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sucht der Könige das sicherlich im Alterthum überall geahnte Vorbild der Schickfale, welche nachmals die um Hegemonie und Vorrang im inneren Zwist mit einander ringenden Freistaaten von Hellas erlebten. Jene beispiellose Macht, welche Homer oder die Homerischen Dichter über die Gedankenwelt des gesammten klassischen Alterthums ausübten, würde bei politisch hochbegabten Nationen, wie Griechen und Römer, durch rein ästhetische Vorzüge jener Gesänge nicht erklärt werden können.,,Dichtung und Wahrheit" hatten sich in der Ilias und Odyssee unbewußt und auf natürlichste Weise mit der staatlichen Denkweise der Griechen verwoben. Es war unmöglich, daß die feine Symbolik des Empfindungsvermögens im Alterthum übersehen hätte, wie der Fall Ilions die Niederlage Persiens bedeutete, wie sich in den Meerfahrten des Odysseus die Irrungen, Leiden und Unternehmungen des Hellenischen Geistes wiederholten. Und selbst der königliche Feldherr, der das Reich der Achämeniden zerstörte, bekannte sich persönlich zu dem kriegerischen Ideale des jugendlichen Fürsten, den die. Dichtung noch höher gestellt hatte als Agamemnons gebietende Gestalt.

Die Versammlung der Hellenischen Kriegsfürsten vor Zlion lieferte der lebensvollen Einbildungskraft aller Hellenen das Vorbild einer Versammlung aller in einzelnen Personen ausgestalteten Trefflichkeiten, die auch späterhin nirgends in einem Gewalthaber oder in einem Griechischen Gemeinwesen gleichzeitig nebeneinander angetroffen werden konnten.

In der berathenden Versammlung der Könige vor Jlion idealisirte sich die Versammlung des späteren Demos. Völlig nüchtern und prosaisch aufgefaßt, läßt sich der politische Kern der Homerischen Dichtung als großartigste, wenn auch absichtslos geschaffene Verherrlichung und poetische Verklärung der jeder Großmachtsbildung entschieden abgeneigten, föderalen und freistaatlichen Nationalkraft der Hellenen bezeichnen. Es bedurfte feines gelehrten Commentators, um Spartanische Könige und Atheniensische Bürger darauf hinzuweisen, daß in dem von Homer beklagten Königszwiste des Agamemnon und Achilles der Gegensatz von Athen und Lakedämon als dichterische Weissagung vorausgeahnt zu sein schien und den kommenden Untergang beider Staatswesen wiederspiegeln konnte.

Sind die Homerischen Gesänge die weltgeschichtlich bedeutendste aller Dichtungen, weil aus dem Volke kommend und zum Herzen des Hellenischen Volkes in unaufhörlicher Bewegung zurückfluthend, so darf auch ihr politischer und sittengeschichtlicher Inhalt nicht übersehen werden. Keiner der antiken Philosophen hat es verschmäht, seine Speculationen gelegentlich durch die Aussage des aus sich selbst in Homer dichtenden Volksgewissens zu stüßen, oder die Kleinheit nachhomerischer Volksführer und Demagogen an der dichterischen Erhabenheit alter Heroen zu messen.

Wären die kriegerischen Unternehmungen gegen Troja wirklich nur ein prähistorischer Vorgang oder gar ein reines Einbildungsproduct der Dichtung gewesen, so würde ihnen damit dennoch nicht ihre wirkliche und volle Bedeu

tung für die Entwickelung der internationalen Ideenrichtung im Alterthum selber abgesprochen werden können.

Denn nach der Auffassung der Hellenen und Römer gab die Dichtung Homers eine Wirklichkeit wieder, die als Schilderung eines goldenen Zeitalters idealer Kriegführung, oder eines Paradieses der Heroen dieselbe Macht über die Gemüther ausübte, wie die Erzählungen vom biblischen Paradiese auf religiöse Vorstellungen der christlichen Nationen.

