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schaffung der Privatkriege oder vor Verkündung des ewigen Landfriedens kein Privatrecht gegeben habe? Ob Selbsthilfe, Krieg und Fehde als rechtlich anerkannte und regelmäßig geübte Zwangsmittel neben der Thätigkeit unvollkommen fungirender Gerichte, wie im Mittelalter, bei der Verwirklichung von Privatrechtsansprüchen begleitend hergehen oder ohne Concurrenz rechtsprechen= der ständiger Organe, wie innerhalb der Völkerrechtsbeziehungen, direct einzugreifen vermögen, das erscheint durchaus nicht geeignet, fundamentale Unterschiede in der grundsäglichen, materiellen Beurtheilung der Rechtsnormen zu begründen.

Wie ehemals der gerichtliche Zweikampf als Beweismittel fogar in den positiven Gesetzesvorschriften seinen Plaß zugewiesen erhalten konnte, so ist es auch umgekehrt möglich, daß nach der Tradition der Jahrtausende materielle und allgemein bindend erachtete Rechtspflichten sich unter dem Schuße jener formellen Prozeßvorschrift entwickelten, in Gemäßheit welcher der Krieg im Anfang der menschheitlichen Entwickelung als selbstverständliche und nothwendige Rechtshilfe sowohl zwischen einzelnen wie zwischen den Nationen allgemein angenommen wurde. Nicht selten vergißt man Angesichts des modernen Prozesses, daß im Mittelalter die Möglichkeit der Civil- und Strafrechtspflege auf dem Vorhandensein und der Bethätigung allgemeiner Volksbewaffnung beruhte. Parteien, die sich nicht freiwillig dem Gerichte unterwarfen, konnten durch obrigkeitliche Organe nicht dazu gezwungen werden. Die Gerichtsfolge beruhte auf Selbsthilfe der bewaffneten Freien gegen Ungehorsame und Flüchtige. 3) Gründete sich doch selbst das englische Schwurgericht auf den Gedanken frei= williger Unterwerfung des Angeklagten.

Wie also das altgermanische Recht in Gestalt seiner Gewohnheiten und Geseze positiv war trotz überlieferter Blutrache und troß des Kampf. beweises, so ist auch das moderne Völkerrecht als positive Rechtsordnung aufzufassen, obwohl der ursprüngliche Ausgangspunkt seiner Entwickelung, das Recht gewaltsamer Selbsthilfe im Kriege, bis auf die Gegenwart fortwirkt.

Die große Mehrzahl civiler Rechtsverhältnisse gelangt zur naturgemäßen Erfüllung ohne richterliches Eingreifen um deswillen, weil für den Fall ihrer Weigerung die pflichtige Partei den Gerichtszwang scheut. Ebenso werden in der Regel seit Jahrhunderten völkerrechtliche Verbindlichkeiten in Hinblick auf die Wechselfälle und die möglichen Gefahren eines Krieges erfüllt. Jede Nation weiß gegenwärtig, daß sie bei willkürlicher Verletzung allgemein anerkannter Völkerrechtsgrundsäße der gegnerischen Machtvereinigung großer Staaten nicht Stand halten könnte. Der in solchen Fällen vorhandene mögliche Zwang und die Nöthigung zur Unterwerfung unter allgemein festgehaltene Völkerrechtsnormen erscheinen sogar in manchen Fällen praktisch stärker, als die Machtsphäre der Gerichte, der ein Privatschuldner oder Verbrecher sich durch gelungene Flucht in das Ausland entziehen kann.

Wer aus dem gegenwärtigen Zustand der Privatrechts- oder Strafrechtsgesetzgebungen einen Grund entnimmt, um den Völkerrechtsnormen posi

tive Qualität abzusprechen, verfährt in seiner Beurtheilung unbedachtsam und oberflächlich.

Die Existenz positivrechtlicher Befugnisse und Verpflichtungen bleibt begriffsmäßig unabhängig von der Organisation einer mit überall ausreichenden Macht und Zwangsmitteln ausgerüsteten Gerichtsinstanz. Wäre es anders, oder nähme man, wie die literarischen Widersacher des Völkerrechts das Gegentheil an, so müßte man auch die Möglichkeit oder Wirklichkeit des parlamen= tarischen Verfassungsrechts in Monarchieen aus dem Grunde bestreiten, weil gegen Verfassungsverlegung des unverantwortlichen Staatsoberhauptes direkte Zwangsmittel nicht bestehen.

