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§ 17.

Verhältniß des Völkerrechts zur Völkermoral.

Literatur: Die allgemeine Literatur über politische Moral s. bei Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften 1, 45; 116. III, 709. Außerdem: v. Holzendorff, Prinzipien der Politik. (2. Aufl 1879) 152 und 357. v. Jhering, Der Zweck im Rechte. Bd. II (1883), J. Mackintosh, Discourse on the Law of Nature and Nations. London 1799. Lieber, Political Ethics. 2nd ed. by Th. Woolsey. Philadelphia 1875. I, S. 76. International Immorality im Westminster Review 1855 (July).

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Francis

- Gallaudet, International Ethics. Im Journal of Social Science v. XVIII (1884), p. 151-162. Rowland, Law of nature, the foundation of morality. London 1859. Phillimore, Comment. I, § 33. Wharton, Commentaries on Law § 121.

Früher, als das Rechtsgeset oder doch gleichzeitig mit ihm offenbarte sich im gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschen des Sittengesek, das heißt, die Gesammtheit derjenigen Vorschriften, welche als nothwendige und dauernd bindende, von dem Willen und der Verfügung der herrschenden Gewalten unabhängige und darum allgemein vernünftige Normen zwar erkannt, hinsichtlich ihrer Verwirklichung aber entweder nur von der freien Willensentscheidung der handelnden Personen oder von der religiösen Sazung oder von der rein thatsächlichen Macht der nur freiwilligen Gehorsam fordernden Sitte abhängig gemacht werden. 1)

Ohne diese Voraussetzung eines bereits ausgebildeten und erstarkten fitt lichen Bewußtseins, würde innerhalb der menschlichen Gesellschaft eine Ausfonderung einzelner dortiger Postulate und deren Erhebung zum Range einer durch Justizorgane erzwingbaren Rechtssatzung überhaupt nicht denkbar sein. Alles Recht erwartet seine Realisation zunächst nicht durch Zwangsanstalten, sondern durch freiwillige durch Pflichtgefühl gebotene Leistungen.

Ihrer ursprünglichen Ueberlegenheit über die Willensneigung des einzelnen Menschen als einer Naturmacht vertrauend, verzichtete gleichsam die Sitte unter den einfacheren Lebensverhältnissen der eben aus dem Naturstande der Rohheit in höhere politische Organisationen eintretenden Völker darauf, die Folgen im Voraus zu ordnen und zu entscheiden, von denen Abweichungen von der hergebrachten Ueberlieferung oder Zuwiderhandlungen gegen ihre Gebote begleitet sein sollen. Erst der innerhalb bestimmter menschlicher Gesellschaftsgruppen gefaßte und in seiner Bethätigung nach Außen hin erkennbare Entschluß, jeglicher Auflehnung Einzelner gegen die überlieferten Gebote der Sitte durch äußern Druck und durch Zwangsanstalten entgegenzuwirken, ermöglichte allmälig die Herstellung klarer Gränzlinien zwischen Sitte, Moral und Recht. Culturgeschichtlich erscheint somit die Rechtspflege in ihrem Ursprunge, ihrem

Verlaufe® und ihrer gegenständlichen Ausdehnung als eine Veranstaltung, die auf einen inzwischen eingetretenen Machtverlust der ursprünglich nur als völkerpsychologische Potenz wirkenden Volkssitte hinweist oder sie erscheint, wenn man will, wie eine Machtentäußerung der Volkssitte zu Gunsten einer nicht blos psychisch, sondern auch mechanisch genügenden Einrichtung.

The es völkerrechtliche Normen gab, bestanden bereits zwischen benachbarten Völkern Sitten und Gebräuche des Verkehrs. Ueberall fielen die Beziehungen einer Nation zu andern Nationen in den Bereich entweder eines gewohnheitsmäßig geübten Brauches oder des sittlich religiösen Bewußtseins. Völkersitten gehen aber in die Formation völkerrechtlicher Vorstellungen alsdann über, wenn einer bestimmten Forderung des einen Volkes an ein anderes Volk nicht etwa nur im Momente leidenschaftlicher Erregung des Berechtigten, sondern durch das dauernd und übereinstimmend sich bethätigenden Bewußtsein der Nationen die Qualität eines rechtmäßigen Kriegsgrundes beigelegt wird.