In Homers Gesängen fehlt noch der schroffe Gegensatz zwischen Hellenen und Barbaren, dessen Hervorkehrung spätere Zeiten der freistaatlichen Formation auszeichnet. Bis zu einem gewissen Maße enthält die Ilias das künst lerische und menschheitliche Ideal aller Kriegführung: persönlicher Kampf der Führer, in dem die Menge noch zurücktritt hinter den Heros und gleichsam nur wie der dramatische Chor neben den königlichen Gestalten der antiken Tragödie wirkt, also Entscheidung des Feldkampfes nach eigenster Kraft des Kämpfers, ehrfurchtsvolle Scheu vor dem Willen der Götter, der im Getümmel der Feldschlacht bald auf diese, bald auf jene Seite getheilt fallen kann, der Gedanke an allgemein menschliches Unrecht, das durch Krieg ge= fühnt werden kann, Achtung des Gastrechts auch unter Feinden, Mitleid mit dem Besiegten, Gnadenspenden an den Unterliegenden, das Bewußtsein der durch den Uebermuth des Siegers herbeigerufenen Nemesis. Wenn auch die Aufgabe künstlerischer Darstellung vom Dichter die Vorführung der allen diesen edleren Zügen widersprechenden Gegensäge verlangte, so kann doch schwerlich bezweifelt werden, daß in Homer zuerst die Idee der Menschheit und der menschlichen Gerechtigkeit über diejenige der nackten Gewalt emporragt, daß der Kriegsgrund der Hellenen gegen Ilion weder ein willkürlicher noch auch nur ein nationaler, sondern ein allgemein kosmopolitisch gerechtfer tigter war und neben dem Untergange Ilions nach dem Grundsaße der Gesammtschuld auch von hochmüthigen Siegern wie Ajar die Buße vom Schicksal eingefordert wurde.

Vor allen anderen Dingen jedoch erschien es für die Folgezeit höchst wichtig, daß vor der Volksanschauung der Feind irgend eines einzelnen von ihm verlezten Fürsten, wie des Menelaos, nicht mehr im orientalischen Sinne als Gottesfeind angesehen wurde. Ganz im Gegentheil bewahrten kämpfende Völker vor Jlion ebenso sehr ihre Freiheit des Willens, wie jene Götter, die sterbliche Menschen zum Frevel angestiftet, also Krieg verursacht und verschuldet haben konnten. Und ebenso ist es ein bedeutungsvoller rein menschheitlicher Zug im Kriege, daß auf dem Schlachtfelde selbst die Erinnerung an das Gastrecht der Väter dem Feinde gegenüber die Oberhand gewinnen kann über die Leidenschaft des gährenden Kampfzornes.

Jenes Königthum, dessen kriegerische Bundesgenossenschaft Homer in der Ilias schildert und verherrlicht, verräth gleichzeitig seine eigene geschichtliche Schwäche in der Dichtung der Odyssee, deren Held nach langer Abwesenheit nicht nur die Erbrechte seines Sohnes, sondern auch seinen gesammten Haus

halt vor Vergewaltigung, Plünderung und Raub zu bewahren hat. Ein Königthum, das auf der Erinnerung oder Erwartung heroischer Thaten seines jewei= ligen Trägers sich stüßen mußte, konnte sich unter Hellenen in kleineren Landund Stadtgebieten nicht behaupten, noch auch den Wechsel von Sieg und Niederlagen in beinahe unaufhörlichen Nachbarzwisten überdauern. Es scheiterte entweder an der religiösen Vorstellung der Nemesis, die in persönlichem Mißgeschick der Herrschenden den gerechten Schicksalsspruch über vorhandene offenbare oder geheime Schuld zu vernehmen meinte, oder an der Beweglichkeit des Volksgeistes, welcher den Anspruch eines Tageshelden stets höher stellte als das Recht einer durch Machtmittel unzulänglich geschüßten Ueberlieferung.

So bildete sich in dem Zwischenraum, der das Schwinden des alten Königthums seit dem 9. Jahrhundert von dem Makedonischen trennt, jene beinahe unabsehbare Reihe von Verfassungsformen, in denen alles erschöpft wird, was auf der Grundlage historischer Thatbestände überhaupt politisch möglich erschien und im Mittelalter vorbildlich genommen werden konnte. Alle denkbaren Abstufungen zwischen dem alten, durch Sitte und Herkommen beschränkten Königthum, der auf Gewaltherrschaft beruhenden Tyrannis, der durch Grundbesig oder Amt begründeten Aristokratie, der Oligarchie und Demokratie wurden im schnellen Wechsel und während kürzester Zeiträume überschritten. Erschien dem vornehmlichsten Staatsgebilde des Dorischen Stammes in Sparta1) nach den Gesezen, die man Lykurg zuschrieb, aristokratische Organisation der Regierungsgewalten als das beste Muster der Verfassung, so gipfelte in der Atheniensischen Demokratie die Staatsidee der Jonier.

