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Erstes Kapitel.

Die Anfänge im Orient.

§ 40.

Der Ursprung des Völkerrechts.

Die ersten Anfänge der Weltgeschichte enthalten gleichzeitig auch die Keime des internationalen Rechts. Denn der Entwickelungsgang der Weltgeschichte beginnt mit der Entfaltung internationaler Beziehungen im doppelten Sinne: einmal in der Nachwirkung bleibender Werke, als eines Ergebnisses geistiger Volksarbeit einer Nation auf andere, zeitlich später auftretender Nationen, die einen ihnen hinterlassenen Culturstand übernahmen, sodann in der gleichzeitigen, räumlich nebeneinander stehenden Wechselwirkung mehrerer Völker auf einander.

Alle Culturarbeit vollzieht sich in einer dieser beiden, als Nachwirkung oder lebendiger Wechselwirkung zu bezeichnenden Gestalten, oder in beiden gleichzeitig, wobei sehr verschiedene Maßstäbe und Antheilsverhältnisse möglich find.

Das Merkzeichen der alten Welt besteht vornehmlich im dem deutlichen Hervortreten successiver Culturformen der Nationen, in der Stärke der Nachwirkungen, die den staatlichen Verfall einzelner Nationen überdauern, in der Unwillkürlichkeit oder Absichtslosigkeit der Aneignung ausländischer Ueberlegenheiten, während die moderne Welt, mit einem historisch gewordenen Vorrath von Erkenntnißmitteln ausgestattet, in ihrem Lebensgange eine Verschmelzung zwischen internationalen Wechselwirkungen lebender Völker und dem erblichen Fortgange der älteren Culturen untergegangener Staatswesen erstrebt.

Für die Erkenntniß des Völkerrechts ist diese unterscheidende Betrachtungsweise nicht ohne Bedeutung. Um den Grad der Festigkeit erkennen zu können, den bestimmte Lehrfäße des Völkerrechtsverkehrs in gewissen Epochen des menschheitlichen Lebens erlangten, muß wissenschaftlich ermittelt werden, wie weit sie als unveräußerliche Grundlagen der geistigen Welt einen von dem Dasein einzelner Staaten unabhängigen Charakter angenommen und durch das Bewußtsein der lebenden Culturvölker als nothwendige Existenzbedingungen ihres

Wirkens begriffen wurden. Nur auf dem Fundamente weltgeschichtlich unantastbar gewordener, den jeweilig leitenden Nationen gemeinsamer Gesittungsverhältnisse kann ein dauernder, die wechselnden Interessen der Machthaber beherrschender Völkerrechtszustand begründet werden.

Sobald innerhalb staatlicher Volksgesittung die Rechtsidee sich irgendwie offenbart, ist es unvermeidlich, daß auch die Bestimmung der Stellung der Nationen zu ihres Gleichen in den Kreis ihrer Einwirkungen hineingezogen wird. Man darf daher der Behauptung, daß es den ältesten Culturvölkern an völkerrechtlichen Vorstellungen überhaupt gefehlt habe, die Berechtigung absprechen, wenn man darauf verzichtet, die Maßstäbe moderner Völkerrechtswissenschaft an die alten Culturstaaten anzulegen. Bei einer geschichtlichen Betrachtung der internationalen Verkehrsbeziehungen muß man jedenfalls davon ausgehen, daß das Völkerrecht in der Staatspraxis einen von der wissenschaftlichen Erkenntniß desselben durchaus unabhängigen Bestand haben kann. Ebenso ist anzuerkennen, daß das Recht, um überhaupt zu eristiren, keine selbständigen Erscheinungsformen zu besigen braucht; es kann, wie noch heute im Orient der Fall, mit religiösen Vorstellungen oder dem Ritual des Cultus untrennbar verwachsen sein. Anfänge des völkerrechtlichen Lebens sind also überall da gegeben, wo ein Volk im Verkehr mit anderen Völkern hinsichtlich seiner rechtlichen Befugnisse gewisse nach dem Grundsaße der Gegenseitigkeit verwirklichte Vorstellungen sich gebildet hat, mag der Inhalt dieser Vorstellungen sich übrigens in vorwiegend negativer Richtung wechselseitiger Verneinung bewegen oder nicht.