Der Krieg hat somit die doppelte Eigenschaft: einerseits eine Aeußerung willkürlicher Unfitte zu sein, die sich in der Gewaltthat gegen schwächere Nachbarvölker bethätigt, andrerseits aber auch den Anfangspunkt zu bezeichnen, an welchem sich die in den Urzeiten der Menschheit geübte räuberische Gewalt von dem internationalen Rechtsakte der Kriegführung scheidet.

Innerhalb der völkerschaftlichen Beziehungen der Nationen zu einander blieb jedoch das Verhältniß moralischer und rechtlicher Vorschriften lange Zeit deswegen unklar und schwankend, weil die das innere Staatsleben beherrschenden Formen des Rechtsschußes auf den Verkehr selbständiger Staaten von vornherein nicht anwendbar schienen. Man nahm daher internationale Rechtsvorschriften als gleichbedeutend mit moralischen Anforderungen und umgekehrt. Solche Verwechselung zwischen Völkerrecht und Völkermoral trat auch darin hervor, daß man die idealen Erkenntnißquellen der Moral mit den Quellen des positiven Völkerrechts vermengte, wovon späterhin noch die Rede sein wird.

Im Uebrigen ist es leicht erklärlich, daß die theoretische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Völkermoral und Völkerrecht denselben Schwankungen unterliegen mußte, die von je her die Untersuchungen über den leßten Grund des Sittengesetes begleiteten.

Rechtsbewußtsein bedingt auch Schuldbewußtsein. Nicht nur die einzelnen Menschen, sondern auch die Nationen haben daher ein Gewissen, d. h. ein Schuldbewußtsein, welches ihnen einen schrankenlosen und willkürlichen Gebrauch ihrer Stärke und Machtüberlegenheit gegen andere Völkerschaften gerade dann verbietet, wenn diese als die schwächeren erscheinen, und wenn die Sieger an ihren welthistorischen Beruf zur Unterjochung anderer Staaten glauben, oder der klaren Vorstellung einer internationalen Rechtsordnung noch entbehren. Das Völkergewissen offenbart sich in dem Bewußtsein einer den Völkern aufzubürdenden Gesammtschuld, vermöge dessen selbst bei den

frühesten Anfängen sittlicher Cultur nationale Unglücksfälle als wohlverdiente Strafe oder als Akte geschichtlicher Sühne begriffen werden. 2) Eben dies Be wußtsein der Volksversündigung ist es, das in der uranfänglichen Unterscheidung zwischen Räuberei und Kriegführung sich ankündigt, und sich auch in dem uralten Beschwichtigungsversuche erweist, die Sclaverei aus Nüßlichkeitsgründen vom Standpunkt des besiegten Gegners zu rechtfertigen, um das eigene Gewissen zu beruhigen.

In gegenständlicher Richtung erstrecken sich die völkermora lischen Pflichten über das der Herrschaft des Völkerrechts unterworfene Gebiet und die internationalen Rechtspflichten hinaus. Wenn die Vorschriften des Rechtes unter den Verkehr pflegenden Nationen nothwendig eine Gemeinsamkeit der Rechtsvorstellungen und eine bis zu einem gewissen Punkte übereinstimmende Anschauung von dem Wesen der Gegensei= tigkeit und der Wahrhaftigkeit (bona fides) in den staatlichen Beziehungen zur Voraussetzung haben, so erkennt der höher gesittete Staat außerdem noch den Bestand sittlicher Verpflichtungen auch in seinem Verhalten gegen Barbaren in fremden Welttheilen an. Aus solchem Anerkenntniß stammt beispielsweise die in der Geschichte Europäischer Colonisationen in Amerika und Australien öfters bethätigte Bemühung, der schonungslosen, willkürlichen Ausrottung wilder Völkerstämme zu wehren, den Kulihandel und die Negersclaverei zu unterdrücken. Gerade der Hinweis auf den Sclavenhandel und seine Hemmung erscheint geeignet, den Unterschied zwischen Völkerrecht und Völkermoral zu veranschaulichen, davon gewissen späteren Verträgen abgesehen, ursprünglich keinerlei rechtliche Beziehungen zwischen Europäischen Regierungen und Afrikanischen Negerstämmen bestanden.

