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als Erscheinungen einer und derselben menschheitlichen Culturmacht auffassen, vergleichbar der Elektrizität, die sich in den beiden einander bedingenden Richtungen der nur anscheinend einander entgegengesetten Positivität und Negativität offenbart. Will man bei diesem Bilde bleiben, so läßt sich sagen: die staatliche Selbständigkeit einzelner Nationen, welche vom Standpunkt des Staatsrechts als Position erscheint, muß völkerrechtlich und international zunächst als die vorwiegend negativ gerichtete Tendenz aufgefaßt werden. Die Universalrechtsidee der Gemeinschaft der Völker, welche der historische Staat in seiner Gesetzgebung uranfänglich theils negirte, theils ignorirte, repräsentirt hingegen vom Standpunkt der völkerrechtlichen Idee die Position der Menschheit gegenüber ihren einzelnen Theilungen und staatlichen Gliederungen, indem sie die Unzulänglichkeit der vereinzelten und vergänglichen Staatskörper für die Erfüllung der Lebenszwecke des sich ewig vervollkommnenden Rechts behauptet.

Gegen diese Auffassungsweise kann nicht eingewendet werden, daß das Prinzip des Völkerrechts nothwendiger Weise ein einheitliches sein müsse. Denn Einheitlichkeit bedingt durchaus nicht Einfachheit der wirkenden Ursache. Fast alle Grundlagen staatlich gesellschaftlicher Dinge beruhen auf einem unlösbaren Zusammenwirken mehrerer sich wechselseitig in Bewegung sehender Kräfte in ähnlicher Weise, wie das Prinzip des sich fortpflanzenden Menschengeschlechts als eine Vereinigung der sich befruchtenden Geschlechtsdifferenz zweier Men= schen bezeichnet werden kann. Will man solche einheitliche Schöpfungsakte vermittelst organischer Vereinigung troßdem einen Dualismus nennen, so wäre die Richtigkeit einer solchen Fassung auch dadurch nicht zu widerlegen, daß man an die Stelle desselben einen sprachlich formulirten Einheitsbegriff setzt.

§ 10.

Weltrecht und Weltstaat.

Literatur: K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate. 2. Aufl. 1841. Band IV, (,,Vereinigung der Völker zu einem Völkerstaate“). zip und Zukunft des Völkerrechts (1871) S. 119 ff. meines Staatsrecht. Buch I, Cap. 2. F. Laurent, Études sur l'histoire

Lasson, Prins Bluntschli, Auge

Ahrens, Cours de droit naturel ou Vol. II, pag. 500-518.

de l'humanité, Tome X, pag. 16ff.
de philosophie de droit. 6. édit.
tens (Ausgabe von Bergbohm), Völkerrecht, Bd. I, § 45.

F. v. Mar.

Nur vermöge genauer Prüfung aller wesentlichen gegenständlichen Beziehungen des Völkerrechts wird es möglich, die Frage zu entscheiden, ob das Völkerrecht durch sein Prinzip vorausbestimmt ist, sich vermöge seiner gegen= wärtig nachweisbaren Qualität in die begriffsmäßige Einheit eines Welt= staatsrechts dereinst aufzulösen. Diese Frage kann von zwei Seiten her gestellt werden: 1. Sowohl von denjenigen, welche das Vorhandensein eines

positiven Völkerrechts in unserer Epoche zwar zugeben, aber dessen Unvollkommenheiten beklagen, indem sie gleichzeitig einen Vollendungszustand des internationalen Rechtes in der Zukunft durch weltstaatliche, der Zukunft vors behaltene Gebilde ermöglicht sehen. 2. Als auch von solchen, welche die Existenz positiver Völkerrechtsnormen leugnen und deren Möglichkeit oder Entstehung von der Schöpfung gewisser, außerhalb des Machtbereichs einzelner Staatenstehender Gemeinschaftsanstalten bedingt glauben.

Schon bei den älteren Völkerrechtslehrern findet sich die Vorstellung, daß die Totalität der Völkergemeinschaft, civitas maxima, also eine gleichsam aus den physischen Gewalten der einzelnen Staaten nach Analogie der moralischen Personen constituirte Gesammtkorporation der Völker, als herrschende Basis der Völkerrechtsordnung anzusehen sei, ein Gedanke, der auch denjenigen vorschwebte, welche die Verwirklichung des ewigen Friedens an die Herstellung eines Europäischen Staatenbundes geknüpft hatten.