Wer daher für die Positivität materieller Rechtsnormen den Bestand formeller durch Execution gesicherter Prozeßgarantien als schlechthin wesentlich erachtet, übersieht die von dieser Anforderung abweichenden Erscheinungen der Privatrechtsgeschichte und die höchst bedeutungsvolle Thatsache, daß die älteste Form des Römischen Civilprozesses nicht auf gerichtlicher Nöthigung zur Unterwerfung unter eine staatliche Autorität, sondern auf vertragsmäßigen Vereinbarungen der streitenden Parteien, auf Bürgschaften oder gar auf der Fiction freier Proceßverträge beruhte.

Auch das Civilrecht kennt unvollkommene Rechte als Erzeugniß einer lex imperfecta oder in der Erscheinung solcher indirekt geschüßter Forderungsrechte, denen zwar die Klagbarkeit vor Gericht versagt ist, aber dennoch indirekte Wirksamkeit beigelegt ist.

Am allerwenigsten ist der Begriff der Positivität des Rechtes durch die Eventualität des Eingreifens ständiger, für jeden einzelnen Fall im Voraus competent erklärter Gerichtsinstitutionen bedingt. Ständigkeit der Gerichte erscheint überall als vergleichungsweise spät reifende Frucht der Rechtsgeschichte. Auch darf nicht übersehen werden, daß trok ständiger Gerichtsbarkeit Widersprüche in der Auffassung materieller Civilrechtsnormen überall vorkamen, bis in neuester Zeit der Grundsaß der Einheitlichkeit in der Rechtspflege durch centralistische Herstellung höchster Gerichtshöfe gesichert wurde.

Schließlich ist auch daran zu erinnern, daß nicht wenige Regeln des Völkerrechts als Incidentpunkte in Civil- und Strafprozessen durch Ge= richtsspruch innerhalb der territorialen Justiz realisirt werden. Daß ein Rechtssah immer durch solche Organe erzwungen werden müsse, deren Entstehung, Einrichtung und Gestaltung derselben Executivgewalt entsprach, die jenen Rechtssag gesetzgeberisch schufen, darf nicht verlangt werden. Wie der Bundesstaat sein Recht den Richtern der ihn bildenden Einzelstaaten anvertrauen kann, so darf auch die Völkerrechtsordnung ganz oder theilweise auf nationale Justiz begründet sein, obschon solche Schußmittel, als unzureichend und ergänzungsbedürftig solange erachtet werden mögen, bis ein höchster international wirkender Gerichtshof im Fortschritt friedlicher Entwicklung geschaffen sein wird. Mit Recht wird daran erinnert, daß Prisengerichte als Gerichtshöfe an=

gesehen werden dürfen, die troß ihres staatlichen Ursprunges, doch bestimmt find, internationales Seekriegsrecht anzuwenden.

Für die Positivität des Völkerrechts ist somit nicht die auf bestimmt gegebenen Entwickelungsstufen vorhandene Gestalt oder Form der seiner Verwirklichung dienenden Zwangsanstalten entscheidend, sondern seine Erzwingbarkeit in irgend welchen durch das gemeinsame Rechtsbewußtsein der Nationen zugelassenen Formen, ohne Rücksicht darauf, ob solche in vollkommen genügender Gestalt in allen einzelnen Fällen ihrer Anwendung zu fungiren vermögen.

1) Aehnlich F. v. Martens, Völkerrecht § 2 (S. 13): „Wenn also das bloße Dasein des Gerichtes an und für sich noch nicht im Stande ist, die Herrschaft des Gesetzes zu gewährleisten, so involvirt folglich auch der Mangel desselben durchaus nicht die Deficienz alles Rechtes."

2) Pland, Waffenverbot und Reichsrecht im Sachsenspiegel in den Verhandlungen der Münchener Akademie der Wissenschaften. Historische Klasse. Sizung vom 9. Februar 1884.

3) Man darf nicht vergessen, daß gerichtlicher Zweikampf in England förmlich erst im XIX. Jahrhundert abgeschafft wurde. S. Lea, Superstition and Force. 2. ed. Philadelphia 1870.

§ 8.

Das natürliche oder philosophische Völkerrecht.