Die Pflicht zur Unterdrückung des Negerhandels beruht, so weit sie auf Europäische Verträge zurückzuführen ist, gegenwärtig auf völkerrechtlicher Vorschrift, zu deren Erfüllung die seefahrenden Culturvölker in ihrem wechselseitigen Verhältniß einander sich verbunben haben. Völlig unabhängig von Vertragsschlüssen und abgesehen vom Negerhandel, würden jedoch Europäische Staaten im Falle der Kriegsführung mit Afrikanischen Negerstämmen durch den heutigen Stand der Moralbegriffe auch den Wilden gegenüber verhindert sein, Kriegsgefangene der Sclaverei zu unterwerfen oder beliebig zu tödten.

Manche Völkersitten erscheinen somit geschichtlich gewürdigt, vielfach als Vorstufen nachmals völkerrechtlich gewordener Grundfäße, zumal in solchen Verkehrsbeziehungen, in denen die ethischen Vorstellungen über die rein äußerlichen Erwägungen selbstsüchtiger Nüglichkeit überwiegen. Als uranfängliche Regung sittlicher Anschauungen auf dem Boden internationaler Verhältnisse wirkt die Empfindung des Mitleidens mit dem Elende solcher fremder Personen, die aus ihrer Volksgenossenschaft ausgestoßen wurden: das dem Fremden zugestandene Gastrecht, der den Hülfsbedürftigen aus Gnade gespendete Schuß der Altäre. Obgleich das positive Rechtsgesetz und die praktische Jurisprudenz den Begriff der Menschenrechte außerhalb des Strafrechts, das Tödtungen

und Verletzungen an der menschlichen Persönlichkeit schlechthin ahndet, als einen brauchbaren nicht zulassen, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß das Moralgesetz ihn in das menschliche Bewußtsein der gesitteten Welt tief eingepflanzt hat und damit ein Entwickelungsmoment auch für die Rechtsgeschichte der einzelnen Staaten geschaffen hat, das gerade in der Gegenwart deutlich hervortritt.

Diese allgemein menschlichen Regungen der Theilnahme und des Mitleidens auch außerhalb der durch die staatsbürgerliche Gemeinschaft und die Nationalität gezogenen Schranken sind als völkerpsychologische Thatsachen in ihrem Wachsthum wohl zu beachten.

Gegenwärtig wird schwerlich geleugnet werden, daß das Recht der Selbsterhaltung und der sog. berechtigte Eigennuß des Staates ergänzt wird durch die sittliche Verpflichtung aller Nationen zur wechselseitigen Hülfsleistung und Unterstüßung nach dem Maßstabe der vorhan= denen Kräfte. Die sich häufiger wiederholenden Erscheinungen interna= tionaler Wohlthätigkeitsakte in Fällen großer Nothstände, die Spenden des Mitleidens, die hungernden Völkern jenseits der Weltmeere gereicht werden, legen Zeugniß dafür ab, daß die Völkermoral hinter dem Wachsthum der materiellen Verkehrsinteressen nicht zurückbleibt.

Aber auch der umgekehrte Prozeß ist denkbar. Wie aus Anfangs schwachen Regungen des Völkergewissens allmälig eine Forderung des Völkerrechts sich abklären kann, so geschieht es andererseits, daß dasjenige, was Staatskunst und Vertragsschluß als eine nur von der Einsicht der Staatsmänner verstan= dene Sagung in die Verkehrsverhältnisse einzelner Staaten versuchsweise einführte, nach und nach den Rang einer von den Nationen allgemein erfaßten Moralvorschrift annimmt, und auf diesem Wege eine größere Festigkeit erlangt, als die bloße Erwägung des Staatsnußens zu verleihen vermag.

Das Dasein völkermoralischer Vorschriften hat keine blos theoretische, sondern im Gegentheil auch eine höchst praktische Bedeutung. 3) Die rein äußerlich durch Vertragsclaufeln bezeugte Uebereinstimmung unter den Contrahenten der Staatsverträge würde juristisch wenig bedeuten, wenn die getroffenen Anordnungen die allgemein herrschenden, in den Völkern lebendigen Grundsäße des sittlichen Lebens verlegen.

