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gefunden werden mag. Da der Staat begriffsmäßig das Vorhandensein eines ihm eigenen, bestimmt begränzten Gebietes fordert, und das Völkerrecht eine Mehrheit selbständiger Staaten vorausseßt, so ist die Summe der Gebiete aller in Völkerrechtgemeinschaft stehender Staaten gleichzeitig auch der geographische Raum für die Anwendung der allgemein geltenden Völkerrechtsregeln.

Die Anwendung des sog. Europäischen Völkerrechts erstreckt sich somit auf folgende Staaten:

1. Auf diejenigen Staaten Europas, welche im Verlaufe ihrer geschichtlichen Entwickelung sich allmählig in die Rechtsgemeinschaft eines internationalen Verkehrs eingerichtet und eingelebt haben, was bei allen christlichen Nationen seit dem Mittelalter der Fall gewesen ist. 2. Gleichsam durch Fortpflanzung auf diejenigen Gebiete, welche in der neuen Welt von Europa aus colonisirt worden sind, ohne Rücksicht darauf, ob nach erfolgter Begründung selbige in ihrem Abhängigkeitsverhältnisse vom Mutterland erhalten blieben, oder sich als unabhängige Staaten losgelöst haben, ohne bei ihrer Losreißung die Absicht des Ausscheidens aus der Gemeinschaft Europäischer Rechtscultur kundgegeben zu haben.

3. Auf solche Staaten, welche zwar auf Gebieten außerhalb des Europäischen Culturverbandes oder im Gegensatz zu den Ueberlieferungen Europäischer Cultur entstanden sind, aber durch ausdrückliche Vereinbarung in die Rechtsgemeinschaft der Europäischen Staaten (fog. Europäisches Conzert) eingeführt worden sind.

Von der Geltung der ursprünglich in Europa entstandenen Völkerrechtsgrundsäße ist gegenwärtig kein einziger Welttheil völlig ausgeschlossen. Amerika und Australien fallen, von ihren noch staatenlosen Gebieten abgesehen, gänzlich, Asien zum Theil, Afrika mit einzelnen Landstrecken in den Wirkungskreis desselben Völkerrechts. Diesen geographischen Verhältnissen entspricht auch eine bestimmte Gruppirung der Nationen und Staaten.

Im Uebrigen ist die räumliche Ausdehnung des den völkerrechtlichen Normen unterliegenden Gebietes für den Begriff desselben gleichgültig. Jede neue Landerwerbung durch Europäische Staaten bewirkt so zu sagen stillschweigende Einverleibungen, jeder Rückfall einzelner Länder in die Barbarei einen Gebietsverlust.

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Gleichbedeutend mit dem Ausdrucke: Europäisches Völkerrecht" wird die Bezeichnung: Völkerrecht civilisirter Staaten" genommen. Da der Begriff der,,Civilisation“ indessen als höchste Gesittung auch vom altasiatischen Staatswesen für sich in Anspruch genommen wird, so darf die histo= rische Bezugnahme auf Europa, als den Ursprungskontinent des modernen Völkerrechts, zum Zwecke der Gegenüberstellung zu den seiner Anwendung nicht unterliegenden Landgebieten auch noch gegenwärtig festgehalten werden Vlit Asiaten kann man sich leichter verständigen, wenn man jede

Streitfrage über das Wesen der Civilisation vermeidet und ihnen Grundfäße anempfiehlt, welche den Namen einer Völkermacht tragen, deren Ueberlegenheit sie anzuerkennen genöthigt sind.

§ 5.

Gegenwärtige Gruppirung der Staaten innerhalb der Völkerrechtsgesellschaft.

Literatur: Fallati, Die Genesis der Völkerrechtsgesellschaft. 1844. (In der Tü binger Zeitschrift für Staatswissenschaft. I, 160; 260; 558 ff) Peschel, Völkerkunde. Leipzig 1874. S. 517-557. Derselbe, Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde. Leipzig 1879 S. 3-42. E Rapp, Vergleichende allgemeine Erdkunde in wissenschaftlicher Darstellung. Braunschweig 1868. S. 609 -684. F. v. Martens (Bergbohm) Bd. I, § 41.