Der Unterschied zwischen den ursprünglichen Vorstellungen vom Wesen des internationalen Verkehrs ist im Verhältniß zum gegenwärtigen Völkerrechtszustand weitaus nicht so groß, wie der Abstand zwischen Uranfängen des staatlichen Strafrechts, das die Blutrache Einzelner anerkannte oder zuließ, und den modernen, auf Verfolgung des Verbrechers abzielenden Einrichtungen.

Thatsächlich waren die Gegenfäße und Verschiedenheiten der Nationen zu den ältesten unserer Geschichtsforschung zugänglichen Zeiträumen unter den um das Becken des Mittelmeeres gelagerten orientalischen Culturstätten keineswegs so bedeutend, wie man erwarten sollte, wenn man nur darauf Gewicht legt, daß der Ausgangspunkt historischer Entwickelung uns überall auf staatlich national und religiös und rituell abgeschlossene Daseinsformen der Völker zurückführt.

Wie die Wissenschaft der vergleichenden Mythologie unter den alten Volksreligionen überall Aehnlichkeiten und oft wiederkehrende Analogie nachgewiesen hat, so verhielt es sich auch im wirklichen Leben und innerhalb der ältesten Verkehrsbeziehungen. So lange im Wesentlichen verschiedene polytheistische Systeme des Götterglaubens bei den Nationen neben einander bestehen, mildert sich sogar die Ausschließlichkeit der noch in religiösen Vorstellungen befangenen Rechtssitte. Die geschichtlichen Wechselfälle auf Schlachtfeldern und Beutezügen belehren alsdann die Nationen, daß eine fremde Gottheit unter

Umständen die mächtigere sein kann oder daß eigene Landesgötter fremde Nationen gelegentlich beschüßen oder zum Werkzeug ihrer Rache für eine ihnen widerfahrene Vernachlässigung außersehen.

Die Unvollkommenheiten der ältesten Völker, wie solche in auswärtigen Verkehrsbeziehungen hervortreten, wurzeln weniger in der Schwäche moralischer Empfindungen, als in dem Mangel sicherer, über die Gebietsgränzen hinausreichender Kenntniß der Machtgränzen, die dem menschlichen oder staatlichen Können gesezt sind, und in der völligen Unbekanntschaft mit dem, was wir als weltgeschichtliche Abhängigkeitsverhältnisse der Nationen betrachten.

Jedes der alten Völker fühlt sich als alleinherrschendes innerhalb bestimmter räumlicher Gränzen, ohne die thatsächliche Vertheilung der Machtverhältnisse innerhalb der von anderen Nationen eingenommenen Theile der Erdoberfläche nach ihrer Geltung oder ihrer Begründung zu verstehen. In ähnlicher Weise ermangeln die alten Völker im Kindheitsalter des staatlichen Lebens jeder Vorstellung von der zeitlichen Endlichkeit, wodurch das Dasein der Staaten und der Völkerschaften eingegränzt ist. Unsterbliche Götter und Könige oder Heroen vermischen ihre Gestalten. Jede Dynastie knüpft ihren Ursprung an eine überirdische Stiftung. Gerade die am höchsten veranlagten Völker folgen in ihrem Lebenstriebe dem Glauben an eine bestimmte, ihnen von den Göttern gegebene Verheißung.