Literatur: Ueber die älteren philosophischen Systeme zumal in Deutschland für die Epoche von Leibniz bis Hegel s. v. Kaltenborn, Kritik des Völkerrechts. 1847. Tittel, Geist des Grotius, oder Darstellung des natürlichen Kriegs- und Friedensrechtes. Zürich 1789. Ferner v. Ompteda, Literatur des Völkerrechts. S. 185. A. Geyer, in v. Holzendorff's Encyclopädie der Rechtswissenschaft. (4. Aufl. 1882.) S. 50 ff. Hälschner, 3ur wissenschaftlichen Begründung des Völkerrechts 1844. (In Eberty's Zeitschrift für volksthümliches Recht. Bd. I, S. 26—66). Bulmerincq, Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts. S. 143 ff. S. 143 ff. Derselbe in Marquardsen's Handbuch des öffentlichen Rechts I, 2, 182. juristischen Grundbegriffe. Bd. I, S. 189. Bergbohm), Völkerrecht. Bd. I, §§ 35, 37, of Nature and Nations, as affected by divine Law. London 1855. renzio Mamiani e P. S. Mancini, Intorno alle filosofia del diritto e singolarmente intorno alle origini del diritto di punire. 4 ed. Genova (1853). Tissot, Principes de droit public. Seconde partie. Introduction philosophique à l'étude du droit international. Paris 1872 J. M. F. Birnbaum, De Hugonis Grotii in definiendo jure naturale vera mente. Bonn 1835. J. Lorimer, The Institutes of the Law of Na

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tions, vol. I (1883), p. 1ff.

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Bierling, Zur Kritik der F. v. Martens (Ausgabe von Leone Levi, The Law

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Wir haben das Völkerrecht als positives, weil anerkanntes und praktisch anwendbares, im Verkehr herrschendes, somit als gegenwärtig gelten= des Recht definirt. Neben oder über dem positiven Recht steht das ideale, auf dem Boden der Rationalität erwachsene oder gedachte Recht, das die Wissenschaft als reine Theorie auffaßt, in Gestalt einer ewigen Vernunftforderung verkündet. Denn in der menschlichen Vorstellung einer zukünftigen Weltordnung kann der Unterschied zwischen positivem, vom Staat praktisch gefeßten und natürlichen, d. h. von der Vernunft ethisch gebotenem Völkerrecht aufgehoben erscheinen. In der Wirklichkeit der Dinge und der Geschichte der Staaten fallen beide Gestaltungen des nur idealen und des realen, praktischen Rechtes niemals völlig zusammen. 1). Sie trennen sich von einander wie die Conception einzelner Philosophen von dem praktischen Willen or= ganisirter Volksmacht.

Das positiv geltende Recht kann bei näherer Prüfung seines Inhalts vor dem Nichterstuhl der Vernunft als altherkömmlicher, tadelnswerther Mißbrauch erscheinen, die als wahrhaft vernünftig erweisbare Forderung im Verhältniß zu dem historischen unvollkommenen Stande der Völkerbeziehungen zeitweise, das heißt so lange undurchführbar bleiben, bis das allgemeine Bewußtsein der Nationen vom Lichte höherer Erkenntniß durchdrungen ist.

Auseinandersetzung und Begränzung beider Rechtsbegriffe ist in dieser Hinsicht um so wichtiger, als Verkennung und fehlerhafte Erweiterung der dem positiven Rechte gegenständlich unterworfenen Lebensverhältnisse durchaus geeignet ist, den sicheren Bestand der Völkerrechtsordnung zu gefährden.

Das, wenngleich in seinem Inhalt mangelhafte, aber allgemein gehandhabte und anerkannte (positive) Recht ist für die Verkehrsbeziehungen der Nationen werthvoller, als theoretische Versuche, ein vollkommenes, aber in der Völkergenossenschaft streitiges Postulat Widerstrebenden anzuempfehlen.

Das Verhältniß des philosophischen, rationalen, oder natürlichen Völkerrechts zum positiven Völkerrechte erscheint in doppelter Richtung be= stimmbar :

Erstens, als ein genetisch-historisches Verhältniß;

3weitens, als ein kritisch-theoretisches Verhältniß.