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Innerhalb des über fünf Welttheile ganz oder theilweise sich erstreckenden Gesammtbereichs völkerrechtlicher Normen ist das Nebeneinander bestehen verschiedener Staatsgruppen mit den Kennzeichen einer engeren oder loseren Verbindung möglich. 1) Denn zum Wesen des Europäischen Völkerrechts gehört es nicht, daß sämmtliche Verkehrsregeln überall unterscheidungslos geübt und beobachtet werden, zumal auch der Begriff eines gemeinen Landesrechts durch die Geltung besonderer Ortsrechte in seiner Totalität nimmer aufge= hoben wird.

Unter den Europäischen Nationen bestehen deutlich erkennbare, wenn schon zuweilen schwer abzugränzende Merkmale größerer oder geringerer Intensität des Völkerrechtsbewußtseins. Die Osteuropäischen Völker sind in bleibend orga= nisirte Verkehrsbeziehungen mit dem Auslande später eingetreten, als die Romanischen und Germanischen Staatsbildungen. Je nach der geschichtlichen Dauer der Verkehrsüberlieferungen müssen auch die gewohnheitsmäßig erlangte Stärke und die Uebung der damit zusammenhängenden Rechtssatzungen einen dem Maßstab der zeitlichen Verhältnisse analogen Grad der Festigkeit erlangen. Von Erheblichkeit erscheint daher auch in dieser Beziehung die Unterscheidung der seefahrenden Nationen und der am Welthandel nur mittelbar betheiligten Binnenstaaten, insofern das Landgebiet die Territorialität der Verkehrswege, die offene See deren Internationalität bedingt. Die Grundfäße des Seeverkehrsrechts führen dann zur Ueberbrückung des Oceans durch die Gemeinschaft juristischer Regeln. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß die unabhängigen amerikanischen Staaten sowohl in Beziehung zu einander als auch im Vergleich zu den Europäischen Staaten wieder enger verbunden erscheinen, als folche Europäische Staaten, deren Geschichte in Krieg und Frieden mit demselben Schicksale verwoben würde. Der Amerikanische Kontinent kennt keine Gesammtvereinbarungen, die mit den Werken Europäischer Kongresse verglichen werden könnten. Freilich könnte es im Verlaufe der weiteren Entwickelung

sehr wohl geschehen, daß amerikanische Staaten noch früher zu einer inhaltreicheren und besser gesicherten Rechtsgemeinschaft geführt würden, als die Europäischen Länder, aus denen sie ihren Ursprung ableiten, wie andererseits auch das Gegentheil möglich bleibt und das auswärtige Verkehrsrecht der Europäischen Staaten auf eine höhere Entwickelungsstufe gelangen könnte, als dasjenige der gegenwärtigen amerikanischen Ländergebiete.

Noch loser erscheint der rechtliche Zusammenhang zwischen Europäischen und Amerikanischen Staaten einerseits und der Türkei andererseits, und zwar deswegen, weil sich das gemeinsame Cultur- und Rechtsbewußtsein christlicher Staaten in dem Gegensatze zu mohamedanischen Staaten seit dem Zeitalter der Kreuzzüge gesteigert hatte, und der Privatrechtsverkehr innerhalb der Türkei selbst sich zu dem Gedanken der Rechtsgleichheit aller Unterthanen noch nicht erhoben hatte, als die Türkei im Jahre 1856 in die Europäische Gemeinschaft eintrat, ein Vorgang, deffen Bedeutung in der Unabhängigkeitserklärung des praktischen Völkerrechts von der religiösen Glaubensgemeinschaft der Nationen liegt und seine geschichtliche Analogie im Westphälischen Frieden findet, durch welchen der Gegensatz verschiedener, bis dahin politisch verfeindeter christlicher Glaubensbekenntnisse völkerrechtlich ausgeglichen wurde.

Der unerweisbaren, aber oft wiederholten Behauptung, daß das Völkerrecht der Moslem und die religiöse Ausschließlichkeit derselben mit rückhaltsloser, unbedingter gegenseitiger Anwendung der Grundsäße des Europäischen Völkerrechts nicht anwendbar sei, darf keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden.