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Man übersah, daß auf dem Boden des sog. Naturrechts, soweit dasselbe von dem vermeintlich angeborenen Rechte des menschlichen Individuums ausging und dessen Beschränkbarkeit im Gesellschaftszustande aus dem freien Willen ableitete, überhaupt kein haltbarer Anknüpfungspunkt geboten war, um zur Construction sog. moralischer Personen zu gelangen.

Daß nun die Herstellung einer objectiv ausreichend starken, constitutionellen, sowohl Gesetzgebung als auch Gerichtsgewalt in sich schließenden Herrschermacht über die Völker eine Vorbedingung für die Annahme einer Positivität der Völkerrechtsnormen bilde, ist in Uebereinstimmung mit der bisher überwiegenden Meinung der Theorie und der bisher geltenden Staatspraxis, bereits oben (f. § 6) in Abrede gestellt worden. Es könnte sich daher nur fragen, ob die Unterordnung der völkerrechtlichen Idee der freien Staatsgenossenschaft unter die universalstaatsrechtliche Idee einer Gesammtherrschaft jenen Zustand der Vollendung oder Vervollkommnung des Völkerrechts verheißen und gewährleisten

würde?

Ein alle Völker in sich vereinigender Weltstaat, der von seinen theos retischen Anhängern zwar nicht als centralisirte, jedoch als gleichsam centrale Weltmacht aufgefaßt wird, könnte vielleicht den einzelnen, von ihm geleiteten Nationen dieselbe Freiheit der Entwickelung in ähnlichen Formen und Schranken bieten, wie sie gegenwärtig den Gemeinden durch das Selbstverwaltungsprinzip einheitlich verfaßter Staatswesen gewährleistet wird.

Immerhin aber würde mit der Schöpfung des sog. repräsentativen Weltstaates, wenn man die Autokratie eines einzelnen, persönlichen Weltherrschers ausschließt und die Mannigfaltigkeit mehrerer nebeneinander bestehender Culturformen des staatlichen Lebens, für das Gedeihen der Menschheit als wesentlich betrachtet, an Stelle der heutigen freien Selbständigkeit jedes einzelnen Staates die Zwangsherrschaft nach Grundsäßen der Staatenmajoritäten den Staatenminoritäten gegenübergestellt werden müssen. Die Minder

zahl der Staaten hätte sich den entscheidenden Beschlüssen der Mehrzahl zu fügen, wenn man nicht etwa das Einstimmigkeitsprinzip in der Beschlußfassung einzuführen gesonnen wäre, wobei dann wiederum ferner in Frage kommen würde, ob Mehrheiten auf der Basis der allgemeinen gleichen Stimmberechti= gung der Staaten, oder ihrer ungleichen Machtvertheilung zu bilden sein würden. Dabei würde sich dann aber zeigen lassen, daß durch keine dieser Hypothesen grundsäglich an dem bisherigen Völkerrechtsprinzip etwas geändert wer= den könnte1).

Daß einstimmig in verpflichtender Form vereinbarte Staatenbeschlüsse schon gegenwärtig zur Anwendung eines wirksamen 3wanges gegen nachträglich opponirende Contrahenten berechtigen würden, scheint unbestreitbar. Denkt man sich hingegen die Leitung der conföderirten Staatenwelt in internationaler Beziehung abhängig von Majoritätsbeschlüssen eines ständigen Staats - Reprä= sentantencollegiums, also eines Weltregierungsorgans, so würde jede Alter= native gleich nachtheilig wirken müssen: entweder eine beschließende Mehrheit, gebildet nach dem Prinzip der Gleichberechtigung in der Abstimmung aller Staaten und bestehend aus den kleineren Staaten, denen die Macht fehlt den Widerstand einer mächtigeren Minderheit zu brechen; oder eine Stimmenmehrheit, gebildet nach dem Prinzip des leitenden Machtvorranges der größeren Staatskörper und bestehend aus solchen, gegenüber denen die Minorität der Stimmen zu schwach sein würde, bei Kompetenzüberschreitungen irgend welchen Widerstand zu leisten.

