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§ 18.

Verhältniß des Völkerrechts zur Politik.

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Literatur: Schmelzing, Ueber das Verhältniß des sog. Naturrechts zum positiven Rechte, zur Moral und Politik (1813). — Bulmerincq, Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts S. 40 ff. - Derselbe, La Politique et le droit dans la vie des États in der Revue de D. I. IX, 361. zipien der Politik. (2 Aufl. 1879.) S. 219-241. des Völkerrechts in Nord und Süd“ XI, 32. diritto vol. I, pag. 15 ff. M. Mountague Bernard, Four lectures on diplomacy. London 1868

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v. Holzendorff, PrinGeffden, Das Problem Rosmini, Filosofia del

Da den Staatsregierungen als den Organen des völkerrechtlichen, selb= ständige Gemeinwesen verbindenden Verkehrs gleichzeitig auch die Aufgabe obliegt, das innere Staatsleben nach allen seinen Richtungen zu beeinflussen, zu leiten oder zu beherrschen, so gewinnt nach beiden Richtungen das inneren und äußeren Staatslebens die Unterscheidung der Rechtsregel und der freien 3weckmäßigkeitsregel besondere Bedeutung.

Der Inhalt der internationalen Rechtsregel besteht theils in der Vorschrift bestimmter, dem freien Ermessen entzogener Verpflichtungen zur Vornahme oder Unterlassung gewisser Staatshandlungen, theils in der Feststellung solcher Einrichtungen und Befugnisse, welche ein Staat in seinem Verhältniß zu anderen Staaten, nöthigen Falls auch gegen deren Willen ausüben darf. Dagegen seßt die der Sphäre der Zweckmäßigkeit angehörende Regel des politischen Handelns überall die volle Freiheit des Ermessens auf Seiten des Berechtig= ten in Hinsicht dessen voraus, was sich nach Beschaffenheit der Thatumstände im einzelnen Fall als Mittel zur Erreichung staatlicher (erlaubter) Zwecke anempfiehlt. 1)

Auswärtige Politik und Völkerrechte verhalten sich darum noch nicht wie ein Grundsatz der Zweckmäßigkeit zu einem Grundsage der Gerechtigkeit; denn das Gerechte ist auch gleichzeitig das für den Staat auf die Dauer zweckmäßige.

Die Frage, ob es jemals Sache der Politik sein könne, eine von dem Verpflichteten als lästig empfundene oder ihm schädlich erachtete Rechtspflicht zu verlegen und bei Seite zu sehen, kann überhaupt nicht gestellt und braucht somit auch nicht beantwortet zu werden, denn Recht und Politik werden durch das ihnen gemeinsame ethische Fundament zusammengehalten.

Wie aber nicht alle Beziehungen der Völker zu einander nach rechtlichen Gesichtspunkten bestimmbar sind, so können auch ethische Regeln nicht überall durchgreifen. Innerhalb der durch das Völkerrecht gezogenen Schranken und der durch die Völkermoral bestimmten Gränzen ist es keinem Staate verwehrt, seinen eigenen Vortheil und seine Inter

effen auch zum Schaden und zum Nachtheil anderer Staaten zu verfolgen, wenn Benachtheiligung oder Schädigung Anderer nicht zu vermeiden ist. Die Bahnen und Entwickelungsziele der völkerrechtlichen Beziehungen bezeichnen aber demnach auch gleichzeitig die maßgebenden Richtungen der auswärtigen Politik. Denn die auswärtige Politik hat nicht nur den Vortheil einzelner Staaten zu wahren, sondern auch das Gesammtinteresse aller Staaten thätig zu fördern. Politik und Völkerrecht stehen in nothwendiger Wech, selwirkung. Denn:

1. Hat die praktische Politik als diplomatische Staatskunst genommen, der den historischen Zweckmäßigkeitsverhältnissen fortschreitend anzupassenden Gestaltung der positiven Rechtsregeln vorzuarbeiten und in entgegengesetzter Richtung auch dafür zu sorgen, daß das jedem einzelnen Staat gebührende Maß freien Schaltens und Waltens innerhalb seiner eigenen Interessensphäre nicht in schädlicher Weise durch Aufstellung bindender Regeln im Voraus ohne Nothwendigkeit beschränkt werde. Jede durch Verträge neu zu schaffende allgemeine Völkerrechtsregel muß vielmehr vom Standpunkte der Po= litik als Ausdruck dauernder Gesammtinteressen der Völkerrechtsgemeinschaft zu rechtfertigen sein. Aus dem gleichen Grunde ergiebt sich auch gegentheilig als Aufgabe der Politik, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, wo veraltende oder veraltete Rechtssäge aufzuheben sind, wenn vorausgesezt werden darf, daß ihre Fortdauer den sicheren Bestand der Völkerrechtsgenossenschaft beeinträchtigen könnte. In dieser Hinsicht erscheint die praktische Politik als eine das positive Völkerrecht fortbildende Function der Staatsorgane.2) 2. Der praktischen Politik liegt es ob, die Thatsachen des völkerschaftlichen Gemeinlebens, soweit dieses von dem Verhalten der Staatsregierungen beeinflußt werden kann, in Uebereinstimmung zu sehen mit der Geltung des jeweiligen Rechtszustandes der einzelnen Staaten. Die Möglichkeit, völkerrechtlichen, dem Auslande geschuldeten Pflichten zu allen Zeiten zu genügen, setzt für jeden Staat überall voraus, daß er über seine Herrschaftsmittel soweit frei und ungehindert im Inlande verfüge, um sich der Wirkung voraussichtlich eintretender Hemmungen seiner Willensbethätigung entziehen zu können. Die Sicherung der Völkerrechtsordnung ist, (wie bereits gezeigt wurde), nach der Natur der Dinge ebenso sehr von dem that= sächlichen Stande der politischen Beziehungen der Staaten zu einander, als von der allgemeinen Richtigkeit und dem durchschnittlichen Werthe einzelner Rechtsregeln abhängig. Verfassungsrecht und Völkerrechtspflicht müssen thatsächlich im Einklang gehalten werden. In diesem Stücke wird sich also zeigen müssen, daß überall die Völkerrechtspraxis einzelner Staaten und bestimmter Zeitepochen im ZuHandbuch des Völkerrechts I.

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sammenhange steht, nicht nur mit der auswärtigen Politik der jeweilig leitenden Staatsmänner, sondern auch mit den im Verfassungsleben und der Gesetzgebung der einzelnen Länder vorherrschenden Bestrebungen, denen jedes Volk diejenige Gestaltung zu geben hat, welche die Erfüllung dauernder und allgemeiner Verpflichtungen gegen das Ausland ermöglicht. In dieser Hinsicht gewürdigt, erscheint die praktische Politik als eine das Recht sichernde Function der Staatsorgane.

3. Die auswärtige Politik hat die Aufgabe, den Gebrauch der dem eigenen Lande zustehenden Befugnisse gegenüber dem Auslande und die Realisation etwaiger internationaler Forderungsrechte so einzu. richten, daß die Lasten des Erfüllungspflichtigen nicht ohne dringende Noth zur Unzeit verschärft werden. Diejenige Verfolgung des Rechtes, die sich lediglich auf den Buchstaben zu stüßen weiß, kann schon im bügerlichen Verkehr der Einzelnen zu jener Chikane führen, durch welche Contrahenten für immer mit einander verfeindet wer= den. In weit höherem Maße zerstört chikanöfer Rechtsgebrauch internationale Beziehungen. Die Politik hat daher, wo es sich um die Art der Verwirklichung einzelner Rechtsansprüche für den Staat handelt, überall vom Standpunkte nicht nur der eigenen Interessen, sondern auch der völkerrechtlichen Gesammtzustände, zu ers wägen, ob nicht an sich geringfügige Rechtsvortheile des eigenen Landes dem allgemeinen Wohle der Völkerrechtsgemeinschaft durch freiwilligen Verzicht zum Opfer gebracht werden können. Denn vom Standpunkt des Sittengesetzes und der Politik giebt es Verpflichtungen zum Rechtsverzicht, wovon im Sinne der Jurisprudenz nicht gesprochen werden kann. In dieser dritten Richtung erscheint die Politik als eine die Anwendung und den praktischen Gebrauch des Völkerrechts leitende Function der Staatsorgane.