I. In ersterer Hinsicht hat man sich daran zu erinnern, daß die theore tische Erkenntniß einheitlicher, den gesammten Rechtsstoff durchdringender Prinzipien und die Aufstellung eines sog. Naturrechts überall in den abstrakten Resultaten der Betrachtung vorangegangener Rechtspraxis, so wie in der Vergleichung verschiedener, nebeneinander bestehender Staats-Institutionen mehrerer Nationen wurzelt. Ehe ein philosophisches, einheitlich construirtes System des Privatrechts oder Strafrechts oder ein allgemeines Staatsrecht wissenschaftlich gefordert werden kann, müssen als Stoff die einzelnen Bestandtheile positiver praktischer Rechtsübung gegeben und erkannt sein.

Die Rechtspraxis ist überall älter als die Rechtstheorie, womit nicht ausgeschlossen ist, daß die Theorie, nachdem sie sich der Praxis gegen

übergestellt hat, auch ihrerseits befruchtend wirke. Hat die wissenschaftliche Erkenntniß mit der Verallgemeinerung bestimmter als gemeingiltig erachteter Methoden der Untersuchung im Verhältniß zu einem überlieferten Vorrath geltender Rechtssätze eigenen und festen Bestand gewonnen, so wird es sogar unvermeidlich, daß sie auf die Fortbildung des positiven Rechts hin wiederum Einfluß gewinnt. 3)

Auch im Völkerrecht ist dieser geschichtlich überall hervortretende Prozeß der Wechselwirkungen nachweisbar. Aus der neueren wissenschaftlichen Betrachtung des Römischen Privatrechtes, das im Alterthum und Mittelalter keineswegs zur wissenschaftlich philosophischen Construktion gelangt war, ergab sich die nahe liegende Vermuthung oder Schlußfolgerung, daß sich die Beziehungen selbständiger Staaten ebenso wie die wechselseitigen Rechtsverhältnisse einzelner Personen zu einander auf allgemeine, in der Natur der Dinge liegende Grundsäge zurückführen lassen. 3) Von dem irriger Weise als vorhanden genommenen, in Wirklichkeit aber nur hypothetischen oder lediglich wissenschaftlich construirten Naturrechte, als vermeintlich angebornem Rechte der einzelnen Menschen zu der Hypothese eines Naturrechtszustandes der Staaten ist nur eines Schrittes Entfernung, sobald von der Theorie das scheinbar nothwendige, über alle Wechselfälle der Geschichte erhabene gesellschaftliche Lebensgesetz des Individuums losgetrennt wird von dem scheinbar willkürlichen Geseß, das in der Rechtssphäre des Staates den Bürger beherrscht. Nahm man früher den Staat (fehlerhafter Weise) als sog. moralische Person, so lag es nahe zu sagen: Jede einzelne moralische Person verhalte sich zur Menschheit ebenso', wie eine einzelne physische Person zur staatsbürgerlichen Gesellschaft. In gleicher Weise mußte dann das Völkerrecht, an sich genommen, durchaus unabhängig erscheinen von dem geschichtlichen Dasein und der thatsächlichen Macht einzelner Gesetzgebungsgewalten.

Das historisch genetische Verhältniß der naturrechtlichen Systeme zu den positiven Völkerrechtsübungen bestimmter Völker und Zeitperioden mußte sich um deswillen in höherem Maße fruchtbar erweisen, als im Bereiche gerade der internationalen Beziehungen jene sinnenfällige, regelmäßige, in der Gesetzgebung arbeitende Vermittlungsinstanz fehlt, die im Privatrecht wie im Strafrecht der allgemein begriffenen Vernunftforderung Verwirklichung schafft und somit ermöglicht, daß eine zeitlich genau wahrnehmbare Gränzscheide zwischen den werdenden und den sich erst vorbereitenden Rechtsbildungen einerseits und dem bereits fertig gewordenen Gesetze andererseits dargethan werden kann. Wer diese Wechselwirkungen zwischen idealen Rechtsbegriffen und praktisch positiven Rechtsgestaltungen übersieht, wäre auf das Verhältniß des alten jus gentium zum jus quiritium der Römer zu verweisen. Aus dem alten jus civile und seiner positiven Negation der Peregrinenrechte erwachsen, wurde der Begriff des jus gentium zum entscheidenden und herrschenden Gedanken in der Umgestaltung des Römischen Civilrechts.

II. Daraus erklärt sich denn auch die Bedeutung, die dem philosophischen Völkerrecht in der zweiten Richtung seiner kritisch-theoretischen Verwer

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