Daß weltstaatliche Repräsentativ-Institutionen, an sich genommen und lediglich objectiv betrachtet, eine Vervollkommnung in den völkerrechtlichen Beziehungen zur Folge haben müßten, läßt sich vom Standpunkte der heutigen Geschichtserfahrung weder vermuthen noch wahrscheinlich machen.

Anders verhielte es sich mit der gegenseitigen freiwilligen Annäherung culturverwandter Staaten zum Zwecke der Herstellung solcher Einrichtungen, durch welche die Anwendung gewaltsamer Selbsthülfe zur Erzwingung vertragsmäßig begründeter Forderungsrechte unter den Contrahenten ausgeschlossen würde.

Die Herstellung eines Staatenbundes unter gewissen höher civilifirten Staaten wäre, unter Vorausseßung einer intensiveren Culturgemeinschaft der betheiligten Mitglieder, eine Möglichkeit, durch deren Eintreten das gegenwärtig anerkannte Prinzip der staatlichen Selbständigkeit nicht aufgehoben, son= dern nur eingeschränkt werden würde. Nur thatsächliche, nicht prinzipielle Hindernisse könnten bei einer solchen Gestaltung in Betracht kommen.

Wenn man also die Idealität eines zukünftigen Weltstaatsrechts leugnet, so braucht man noch nicht den Gedanken eines zukünftigen Universalvölkerrechts an Stelle des heutigen, auf einen bestimmten Kreis von Nationen bezogenen Völkerrechts zurückzuweisen. Cultur und Barbarei sind keine nothwendig bleibenden Gegensäße in der zukünftigen Entwickelung der Menschheit. Stellt man sich die Einheit des Glaubens in Gemäßheit christlich kirchlicher

Verheißungen als in allmäliger Verwirklichung begriffen vor, so liegt, wenig= ftens vom Standpunkt des Christenthums kein Grund vor, die Rechtsgemeinschaft mit solchen Nationen abzuweisen, die gegenwärtig zwar noch in der Vorcultur begriffen find, späterhin aber civilisirt werden können. Seiner Anlage nach wohnt dem Völkerrecht sogar die Bestrebung und Richtung auf Univerfalität inne. Keine Nation ist durch das Prinzip des Völkerrechts von der Mitgliedschaft in der civilisirten Staatengemeinde grundsäßlich ausgeschlossen. Alle sind dazu berufen.

Ebenso kann unzweifelhaft, völlig unabhängig von der Universalstaatsidee, die Möglichkeit gefeßt werden, daß unter Wahrung der Souveränetät der einzelnen Staaten eine ständige Justizbehörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten vereinbart werde, für deren Beurtheilung feste Rechtsnormen bestehen. Auch sind Gemeinschaftsanstalten für die Wahrnehmung solcher Verwaltungsangelegenheiten, die das Interesse mehrerer Staaten berühren, durch den Charakter des gegenwärtigen positiven Völkerrechtszustandes nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern gefordert.

Der Begriff staatlicher Selbständigkeit ist kein absolut feststehender. Er verändert sich im Verlaufe der Weltgeschichte. Sein leßter Maßstab liegt in der Fähigkeit des Staates, durch nationale Geseze den eigenen Bedürfnissen zu genügen. Tritt die Erkenntniß der Leistungsunfähigkeit des Einzelstaates in Hinsicht seiner eigenen Interessen in das Bewußtsein der Nationen ein, so folgt damit für die von dieser Einsicht beherrschten Nationen mit Nothwendigkeit auch die praktische Bereitwilligkeit, sich selbst in internationaler Hinficht durch entsprechende Erweiterung des Gemeinschaftsprinzips zu beschränken. Die Annäherung an die weltstaatlichen Ideale kann daher nur im Wege der Selbstbeschränkung jeder Nation bewerkstelligt werden. Somit ist keine Nation gehalten, sich wider ihren freien Willen einem Gemeinschaftsbedürfnisse anderer unterordnen zu lassen, das sie selbst nicht empfindet. Noch viel weniger kann erwartet oder gefordert werden, daß alle Völker ihrer kriegerischen Gewaltmittel zu Gunsten einer irgendwie constituirten Gesammtstaatsgewalt sich entäußern.