Prüft man die Beziehungen des auswärtigen Verkehrs, die zwischen staatlich organisirten Völkerschaften überhaupt möglich sind, so ergiebt sich, daß einzelne, verschiedenen Staaten angehörige Menschen aus dem Rahmen fester räumlich geschiedener Organisationen heraustreten und für ihre individuellen Zwecke mit der Fremde in Berührung treten können (internationaler Privatverkehr). Außerdem ist möglich, daß Staaten selber entweder wider ihren Willen oder in bewußter Weise in den Bereich eines ihnen ursprünglich fremden Gebietes oder eines ihnen gleichmächtigen fremden Staatswillens hineingerathen (internationaler Staatsverkehr). Das Verhältniß das zu verschiedenen Zeiten der Weltgeschichte zwischen diesen beiden Grundformen allen Verkehrs obwaltet, darf nicht unbeachtet bleiben, wenn es darauf ankommt, den Entwicklungsstand gewisser Epochen zu bestimmen.

Ebenso ist bei der Darstellung des geschichtlichen, in den internationalen Verkehrsverhältnissen nachweisbaren Verlaufes auf das Verhältniß zu achten, in welchem die einzelnen Mittel und Zweckrichtungen des Culturaustausches oder Culturüberganges zwischen lebenden Völkern sich bewegen.

Als solche Mittel und Zweckrichtungen des menschlichen und staatlichen, nach auswärts sich bewegenden Verkehrs kommen überall in Betracht: 1. Eroberung, Gewaltthätigkeit, Raubsucht und Kriegführung in fremden Gebieten.

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2. Gewaltsam erzwungene oder freiwillig unternommene Auswanderung, Ansiedelung und Einwanderung zwischen staatlichen Gebieten oder staatlichen und staatenlosen Landstrecken, sei es, daß es sich um einzelne Personen oder um ganze Völkerschaften handelt.

3. Handelsunternehmung oder Güteraustausch zu Lande und zur See.

4. Ideenaustausch oder Ideenaneignung, Uebertragung und Assimilation fremder Sitten und Gebräuche entweder vermittelt durch Nachahmungstrieb der Völker, verständige Berechnung des Handels oder Forschungseifer reisender Personen, beruhend auf Zeichensprache, Schriftverständniß oder Sprachgemeinschaft. 1)

5. Wahrnehmung internationaler Rechtsgeschäfte durch Boten und Gesandte.

Schon in den Urzeiten staatlicher Cultur finden sich, wenngleich nur in schwachen Anfängen, sämmtliche Hauptmodalitäten des Verkehrs. Sie müssen nach natürlicher Bestimmung am frühesten dort bemerkbar werden, wo es, wie zwischen dem nördlichen Afrika und Vorder- Asien, an schwer zu passirenden Gränzscheiden auf der Erdoberfläche fehlt, oder ein großer Stromlauf in Flußthälern die Verbindung der Menschen erleichtert, oder die Küfte einer meistentheils ruhigen See längere Strecken des Meeresufers für dessen Anwohner zugänglich macht, oder dem Festlande nahe gelegene Inseln das Wagniß einer mit unvollkommenen Mitteln unternommenen Seefahrt vermindern.

Die Mehrzahl dieser Bedingungen waren in Aegypten, in Mesopotamien und an den östlichen Gestaden des mittelländischen Meeres mit einander vereinigt. An diesen Stätten wurden sie zuerst erkannt und benut. An ihnen hat die geschichtliche Betrachtung der internationalen Culturvermittelungen zu beginnen.

Mit Recht nimmt die Mehrzahl der neueren Historiker Aegypten als den ältesten, durch die gegenwätig verfügbaren Mittel der Wissenschaft erkenn= baren Boden, aus welchem die heutige Europäische Gesammtcultur abgeleitet werden kann.,,Aegypten bildet den Abschluß einer Vorgeschichte des Menschengeschlechts, deren beste Hinterlassenschaft die älteren ägyptischen Denkmäler sind,

ein unvordenklicher Zeitraum, in welchem auch die Religion des Landes entstanden ist, der bei allen ihren Mängeln doch eine universale Bedeutung zukommt“ (L. v. Ranke).

