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§ 1.

Begriff des Völkerrechts.

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Literatur: K. Th. Pütter, Begriff und Wesen des Praktischen Europäischen Völkerrechts, 1843. (In dessen Beiträgen zur Völkerrechtsgeschichte und Wissenschaft.) v Gagern, Kritik des Völkerrechts, 1840. v. Kaltenborn, Kritik des Völkerrechts, 1847. Fricker, Das Problem des Völkerrechts (Tübinger Zeitschrift für die gesammten Staatswissenschaften, 1872, Bd. 28). Geffden (zu Heffters Völkerrecht § 2 Note 1). — F. v. Martens (Ausgabe von Bergbohm) I § 3. Thompson, Ein Versuch, die Prinzipien des Völkerrechts zu finden und festzustellen. Barmen 1876 Brusa, Em. Idan fondamentale del diritto e del diritto internazionale in specie, 1872. - Der selbe, in seiner Einleitung zu Casanova, Diritto internaz. (1876) Bd. I. - P. S. Mancini, Diritto internazionale. Napoli 1873. Schiattarella, Propedeutica al diritto internazionale, 1881. A. Pierantoni, Trattato di diritto internazionale vol. I, § 3. Roma 1884. M. Mountague Bernard, An introductory lecture on International Law. Oxford 1859. Woolsey, Introduction to the study of International Law. 2 ed. (1867) §§ 1-16. W. E. Hall, Formation of the conception of International Law, in deffen Internat Law als Appendix, S. 657 ff. (1880). Th. E. Holland, The elements of Jurisprudence. 2 ed. p. 291. J. Lorimer, The Institutes of the Law of Nations. A treatise of the Jural Relations of separate political communities. London 1882. Ch. Calvo, Droit intern. I p. 115.

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Als Völkerrechtliche sind diejenigen Normen zu bezeichnen, in Ge= mäßheit welcher die Rechtspflichten und Rechtsansprüche Verkehr pflegender, unabhängiger Staaten im Verhältniß zu einander bestimmt und verwirklicht werden. Thatsächliche Vorausseßung des Völkerrechts ist nothwendiger Weise das Vorhandensein irgend welcher Verkehrsbeziehungen innerhalb einer Mehrheit neben einander bestehender Gemeinwesen, sei es nun, daß deren öffentlich-rechtliche Organe (die Staatsgewalten), sei es, daß deren Angehörige in Verkehrsbeziehung zu einander treten. Stellt man sich vor, daß entweder durch Wüsten, unübersteigliche Sebirge oder chinesische Mauern von einander ge

Sandbuch des Völkerrechts I.

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trennt, oder auf unentdeckten Inseln des Weltreiches abgeschnitten, also in völliger geographischer Isolirung, staatliche Bildungen vor sich gehen könnten, und nebeneinander beständen, so würde eben jeder einzelne Staat nur innerhalb seiner eigenen Grenzen, also nur im Verhältniß zu seinen eigenen Unterthanen ein rechtlich geordnetes Dasein erlangen. Wie die Thatsache des örtlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens der Individuen in der Menschheit älter ist, als die ihnen inne wohnende Erkenntniß einer für sie durch den Staat zu vermittelnden Rechtsordnung, so sind auch die Beziehungen nachbarschaftlichen Verkehrs unter Stämmen und Wandervölkern älter, als die Einsicht in eine ihn beherrschende oder auch beeinflußende, rechtliche Nothwendigkeit. Aus ursprünglich nur thatsächlichen und gelegentlichen Berührungen zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen erwächst allmählig im Bereich der Weltgeschichte ein zuständlicher, regelmäßiger, von Rechtsvorstellungen geleiteter Verkehr gesitteter Völker.