4. Mit der geschichtlichen Erfahrung nicht blos der Zeitgenossen, sondern auch der Jahrhunderte rechnend, hat die Politik Vorsorge zu treffen, daß die in der Völkerrechtsgenossenschaft möglicherweise ein= tretenden und durch den Scharfblick des Staatsmannes vorauszu= sehenden Gefahren drohender Rechtsverlegungen und Störungen, für deren Verhinderung keine rechtlich geordneten und ausreichenden Garantien geboten sind, durch zweckmäßigen Machtgebrauch vereitelt oder beseitigt werden. Wie die innere Ordnung der Verfassungen ohne das Vorhandensein fest organisirter Machtmittel in den Händen der Staatsregierung auch Angesichts einer guten Gesetzgebung und troß aller juristischen Cautelen bedroht sein kann, so hängt die thatsächlich gesicherte Geltung des Völkerrechts bis jest von einer richtigen Machtvertheilung

unter den Staaten der Culturwelt ab; denn die Voraussetzung einer völlig gleichen Ohnmacht aller Staaten, von denen jeder Einzelne um seiner Schwäche willen sich das Unrecht von Seiten seiner Nachbarstaaten gefallen lassen müßte, wäre der internationalen Rechtsordnung ebenso gefährlich, wie die weltbeherrschende Uebermacht eines einzigen Staates, in dessen Willkür es stände, seine eigenen Pflichten beliebig ohne irgend welche Befürchtung nachtheiliger Folgen zu verlegen.

Unter diesem Gesichtspunkte gewürdigt erscheint die Politik als internationale, cavirende Machtpflege im Sinne der Gesammt= intereffen. Mit Recht sagt somit Heffter (Völkerrecht § 4):

„Eine sittlich correcte Politik kann niemals billigen, was das Völkerrecht verwirft und andererseits muß auch das Völkerrecht gelten lassen, was das Auge der Politik für den Selbstbestand eines Staates schlechterdings als nothwendig erkennt."

Aus diesen Gründen ist die richtig gehandhabte Gleichgewichtspolitik, welche das Gemeinschaftsinteresse friedlicher Entwickelung theils durch Machtvereinigung, theils durch Machtvertheilung mehrerer Staaten ge= genüber den Angriffsgelüsten eroberungssüchtiger Militärstaaten wahrt, von hoher praktischer Bedeutung für der Bestand der Völkerrechtsordnung. Verwandtschaft und Zusammenhang zwischen Staatsrecht und Völkerrecht offenbaren sich auch darin, daß die Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung ein ausreichendes Maß von organisirter Machteinheit, die Aufrechterhaltung der Freiheit dagegen eine richtige den Mißbrauch hemmende Machtvertheilung und das Zusammenwirten mehrerer Machtorgane erfordernde Machtvertheilunng voraussetzt. Die Mittel und Formen der internationalen Machtpflege, als deren Trägerin die Diplo= matie erscheint, können nach juristischen Regeln nicht definirt werden, sondern gehören in die Politik, die jedoch nicht nur mit materiellen, sondern auch mit moralischen Kräften zu rechnen hat.

1) Aehnlich Bulmerincq, Praris, Theorie und Codification des Völkerrechts (S. 143): „Das Recht sett fest und läßt keine Wahl, die Politik giebt verschiedene Mittel zu einem Zweck und läßt die Wahl frei “

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2) Dies ist insbesondere gegenüber denjenigen zu betonen, welche den Einfluß der völkerrechtlichen Doctrinen und Theorien überschäßen. Schwerlich kann heut zu Tage noch jemand erwarten, daß die fundamentalen Differenzen des internationalen Privatrechts dereinst auf rein wissenschaftlichem Wege überwunden werden können. Nur von der politischen Aktion zweckmäßig und wissenschaftlich vorbereiteter Vertragsschließung kann hier Erfolg gehofft werden.