Daß sämmtliche in den völkerrechtlichen Verkehr neu eintretenden Nationen fich alle aus einer bereits höher entwickelten Verkehrspraxis stammenden Grundsäge sofort aneignen, wird durch den Begriff des Völkerrechts nicht gefordert. Wenn christliche und nicht christliche Unterthanen in einem und demfelben Staatswesen durch den Grundsatz der Gleichberechtigung der Bekenntnisse mit einander zur Rechtsgemeinschaft verbunden sein können, so scheint auch die Völkerrechtsgemeinschaft durch Religionsverschiedenheit der Nationen nicht ausgeschlossen. Auch die Religionssysteme und Glaubensbekenntnisse haben ihre Geschichten. Sie sind nicht nur culturspendend, sondern auch der Reinis gung und Veredlung fähig.

Die ältesten Stiftungsurkunden einer der Glaubens- und Verkehrsfreiheit der Menschen feindlichen Religion verhindern die davon beherrschten Völker nicht, zu einer späteren Zeit den überlieferten Glauben umzubilden und sich Duldung in dem Maße anzueignen, welches für den Verkehr mit dem Auslande unbedingt erforderlich ist. Zuweilen sind sogar Gegenfaß und Spannung zwischen entfernteren Religionssystemen geringer, als zwischen einander näher verwandten Confessionen.

In historischer Hinsicht bildet das canonische Hecht einen ausreichenden Präcedenzfall. Die Päpste, welche in Gemäßheit mittelalterlicher, rechtlich noch

fortwirkender Decretalen, die Rechtlosigkeit der Keter verkündeten, sind nach dem Westphälischen Frieden, gegen den die Curie protestirt hat, thatsächlich nicht behindert gewesen, mit katholischen Fürsten einen den Regeln des Völkerrechts entsprechenden, dem strengen Kirchenrechte der Katholiken jedoch zuwiderlaufenden Verkehr diplomatisch zu handhaben.

Für die Völkerrechtsgemeinschaft können somit religiöse Glaubensbekenntnisse, obschon sie politisch und culturhistorisch von Wichtigkeit sein mögen, rechtlich nicht in Betracht kommen, wenn Wille und Macht der Regierungen in nicht christlichen Staaten ausreichend erachtet werden, um den völkerrechtlichen Pflichten des Verkehrs zu genügen.

Auf Grund der gegenwärtig bestehenden Culturzustände lassen sich innerhalb der Verkehr pflegenden Staatenwelt folgende gleichsam als internationale Provinzialverbände aufzufassende Rechtsgruppen unterscheiden:

1. Die Alteuropäischen Staaten, deren Territorialordnung durch den Wiener Congreß geregelt war und noch von Heffter als Basis der internationalen Rechtsnorm festgehalten wurde. Das Merkzeichen ihrer Civilisation bildet die klassisch-mittelalterliche, christliche Culturgemeinschaft.

2. Die Rechtsverbindung der Alteuropäischen Staaten und der neuweltlichen Colonialstaatsbildungen, beruhend außerdem auf der Gemeinschaft der Verkehrstechnik und der materiellen Weltwirthschaft, aber gelockert durch den Mangel territorialer Gemeinschaftsordnung in der Staatenbegränzung und Flußschiffahrtsverhältnisse.

3. Die Rechtsverbindung zwischen Alteuropäisch - christlichen Staaten und den Türkischen Ländern seit 1856.

4. Die lediglich auf Spezialverträgen beruhende Rechtsverbindung zwischen Alteuropäischen und Neuweltlichen Staaten einerseits und Asiatischen oder Afrikanischen Staaten andererseits.

