauf ausgehen, eine blos für den einzelnen, gerade vorliegen den Fall ausreichende, also vorübergehende Zweckmäßigkeitsmaßregel zu schaffen, sondern vielmehr darauf Bedacht nehmen, eine nach ihrer Auffassung dauernde, allgemeiner Anwendung fähige Norm des genossenschaftlichen Lebens der Nationen herzustellen.

Mit Rücksicht auf jene erste Bedingung wird anzuerkennen sein, daß sie zur Zeit nur innerhalb der Gemeinschaft Europäischer Culturvölker besteht. Denn wenn auch bei barbarischen Nationen eine gewisse Scheu vor Vertragsverlegungen vorzukommen pflegt, so bezieht sich die Achtung der Verträge im Allgemeinen doch nicht auf international feindliche Verhältnisse. Ehe daher mit solchen barbarischen Nationen in wirksamer Weise durch Rechtsgeschäfte irgend etwas stipulirt werden kann, scheint es zweckmäßig oder sogar nothwendig, einen Freundschaftsvertrag vorangehen zu lassen, um zu beurkunden, daß Fremde einer bestimmten Art oder niedergelassene Fremde ohne Staatsangehörigkeit nicht als Feinde angesehen werden sollen, damit der bei Barbaren oder halbcivilisirten Völkern verbreitete Wahn abgeschnitten werde, als sei man bei ausbrechenden Mißhelligkeiten nicht gehalten Ausländern Treue und Glauben zu bewähren.

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