Im Interesse seiner Dauerhaftigkeit, Sicherheit und Ausführbarkeit muß das positive Recht schon im Augenblick seiner Entstehung darauf geprüft werden, ob sein Inhalt im Einklange stehe mit den Anforderungen, die durch das gemeinsame sittliche Bewußtsein der Culturnationen gestellt werden.

Wie der Bestand ungeschriebener Rechtsnormen in der Staatengesellschaft, ebenso ist auch die über allen Staatshandlungen waltende Herrschaft des Sittengebots in modernen Staatsschriften, Verträgen und Manifesten anerkannt. 4) Den Verträgen wird durch ihre Einleitungsworte gerade in den wichtigsten Fällen, vermöge feierlicher Anrufung eine religiöse Weihe verliehen.

Wo es an genauen Vorschriften des Rechts fehlt, findet man oft genug die Bezugnahme auf die öffentliche Meinung, 5) deren Aussprüche auf juristischem Gebiete sicherlich geringe Autorität haben, wohl aber in sittlichen Dingen nicht unbeachtet gelassen werden, weil die sittlichen Regeln nur da= durch Macht gewinnen, daß sie, ohne Voraussetzung wissenschaftlicher Rechtfertigungsgründe und ohne Erkenntniß ihrer Vernünftigkeit, im Gefühlsleben der Einzelnen und der Völker unmittelbar wirksam werden. Vornehmlich der Vertiefung der Humanität und der weiteren Verbreitung moralischer Begriffe verdankt das moderne Kriegsrecht seine gegenwärtige Gestaltung. Nicht juristische, sondern moralische Grundsäße sind es, denen die Genfer Convention vom Jahre 1864, betreffend die Pflege der Verwundeten, ihren Ursprung verdankt.

Im modernen Völkerrecht erweist sich diese praktische Bedeutung der mo= ralischen Kräfte auch darin, daß ein sittliches Verhalten der Freundschaft, das mit demjenigen der auswärtigen Friedensbewahrung nicht identisch ist, ausdrücklich stipulirt werden kann. Als unzweifelhaft muß auch der Grundfat erachtet werden, daß allgemein anerkannten Vorschriften der Moral durch Verträge zwischen einzelnen Staaten nicht derogirt werden darf.6)

1) Aeltere Schriftsteller rechnen die Völkermoral zum Völkerrecht im weiten Sinne. Letzteres bezeichnen sie dann als äußeres Völkerrecht im Gegensaß zum inneren Völkerrecht, das als unvollkommenes d h. nicht erzwingbares Recht vorgestellt wird. So Bello, principios de derecho internacional, § 5: El derecho de gentes sellama interno, en cuando mira unicamente á la conciencia, y determina lo que esta manda, permiteo veda. Fast ebenso Vattel (droit des gens, préliminaires § 21). Diese Vorstellungen von der natürlichen Moral gingen parallel dem Begriff des natürlichen Rechts und der natürlichen Religion.

2) Heffter nennt dies die weltgeschichtliche Nemesis. Nicht nur der Besiegte (vae victis!), sondern auch der Sieger unterliegt dem Fluche wegen seiner Missethaten (vae victoribus!).

3) Daher auch der Eid als Bestärkungsmittel der Staatsverträge in älterer Zeit und die Anrufung der Gottheit im Eingange neuerer Verträge.

4) Wharton, Comment. § 121 bezeugt, daß in der Nordamerikanischen Staatspraris auf moral sense häufig Bezug genommen wird z. B. in den diplomatischen Correspondenzen während des Bürgerkrieges.

5) Vgl. v. Holtendorff, Wesen und Werth der öffentlichen Meinung. 2. Ausgabe, München 1880. S. 65 ff.

6, Anderer Meinung: Tissot, Introduction philosophique à l'étude du droit international (1872) S. 102. Dieser Schriftsteller gestattet von Rechtswegen die Vereinbarung, daß Geiseln getödtet werden dürfen, obwohl die Tödtung moralisch verwerflich sein würde.

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