Für die Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen erscheint diese Sonderung nicht ohne Belang. 2)

1) Vgl. Heffter (Lehrb. § 7). Derselbe fügt der Anwendbarkeit des Pariser Friedens (Art. 6) den Vorbehalt hinzu, daß sich keiner der Kontrahenten verpflichtet haben wollte, gegen seine Religion etwas zu thun, zu unterlassen oder zu dulden, wodurch alsdann immer noch die Tragweite der Aufnahme in das Europäische Staatenconcert in Frage gestellt werde." Da eine christliche Religion außerhalb der historisch gewordenen Confessionen rechtlich nicht existirt, so würde die Construction eines derartigen Vorbehaltes dahin führen, daß das Verhalten christlicher Mächte gegenüber der Türkei sich verschiedenartig gestalten müßte, je nachdem katholische oder protestantische Regierungen in Betracht kämen. Man stände dann wieder ebenso, wie vor dem Westphälischen Frieden. Daß religiöse Momente thatsächlich die auswärtige Politik der Türkei stark beeinflussen können, ist für die Zulässigkeit des RechtsHandbuch des Völkerrechts I.

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verkehrs zwischen Mohammedanern und Christen grundsäßlich ebenso wenig erheblich, wie die Thatsache des confessionellen Gegensaßes unter christlichen Regierungen der Vereinbarung eines rechtlich geordneten Verkehrs entgegenstand.

2) Scheinbar anderer Meinung ist Bulmerincq. Praxis, Theorie und Codification des Völkerrechts S. 5: „Denn das Völkerrecht ist weder ein blos Europäisches, noch ein Europäisch-Amerikanisches, noch ein christlich-Europäisch-Amerikanisches — sondern es ist für alle Völker aller Welttheile und jeden religiösen Bekenntnisses berufen, eine gemeinsame Rechtsordnung aufzurichten, zu erhalten und durchzuführen.“ Den allgemeinen menschlichen Beruf des Völkerrechts kann man anerkennen, ohne darum die allgemein menschliche Geltung des positiven Völkerrechts zugeben zu müssen. S. R. Phillimore nimmt gleichfalls ein allgemeines (natürliches) Völkerrecht an und bemerkt, daß England völkerrechtliche Grundsäße im Verkehr mit Indischen Fürsten beobachte (Comm. I, § 29). Entscheidend wäre das aber nur, wenn auch Asiatische Fürsten dieselben Grundsäge im auswärtigen Verkehr befolgen würden. Im Uebrigen giebt auch Phillimore die Nothwendigkeit einer Gruppirung zu: »Unquestionably however the obligations of International Law attach with greater precision, distinctness and accuracy to Christian States in their commerce with each other.<<

§ 6.

Positivität des Völkerrechts.

Literatur: Mit Beziehung auf die ältere Zeit vor 1847 s. v. Kaltenborn, Kritik des Völkerrechts S. 306 ff. A. Vertheidiger der Positivität: Martens (1787), Saalfeld (1809), Schmelzing (1818), v. Droste-Hülshof (Lehrbuch des Naturrechts, 2. Aufl. 1831). — Schilling, Lehrbuch des Naturrechts (1863) Bd. 11, S. 237 ff. v. Savigny, System des römischen Rechts I, § 11. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. (2. Aufl. 1865) S. 896. Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe. Th. I, (1877.) S. 189 ff. — C. Bergbohm, Staatsverträge und Geseße als Quellen des Völkerrechts R. v. Jhering, Der Zweck im Rechte (2. Aufl. 1884) Bd. I, S. 320 329 (der von F. v. Martens, Völkerrecht § 2, S. 9 mit Unrecht zu den Leugnern des Völkerrechts gezählt wird). A Geyer, Philosophische Einleitung in die Rechtswissenschaft (in v. Holzendorff's Encyclopädie der R.W. 4. Aufl. 1882) S. 5ff. Bulmerincq (in Marquardsens Handbuch) 1, 2, S. 190. Seebohm, On international reform. 1871. E. C. Clark, Practical Jurisprudence Cambridge 1883, S. 130 ff. A. Pierantoni, Trattato di dir. internat. vol. 1, § 30 (Roma 1884).

S. 142 ff.

419 ff.

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1877.

B. Gegner des Völkerrechts: Puchta, Gewohnheitsrecht. Th. I,

A. Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerrechts (Berlin 1871.) Ph. Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs. Berlin 1883 Bd. II, Reyneval, Institutions du droit de nature et des gens. Liv. I, § 8 n. 10 John Austin, The province of Jurisprudence 208. Leightwood, The Nature of Positive Law London 1883. J. Westlake, A treatise on private Internat. Law. (2. Ausg. 1880.) p. 3.

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