3) Anderer Meinung ist Bulmerincq (Praris, Theorie und Codification des Völkerrechts S. 48):

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Wir halten es für eine Herabseßung des Völkerrechts, wenn es durch ein politisches Mittel gestützt werden soll. Die Sicherheit der Staaten ist durch die Grundrechte des Völkerrechts geschüßt."

Diese Auffassung scheint darauf zu beruhen, daß der in kriegerischen Interven tionen hervortretende Mißbrauch und der bloße Vorwand der Gleichgewichts: interessen mit der an sich richtigen Idee des Gleichgewichts verwechselt wurde. Im Uebrigen ist das Völkerrecht ebenso wenig wie das Verfassungsrecht lediglich durch das Dasein möglichst klar redigirter Paragraphen zu schüßen.

Das Völkerrrecht bedarf vornehmlich präventiver Schußmittel, was auch dann noch der Fall sein würde, wenn sog. Völkertribunale beständen Unter diesen präventiven Schußmitteln ist eine einsichtige, gerechte Diplomatie das wichtigste

§ 19.

Die Comitas gentium.

Die Mittel internationaler, von den Staatsgewalten zu bewirkender Machtpflege bestehen nicht lediglich und nicht ausschließlich in der Einrich tung solcher Anstalten, welche wie das Heerwesen, auf den äußersten Fall der Kriegführung und Gewaltanwendung abzielen. Große Staaten können tro bedeutender Rüstungen eines ihnen entsprechenden Einflußes zu Friedenszeiten entbehren. Kleine Staaten können trotz der Geringfügigkeit ihrer mechanischen Machtmittel durch Staatsflugheit zum Mittelpunkte von Bündnißbestrebungen werden.

In der Gesammtheit aller derjenigen Verhältnisse, welche den Einfluß und das Ansehen bestimmter Mächte bei ausländischen Staaten bedingen, spielt auch die innere Verwaltungs-Organisation und der Zustand der Gesezgebung eine Rolle, insofern die Rechtstellung fremder Unterthanen dadurch in einem freundlichen oder unfreundlichen Sinne berührt wird. Zwischen denjeni= gen Verhältnissen, welche der Herrschaft völkerrechtlicher Regeln und allge= meiner Verkehrsforderungen unterworfen und solchen Verhältnissen der Fremden, die denselben deswegen entzogen sind, weil sie gänzlich der Verfügungsfreiheit oder der Gesetzgebung selbstständiger Staaten anheimfallen, giebt es noch einen Raum für Gebietsstrecken, auf denen gegenüber dem Ausländer die freundschaftliche Rücksichtnahme auf auswärtige Staats- Intereffen, Comitas gentium, obwaltet, wobei indessen nicht an die Gefälligfeitserweisungen eines einzelnen Falles, sondern an die Zuständlichkeit international gewordener Anstandssitten zu denken ist. 1).

Diese Comitas gentium, Staaten gunst oder internationales Wohlwollen, in den auswärtigen Beziehungen, im verkehrsfreundlichen Sinne zu befestigen und zu fördern, ist eine weitere und nicht unwichtige Aufgabe, deren Lösung sowohl der äußeren, als auch der inneren Politik innerhalb ihrer beiderseitigen Competenz obliegt und deren Erfüllung für den Fortbildungsprozeß der völkerrechtlichen Normen nicht gleichgültig bleibt. Durch wechselfeitig bezeigte Staatengunst allmählich vorbereitet, werden Bündnisse festeren Bestand haben, als wenn ihnen diese Grundlage fehlt.

Beruht die Staatengunft auf Langzeitiger Ueberlieferung, so nähert

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