Vom Standpunkte gegenwärtiger Erkenntniß ausgehend, kann kein Staat an die Alleinberechtigung seines eigenen Daseins glauben und sich aller Rechtspflichten gegen andere Staaten ledig halten. Die natürliche, unabweislich gewordene Nothwendigkeit auswärtigen Verkehrs, die Unmöglichkeit völliger Ifolirung, wird von jedem Staate, dem seine geographische Lage eine Beziehung zu andern Ländern eröffnet, als eine des Eristenzbeweises nicht be= dürftige, völlig selbstverständliche Thatsache angenommen. Nur Ziel und Zweck, Maß und Begrenzung, Nüglichkeit oder Rechtmäßigkeit des auswärtigen Verkehrs in seinen einzelnen Gestalten und Verzweigungen kann bei der ge= schichtlichen Ausgestaltung und Entwickelung dieser an sich unbestrittenen Thatsache im menschlichen Leben gewissen Schwankungen unterliegen. Im Uebrigen weiß sich gegenwärtig nur derjenige Staat als Culturmacht, welcher über die geistigen Grenzen seiner natürlichen Volksanlage hinausschauend, in dem Verfehr mit anderen Staaten die Ergänzung seiner Unzulänglichkeit anerkennt und sucht. Eben so wenig wie es möglich ist, sich die Thatsache des ständigen Verkehrs aus der neueren Staatenwelt wegzudenken, kann sich irgend jemand diesen Verkehr als einen rechtlosen vorstellen. Der Begriff des Völkerrechts beruht somit auf der Voraussetzung einer Vereinigung dreier, theils historisch, theils psychologisch und ethisch gegebener Momente:

Erstens, auf dem Vorhandensein und Nebeneinanderbestehen einer Mehrheit selbständiger Staaten (wobei der Begriff der Unabhängigkeit der Selbständigkeit späterer Entwickelung vorzube halten ist);

Zweitens, auf der Thatsache eines unter selbständigen Staaten obwaltenden, geregelten und ständigen auswärtigen Verkehrs; Drittens, auf dem übereinstimmenden Willen der im Verkehr stehenden Staaten, sich innerhalb ihres gesellschaftlichen Bestandes als Rechtssubjekte wechselseitig anzuerkennen und ihre Beziehungen demgemäß gemeinsamer rechtlicher Ordnung zu unterstellen.

Insofern die Regeln des Völkerrechts nur durch Anerkenntniß oder Willensübereinstimmung mehrerer selbständiger Staaten geschaffen werden können, unterscheiden sich diese begriffsmäßig vom Staatsrecht und Privatrecht. Das Völkerrecht kann niemals das Werk eines Staates sein. Vermöge seiner praktischen Anwendung, seiner thatsächlich geübten Herrschaft innerhalb des auswärtigen Verkehrs der Nationen und seiner Uebereinstimmung mit ihrem Wollen und Handeln erscheint es keineswegs als bloße Vernunftforderung, sondern als positives Völkerrecht.

Denn jede durch das Collectivbewußtsein irgend einer menschlichen Gesellschaftgruppe (Familie, Stamm, Staat) dauernd als nothwendig genommene und bethätigte Regel des Verhaltens der Gesellschaftsglieder zu einander muß als positiv rechtlich gelten.

Welche Eigenschaften der Zweckmäßigkeit, Nüßlichkeit oder Vernünftigkeit diesen praktisch gehandhabten Normen zuzusprechen, ist daher für den Begriff ihrer Positivität nur von untergeordneter Bedeutung. 1)

Wenn in der Definition des Stoffes, mit welchem es die Völkerrechtswissenschaft zu thun hat, mancherlei Unklarheit und Unsicherheit bisher vorkam, so rührte dies daher, daß man entweder von vornherein ein vermeintliches Naturoder Vernunftrecht gleichbedeutend seßte mit praktisch geltenden Verkehrsnormen oder darauf Bedacht nahm, das positive Recht unmittelbar aus der Natur der Dinge abzuleiten, ohne die Vermittlung eines von rechtlichen Vorstellungen erhellten Collectivbewußtseins in Anspruch zu nehmen.

Dieser Weg führt jedoch deswegen zu keinem festen Ergebniß, weil der jeweilig nachweisbare Stand der Culturbeziehungen in der Geschichte keineswegs ausschließlich auf unabänderliche Naturgefeße zurückgeführt werden kann.

Es erscheint deswegen sicherer, von dem thatsächlichen Vorhandensein bestimmter, im Staatenverkehr als rechtsverbindlich gegenwärtig anerkannter, Regeln auszugehen und von dieser Thatsache, die durch gelegentliche Zuwiderhandlungen von Seiten einzelner Staaten weder aufgehoben noch widerlegt werden kann, dazu fortzuschreiten, ihre Entstehungsgründe, Rechtfertigungen und Ergebnisse aufzusuchen.