Keine dieser verschiedenen Formationen war der Entfaltung Griechischer Cultur völlig zuwider. Athen und Sparta ergänzten sich troß ihres starken politischen Gegensatzes auf dem Boden Hellenischer Politik wechselseitig so sehr, daß die auf Vergleichung beider Staatswesen begründete Meinung über den Werth der besten Verfassungsform unter Philosophen und Staatsmännern getheilt blieb, bis beide Freistaaten der überlegenen Macht des Makedonischen Königthums unterlagen.

Den Glanzpunkt in der politischen Entwickelung, den bedeutsamsten Abschnitt in der Entfaltung des Hellenischen Geistes bezeichnet das Zeitalter der Perserkriege. Was vor diesem Zeitraum liegt, darf als Althellenische Geschichte bezeichnet werden, deren mannigfach sich kreuzende Bahnen theils auf den Gestaden Kleinasiens, theils auf den Inseln des Aegäischen Meeres, theils in Sicilien und Großgriechenland, theils im eigentlichen Hellas unter dem Vorwiegen des Dorischen Stammes zu jenem entscheidendsten Gegensaße führen, den die Griechen im Vollbewußtsein ihrer höheren Anlagen als Barbarenthum bezeichneten und vornehmlich an das Orientalische Königthum knüpften.

Nach dem Verlust eines großen Stückes jener Asiatischen Küstengegen= den, wo es in älterer Zeit seine Autonomie und Selbständigkeit gegenüber Orientalischen Machthabern gewahrt hatte, vermag sich alsdann Griechenland in einer die Bewunderung der gesammten Nachwelt herausfordernden Energie

der Uebermacht der Persischen Könige zu erwehren, denen Großstaaten, wie Aegypten und Babylonien, bereits Jahrhunderte zuvor erlegen waren; damit wird der zur weltgeschichtlichen Wahrheit für alle internationalen Beziehungen der Folgezeit so bedeutsam gewordene Lehrsag erwiesen, daß in seiner ungetrübten Reinheit der freistaatliche Geist des Staatsbürgerthums selbst dann stärker ist, als das Eroberungsgelüfte der auf rohe Gewalt oder theokratischen Einfluß geftüßten Despotie, wenn diese über den blinden Gehorsam von Millionen verfügt, wie andererseits das Barbarenthum über die sittlich und politisch verfallende, aber intellectuell verfeinerte Cultur durch seine Menge zu siegen pflegt.

In einer zweiten Epoche zwischen dem Ausgang der Perserkriege und der Makedonischen Eroberung ersteigt der Hellenische Geist auf allen Gebieten seiner Bethätigung den für ihn überhaupt erreichbaren Höhepunkt wirthschaftlich nationaler, intellectueller und künstlerischer Gesittung. Aber der herrschend gewordene Gegensatz der beiden um die Hegemonie ringenden Gemeinwesen von Athen und Sparta verzehrt im Peloponnesischen Kriege die politische Gestaltungskraft der Nation und begründet in der Philosophie eine kritisch menschheitliche Gedankenrichtung, die auf Hellenischer Seite deswegen ein Gegenstück zu dem späteren Israelitischen Prophetenthum darstellt, weil sie den Rückgang des staatlichen Lebens aus einem allgemein waltenden Sittengefeße und dem Anerkenntniß der Volksverschuldungen zu begreifen suchte. Durch inneren Zwist entkräftet und erschöpft, verfällt endlich das freistaatliche Hellenenthum der Oberherrschaft des Makedonischen Zwingherrn, der aber seinerseits selbst ein Vasall Hellenischer Ideenherrschaft war.

Einen dritten Zeitraum leitet die Begründung Makedonischer Weltherrschaft in Asien und Africa ein. Es ist diejenige Epoche, welche man als das Zeitalter des Hellenismus bezeichnet. Der politische Verfall des Griechischen Staatswesen, unvermeidlich wie er geworden war und allen Reconstructionsversuchen trohend, vermittelt gleichzeitig die räumliche Ausdehnung der Hellenischen Gedankenwelt. Im großartigen Maßstab vollzieht sich die CoIonisation Griechischer Ideen auf dem Boden des Orients.