Die denkbar höchste Macht, die zur Aufrechthaltung des kosmopolitischen oder weltbürgerlichen Prinzips vom Standpunkte des Völkerrechts gerechtfertigt werden könnte, würde immer nur darin bestehen, daß die Auflehnung oder Zuwiderhandlung gegen die schlechthin unerläßlichen Forderungen fortschreitender Cultur durch die höher entwickelten Staaten gegen stationäre, verkehrsfeindliche oder zurückbleibende Gemeinwesen mittels internationaler Verkehrssperre, oder völkerrechtlicher Excommunication geahndet würde.

1) Eingehend begründet ist ein Vorschlag (Le Problème final du droit internat.) von J. Lorimer (Edinburgh), Constantinopel zum Sit einer internationalen Regierungsbehörde zu erheben (Revue de droit internat. 1877, p. 161). Vgl. auch Bluntschli, Ueber die Organisation des Europäischen Staatenvereins in der Ber

liner „Gegenwart“, 1878, Nr. 6, 8, 9 (Bd. XIII). Darnach würde der Europäische „Staatenbund“ zusammengeseßt werden:

a) aus einem Bundesrath von 21 Delegirten (je zwei von den sechs Großmächten, je einem von den übrigen neun Regierungen von Bedeutung“, d. h Belgien, Dänemark, Griechenland und die osmanischen Länder, die Niederlande mit Lurenburg, Portugal, Rumänien Serbien - Monte

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b) aus einem Repräsentantenhaus mit 105 Mitgliedern, gewählt theils von den Volksvertretungen einer jeden Großmacht (je 10 Delegirte, also 60) und theils

von den Kammern der übrigen Staaten (je 5, also 45).

Irgend eine parlamentarische Discussion dieser Projekte ist bisher nirgends unternommen worden. Sie dürften überall als unausführbar vom Standpunkte der gegen wärtigen Zustände angesehen werden. Das ist auch die Ansicht von F. v. Mars tens, Völkerrecht Bd. I, § 51.

§ 11.

Das Nationalitätsprinzip.

Literatur: R. v. Mohl, Die Nationalitätsfrage (Staatsrecht, Völkerrecht und Politil I, 333 ff.). — Bluntschli, Die nationale Staatenbildung und der moderne Deutsche Staat. Berlin 1870. - v. Holtzendorff, Le principe des nationalités et la literature Italienne du droit des gens. (Rev. de D. Internat. 1870 (11. Bd.) p. 92ff. Bulmerincq, Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts S 53ff. P. S. Mancini, Del progresso del diritto nella società, nelle legislazioni e nella scienza durante l'ultimo secolo in relazione co' principi e con gli ordini liberi. Torino 1869. - Terenzio Mamiani, Dell' ottima congregazione umana al del principio di nazionalità. 1859. — L. Palma, Del principio di nazionalità nella moderna società Europea. Milano 1867. Esperson, Il principio di nazionalità, applicato alle relazioni civili Internazionali. Pavia 1868. L. Palma, La letteratura e il principio di nazionalità. Milano 1869. A. Pierantoni, Storia degli Studj del diritto Internazionale in Italia. Modena 1869. E Brusa, Einleitung zu Casanova, Diritto Internaz. Bd. I, S. CCCI ff. Lieber, Fragments of political science on Nationalism and Internationalism, 1868 (New York).

Auf das Prinzip der nationalen Selbständigkeit der einzelnen Staaten für sich allein, kann sich die völkerrechtliche Idee nicht stüßen. Denn völkerrechtlich genommen, ist der reine Grundsatz der Nationalität zunächst nur eine Negation, der politischen Gemeinschaft einer Nation mit anderen. Positives und philosophisches Völkerrecht, obschon wissenschaftlich und begriffsmäßig von einander zu unterscheiden, beruhen aber gerade auf denselben Grundthatsachen des politischen und menschlichen Gesellschaftszustandes, das heißt gerade auf einer unlösbar gewordenen Vereinigung innerhalb des Dualismus der aus dem menschlich individuellen persönlichen oder nationalen Selbständigkeitstriebe

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