Welche von den zahlreichen Völkerschaften des Orients in den geschichtlichen Prozeß des internationalen Culturlebens und folglich in die wissenschaftlichen Interessen des Völkerrechts verflochten werden können, darf als zweifelhaft angesehen werden, so lange die vorhandenen monumentalen Ueberreste uralten Schriftwesens der sprachlichen Entzifferung und Durchforschung noch Raum lassen. Sicherlich aber darf angenommen werden, daß außer Aegypten, die Staatsalterthümer der Israeliten, Assyrier, Perser und Phönicier

die vergleichungsweise bedeutendsten Beiträge zu den ersten Anfängen der ältesten Völkerrechtsgeschichte liefern.

1) Wichtigste Beispiele solcher geistigen Aneignungsprozesse liefert die Verbreitung der Schriftzeichen aus Aegypten, Phönicien, Babylonien unter benachbarten Völkern, sowie die Verbreitung der Arabischen Ziffern über die moderne Welt. Dieser Prozeß der internationalen Nachahmung schließt geistige Selbständigkeit in keiner Weise aus Man beachte beispielsweise die Umwandlung alt summarischer-chaldäischer Schriftzeichen für den Gebrauch solcher Sprachen, die einen völlig verschiedenen Sprachbau, wie das Persische und Assyrische, befolgten.

§ 41.

Das Aegyptische Staatswesen und seine Culturanfänge. Literatur: Ein Verzeichniß der neueren, mit Champollion, Rosellini und Lepsius beginnenden, auf Entzifferung der alten Urkunden beruhenden Geschichtsforschung Bors giebt: Wiedemann in seiner „Geschichte Aegyptens", Bd. I (1884). nehmlich zu beachten: Bunsen, Aegyptens Stelle in der Weltgeschichte, 6. Bd. 1844-1857 (Englisch von Birch, 5. Bd. 1857). Brugsch, Geschichte Aegyptens unter den Pharaonen. Erste Deutsche Ausgabe 1877. (Englische Ausgabe mit Anmerkungen von Seymour und Smith 1881.)

Maspero, Geschichte der morgenländischen Völker im Alterthum. (Deutsch von Pietschmann.) Leipzig 1877.) Revillot, Étude complémentaire du cours de Droit Egyptien. Paris 1884. Wilkinson, Manners and customs of the ancient Egyptians. London 1837. Aus Birch, History of Egypt, 1877. welthistorischen Gesichtspunkten geschrieben: Max Dunder, Geschichte des Alterthums. 5. Aufl. (1878), Bd. 1, S. 3 — 227. 2 v. Ranke, Weltgeschichte. 2. Aufl. 1881. Bd. I, S. 3- 39. Ed. Meyer, Geschichte des Alterthums. Bd. I. Geschichte des Orients bis zur Begründung des Perserreichs 1884. Uhlemann, Handbuch der gesammten Aegyptischen Alterthumstunde, Theil I IV. (1857 1858). Juristische Darstellungen: Laurent, Études sur l'histoire de l'humanité I. Bd., S. 220–248. (1855.) Pierantoni, Trattato di Diritto Internazionale. Bd. I (1881) pag. 90

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Aegyptens Staatswesen, wie man oft annimmt, aber nicht beweisen kann, auf Einwanderung von Stämmen protosemitischen Ursprungs beruhend1) und in näherer geistiger Berührung mit Vorderasiatischen Culturanlagen stehend, gelangte bereits vier Jahrtausende vor dem Beginn christlicher Zeitrechnung aus ursprünglich gesonderten, durch Verehrung localer Gottheiten noch späterhin bezeugten Ortsgliederungen (Nomen) zum festen Abschluß territorialer, streng monarchisch gehandhabter Verfassung. 2) Sein königliches Pharaonenthum giebt uns den Typus altorientalischer auf Verschmelzung göttlicher und fürstlicher Machtfülle beruhender Gewalt, deren Apotheose sich nachmals in der Idee des

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