Im dritten Jahrhundert endlich geriethen die Völkerschaften des alten Hellas in Berührungen mit den Römern, deren kriegerische Ueberlegenheit das endliche Schicksal derjenigen entschied, deren Gemeindestaaten nach der Makedonischen Eroberung ein schattenhaftes Dasein bewahrt hatten. Die Geschichte der Griechen schließt mit ihrer Einverleibung in den Römischen Provinzialverband (146).) Die historisch berechenbare Zeit staatlichen Daseins umfaßt somit seit der Wanderung der Herakliden einen Zeitraum von etwa achthundert Jahren - wenig im Vergleich zu den Jahrtausenden Aegyptischer Dynastien, aber unvergleichlich reich an Hervorbringungen des edelsten Geistes, daher in Wahrheit das Jünglingsalter der Menschheit.

1) Ueber die Spartanische Verfassung fiehe die ausführliche Darstellung bei Grote (a. a. D.) Bd. II u. Gilbert, Handbuch der Griechischen Staatsalterthümer S. 160 ff.

2) Die Mehrzahl der bedeutenden Historiker (Grote, Curtius u. A.) beschließen die Darstellung der Griechischen Geschichte mit der Schlacht von Chäronea (338). Vom weltgeschichtlichen Standpunkte mag das richtig sein; vom staatsgeschichtlichen und politischen erscheint es bedenklich. Denn der Sieg Makedoniens vernichtete keineswegs alle Selbständigkeitsrechte. Betrachtet man die Vorgeschichte der Völkerwanderungen und Seßhaftwerdung, so muß auch die Nachgeschichte des Verfalles nicht unbeachtet bleiben. Die Merkmale der Zerseßung zu verfolgen und die Reconstructionsversuche der Spartaner darzulegen, ist nicht als Nebensache zu erachten.

Den Schlußpunkt der Griechischen Staatsgeschichte liefert also das Jahr 146 v. Chr. Ihre Namen verloren die Griechen unter Caracalla. Sie heißen bis zur Erringung ihrer Unabhängigkeit von der Türkei 'Papaior.

§ 51.

Die internationalen Verhältnisse der Hellenen und die Conföderationen.

G. F. Schömann, 6. Gilbert, Handbuch der

389 ff.

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M. Dunder, Ge

Köhler, Ur

Literatur; A. Böch, Staatshaushalt der Athener. 2 Bde. 1817. — M. Wachsmuth, Hellenische Alterthumskunde. 2. Aufl. 1846. Griechische Alterthümer. Bd. II, S. 1–112. Griechischen Staatsalterthümer (1881) I, 87ff, schichte des Alterthums. Neue Folge I, 33 f.; 139 f.; 365 f. kunden und Untersuchungen zur Geschichte des Delisch-Attischen Bundes (Abh. der Berl. Akad. 1869). H. Bürgel, Die Pyläisch-Delphische Amphiktyonie 1877. M. Dubois, Les ligues Etoliennes et Achéennes. Leur histoire et leurs institutions. (Paris 1884.) Bezüglich der Urkunden s. das Corpus Inscriptionum Atticarum und Rangabé, Antiquités Helleniques Bd. II, no. 376 ff. -G. Dittenberger, Sylloge Inscriptionum Graecarum

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Fasc. I. 1883.

Mit einigem Rechte darf man sagen: Die Hellenen bildeten aus ihrem kleinen Communalstaatswesen die ältesten völkerrechtlich bedeutsamen Organi= sationen. Von einem Hellenischen Völkerrechte" könnte man sprechen, wenn man davon ausgeht, daß dessen thatsächliche Vorbedingungen gegeben waren: Eine Mehrzahl gleichartiger autonomer Staaten mit ungehinderter Freiheit eigener Verfassungsbildung im Innern und sodann das Anerkenntniß eines ihnen gemeinsamen Rechtsbewußtseins in der Auffassung ihrer auswär tigen Beziehungen zu einander.

Unter den auswärtigen Beziehungen der Hellenischen Staaten können allerdings diejenigen zu nicht Griechischen Mächten als allgemein rechtliche vom Standpunkt der Griechen keineswegs angesehen werden, denn der Gegensat zwischen Cultur und Barbarenthum wurzelte gerade in der unlösbaren Ver

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