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Darnach wäre es durchaus irrig, anzunehmen, daß die Geschichte des allgemeinen Völkerrechts wesentlich aus dem Inhalt einzelner Staatsverträge vergangener Zeiten zu schöpfen wäre. Eher wäre im Gegentheil zu behaupten, daß die Staatsverträge viel mehr den Stand schwankender Rechtsbildung wiederspiegeln, als dauernde historische Gesammtrechtsverhältnisse zu erzeugen vermögen. Im historischen Sinne genommen, ist somit das gegenwärtige Staatsvertragsrecht wesentlich als Recht eines Uebergangszustandes zu nehmen, in welchem vermöge zeitlich beschränkter Stipulationen erprobt werden foll, was für die Zukunft Anspruch auf allgemeine, vom Vertragsschließungswillen Einzelner unabhängige Berechtigung erheben könnte.

Muß innerhalb der Europäischen Völkergenossenschaft, wie bereits gezeigt wurde, engere oder weitere Culturgemeinschaft als Verbindungsglied unter den einzelnen einander näher oder entfernter stehenden Staaten unterschieden werden, so wird, wo unwiderrufliche Anerkennung historisch nothwendig gewordener Völkerrechtsverpflichtungen sich in dem Bewußtsein minder hoch entwickelter Nationen noch nicht festsehen konnte, die jeweilige Arbeit fortschreitender Rechtsbildung für die Verkehrsverbindungen zwischen engeren Culturgemeinschaften und entfernter stehenden Staatsbildungen sich nur in Gestalt des auf Verträgen beruhenden Uebergangsrechtes vollziehen können.

Die Geschichte der internationalen Verkehrsbeziehungen, durch deren Darstellung erkennbar gemacht werden soll, welche Völkerrechtsnormen als nothwendige Bestandtheile der gegenwärtig geltenden Ordnung, als unveräußerliche Gesammterbschaft in der historischen Succession der Culturnationen, und als geistige Weltmacht der Willkür der einzelnen Staaten entrückt sind, ferner welche anderen nur das Verhältniß einzelner Staaten zu einander bestimmenden Normen als gleichsam noch schwankende innerhalb zeitlich begränzter Uebergangszustände zu erachten sind, ist allein geeignet, wissenschaftlich haltbare Ausgleichungen zu bieten zwischen den Collisionen politischer Machtäußerungen und der rein juristischen Betrachtungsweise des Völkerrechts. Solche Collisionen sind unvermeidlich, wenn die bisherige, in der Lehre von den Rechtsquellen herrschende Verwirrung fortdauert und daneben einerseits die Organe der Diplomatie und Politik nothwendige und unveräußerliche, durch den Gang der Geschichte erweisbare Vorschriften der Völkerrechtsordnung mit den Uebergangsnormen des modernen Vertragsrechtes vermischen, andererseits die Träger der Jurisprudenz, aus Neigung zur Verallgemeinerung der für einen einzelnen Fall getroffenen Entscheidung, die nur zeitgeschichtliche und deswegen noch beschränkte Geltung einzelner Vertragsstipulationen voreilig in die Postulate der allgemeinen Völkerrechtsordnung einverleiben.

Nur aus der weltgeschichtlichen Grundlegung, welche den Quellenboden der Völkerrechtsnormen im Wege der Untersuchung theoretisch aufgräbt, und alsdann mit wissenschaftlich haltbarem Material ausmauert, ist das Entwicke lungsgesetz zu finden, dem das positive Völkerrecht als einer in der Culturverbreitung und in der Rechtsgeschichte unwiderstehlich waltenden höchsten Uni

versalmacht folgen muß. Und nur so werden die Bahnen erkennbar, die eine auf die Zukunft bedachte Reformirung des positiven Völkerrechts mit jener Vorsicht einschlagen muß, die vor allen anderen Dingen die Continuität der Geschichte als wirksamste Garantie für den Bestand des Rechtes begriffen hat.

Jede Darstellung des geschichtlichen Prozesses, den die Entwickelung der völkerrechtlichen Beziehungen durchlaufen hat, enthält nothwendig zwei Abschnitte:

1. Die Darlegung der die dauernde und allgemeine Rechtsgemeinschaft der Nationen im internationalen Verkehr wirkenden Thatsachen der Vergangenheit.

2. Die Darstellung des theoretischen Ideenprozesses, der die Er: kenntniß der Völkerrechtszustände leitet und den geschichtlich voran= gegangenen Thatsachen entweder, wie in den älteren Zeiten, nachfolgt, oder ihnen wie in der neueren Zeit, mit dem Bestreben, sie zu beeinflussen, in seiner Gestaltung vorauseilt.

Des Völkerrechts Anfänge und Keime sind so alt, wie die weltgeschichtlich nachweisbaren Anfänge menschlicher Culturwirkungen einer Nation auf andere Nationen. Dagegen sind die Anfänge der wissenschaftlichen Erkenntniß des Völkerrechts und eines in seiner Fortbildung waltenden Zweckbewußtseins sehr viel späterer Entstehung. Aus diesem Grunde ist es zulässig, die Geschichte der völkerrechtlichen Beziehungen, wie im Nachfolgenden geschieht, von der Geschichte der völkerrechtlichen Theorien und der Rechtsliteratur in der Darstellung zu trennen.

Der nächstfolgende dritte Abschnitt erläutert deswegen die geschichtliche Entwickelung der internationalen Beziehungen, der vierte Abschnitt die Geschichte der völkerrechtlichen Literatur.

Bei der Lösung dieser Aufgaben kann es sich, unter Verzichtleistung auf die Anhäufung zusammenhanglos gebliebener Einzelerscheinungen, nur darum handeln, dasjenige darzustellen, was als historisch entferntere oder nähere Urfache der im gegenwärtigen Zeitalter Recht wirkenden Kräfte begriffen, oder auch als Analogie moderner Verhältnisse denkbarer Weise wissenschaftlich verwerthet werden kann.

Drittes Stüd.

Die geschichtliche Entwickelung der internationalen Rechts- und Staatsbeziehungen bis zum Westphälischen Frieden.

Von

Dr. Franz von Holzendorff.

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