1) Fehlerhaft ist es deswegen, in die Definition des positiven Völkerrechts, wie die älteren Theoretiker vielfach thun, eine Zweckbestimmung aufzunehmen. So auch noch Bello, principios de derecho internacional. 2. Aufl. (1864, Paris) p. 11: El derecho internacional ó de las gentes es la colleccion de las leyes ó reglas generales de conducta que las naciones ó Estados deben observar entre sí para su seguridad y bienestar comun.

Auch die collecciona in dieser Begriffsbestimmung ist entbehrlich, obwohl viele Schriftsteller in ähnlicher Weise prozediren. Daß die Völkerrechtsregeln gesammelt oder wissenschaftlich zu Einheit verbunden werden, ist nicht nothwendig.

F. v. Martens a. a. OS 16 constatirt:,,daß in den Definitionen des Völker, rechts Unklarheit und Widerspruch auf eine Weise walten, daß sie beinahe als constante Eigenthümlichkeiten des Völkerrechts angesehen werden dürfen. Er selbft de

finirt: die Gesammtheit aller Rechtsnormen, welche den Völkern für die Sphäre ihrer gegenseitigen Beziehungen die äußeren Bedingungen ihrer Lebenszwecke seßen.

Die Gründe dieser Unklarheit sind: 1) der Versuch positives und natürliches, ideales Völkerrecht in gemeinsamer Formel zu definiren (Vattel); 2) die Vermischung des praktischen Völkerrechts mit der Völkerrechtswissenschaft; 3) die Formulirung bestimmter Völkerrechtsquellen innerhalb der Definition (Grotius, Wheaton); 4) die Aufnahme gewisser Zweckrichtungen in die Definition (Nüßlichkeit, Wohlfahrt,,,Lebensbedingungen").

Anderer Ansicht als Martens ist Calvo (droit intern. I, 116). Leşterer meint, daß sich die Definitionen des Völkerrechts nur in der Form der Redaktion, nicht in der Sache unterscheiden.

Bulmerincq (in Marquardsen's Handbuch 1, 2 S. 177) definirt das Völkerrecht nicht als geltende, sondern als sich bildende Rechtsregeln.

§ 2.

Sprachliche Bezeichnung des Völkerrechts.

Literatur: H. Wheaton, Histoire du droit des gens. (4. éd. 1865), p. 142.

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- F. v. Martens, Völkerrecht, Bd. I. § 3, S. 181. L. Renault, Introduction à l'étude du droit international. Paris 1879 § 5.

Nach der von uns gegebenen Definition ist der Inhalt des Völkerrechts, begriffsmäßig wenigstens, größtentheils verschieden von der Römisch rechtlichen, ehemals gangbar gewesenen Vorstellung eines jus gentium, womit einmal ein wissenschaftlich construirter, historischer Gegensatz gegen das Nationalrecht der Römer, andererseits eine Reihe theils öffentlich-rechtlicher, theils privatrechtlicher Grundsätze bezeichnet wurde, die allen Nationen vermeintlich gemeinsam gewesen sein, vornehmlich aber Privatrechtsbeziehungen in sich begreifen sollten. 1) Seinem Wesen nach ist das Völkerrecht die Verschmelzung allgemein menschlicher, auch im Römischen jus gentium vorausgesetzter Rechtsvorstellungen mit der Vorstellung einer Reihe selbständig neben einander wirkender Territorialrechte, während die Römischen Juristen an die Verwirklichung des jus gentium durch einen weltbeherrschenden Staat, also an ein einheitlich zu gestaltendes Weltrecht dachten. Praktisch realisirte sich das alte jus gentium als national-römisches Spätrecht, an Stelle des vorangegangenen national-römischen Frührechts (jus antiquum). Um dieser Verwechselung des Völkerrechts mit dem jus gentium der alten Zeit zu begegnen, würden für das heutige Völkerrecht die seit Zouchy (Zouchäus) aufgekommene Bezeichnung eines jus inter gentes vorzuziehen sein. 2)

Seit Bentham bezeichnet man das Völkerrecht auch als internationales Recht; doch ist das Völkerrecht nicht internationales Recht schlechthin3); insofern als dieses leßtere auch Privatrecht und Strafrecht in sich

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