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7. Belgien.

19. Januar. II. Kammer: beschließt mit 81 Stimmen gegen 2 Enthaltungen:

„Die Kammer spricht den Wunsch aus: die Anwendung des Schiedsspruches zwischen den civilisirten Völkern auf alle für eine schiedsrichterliche Entscheidung gearteten Streitigkeiten auszudehnen. Sie ladet die Regierung ein, bei vorkommender Gelegenheit zur Feststellung der Bestimmungen des Verfahrens für die Bildung und Thätigkeit internationaler Schiedsgerichte mitzuwirken. Die Regierung wird sich, so weit sie es ohne Unzuträglichkeit thun kann, bemühen, beim Abschlusse von Verträgen auf die Einräumung zu dringen: daß die Streitigkeiten, welche sich in Bezug auf ihre Vollziehung erheben können, einer schiedsrichterlichen Entscheidung unterzogen werden.“

3. Februar. Der deutsche Gesandte in Brüssel, Graf Per= poncher, richtet eine Note an die belgische Regierung bez. des Falls Duchesne (der an den Erzbischof von Paris das Anerbieten gerichtet hatte, den Fürsten Bismarck für eine bestimmte Summe zu ermorden) und verlangt, da auch bez. dieses Falles wie schon früher bez. der Kundgebungen belgischer Bischöfe an den deutschen Episcopat das rechtsverständige Gutachten dahin ausgefallen sei, daß, was Duchesne gethan oder beabsichtigt, durch die belgischen Geseze keinen Anlaß zum Einschreiten gebe, Belgien diese Lücke in seiner Gesetzgebung ausfülle, um den innern Frieden und die Sicherheit der Personen in befreundeten Nachbarstaaten gegen Beeinträchtigungen durch belgische Unterthanen sicherzustellen."

16. Februar. Senat: schließt sich dem Beschlusse der II. Kammer vom 19. Januar bez. Ausdehnung der internationalen Schiedsgerichte an.

26. Februar. Belgien lehnt in seiner Antwort auf die deutsche Note vom 3. Februar das darin dargelegte Begehren Deutschlands, die Lücken in seiner Gesetzgebung, namentlich auch bez. des Falls

Duchesne, auszufüllen, ab und wäre dazu nur allenfalls bereit; wenn andere europäische Staaten darin ihm vorangingen:

Die belgische Gesetzgebung steht, was den Versuch oder die Mitschuld eines Verbrechens oder Vergehens betrifft, im Einklange mit den modernen Gesetzgebungen, mit den Fortschritten der Wissenschaft, mit den Grundsägen des Naturrechts (raison naturelle) und mit den Sitten unserer Zeit. Der Versuch ist nur dann strafbar, wenn er sich durch äußere Handlungen kundgibt, welche den Beginn der Ausführung des Verbrechens bilden. Der einfache Gedanke allein steht außerhalb des Strafgesetzes. Der Unterzeichnete kennt kein Gesez, das heutzutage noch in irgendwelchem Lande wirksam wäre, demgemäß das, was Duchesne-Poncelet gethan, als Verbrechen oder Vergehen qualificirt werden könnte. Indessen wenn die Mehrzahl der europäischen Nationen oder doch einige derselben ihre Strafgesetze in dem Sinn ändern wollten, daß die durch Wort oder Schrift kundgegebene Absicht, einen Genossen zu einem in Aussicht genommenen Verbrechen oder Vergehen zu finden, selbst in dem Falle strafbar ist, wenn diese Absicht, weit entfernt, freundlich aufgenommen worden zu sein, mit Entrüstung zurückgewiesen wor= den ist, dann würde Belgien allerdings dieses ernste Problem des Strafrechts zu prüfen haben und wahrscheinlich einer Bewegung folgen, zu welcher ihm allerdings, wie es scheint, die Initiative nicht zustehen kann

27. Februar. II. Kammer: genehmigt nach fünftägigen Debatten ein Gesetz betr. Remuneration des Militärdienstes.

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Das Princip der Einrichtung ist ein bis jetzt dem belgischen Staat allein eigenthümliches. Von dem durch das Stellvertretungssystem gerechtfertigten Grundsatz ausgehend, daß dem unfreiwilligerweise, d. h. durchs Loos und die Unmöglichkeit der Ersazleistung, zum Militärdienst berufenen Staatsbürger für die Veräußerung seiner Freiheit“ eine Entschädigung ge= bühre, hatte das liberale Cabinet Frère-Orban 1870, vor seinem Sturze, ein von Minister Pirmez ausgedachtes Remunerationsgesetz durchgebracht, wornach dem ausgedienten Soldaten nach zurückgelegtem 55sten Lebensjahr eine Leibrente von etwa 150 Fr. festgesezt wurde. Troß seiner Mängel fand das Gesez damals in beiden Kammern fast einhellige Annahme. Deffen ungeachtet hielt es die jeßige Verwaltung für zweckmäßig, ihm ein anderes entgegenzustellen, und statt der Leibrente, in deren Befih ja doch nach den Sterblichkeitstafeln nur etwa sechs Zehntel der Berechtigten gelangen könnten, das Princip einer unmittelbaren Entschädigung, aber nicht zu Gunsten des Dienstmannes selbst, sondern zu Gunsten seiner Familie, geltend zu machen. Auch dieses System bietet in seiner Ausführung mannigfache Nebelstände, welche von Frère und seinen Parteigenossen aufs eindringlichste hervorgehoben wurden und verschiedene Amendements hervorriefen; aber die Opposition der Liberalen wird, wie vorauszusehen, überstimmt, und die Malou'sche Vorlage in ihren Grundzügen angenommen. Nach dem neuen Gesetz erhält die Familie des im Dienste befindlichen Milizmannes eine monatliche Entschädigung von 10 Fr.; stirbt letterer während seiner Dienstzeit, so wird diese Summe bis zum normalen Abschluß derselben verabreicht; ist er Waise, so wird sie für ihn auf der Sparcaffe niedergelegt und ihm bei seiner Entlassung eingehändigt. Ausgeschlossen sind solche Familien, welche mehr als 50 Fr. Staatssteuern bezahlen.

15. April. Der deutsche Gesandte in Brüffel richtet eine zweite. Note bez. des Falls Duchesne an die belgische Regierung, in der

•Deutschland auf dem Verlangen, daß Belgien die diesfällige Lücke in seiner Gesetzgebung ausfüllen möge, ohne daß es darum der Selbständigkeit Belgiens im mindesten zu nahe treten will, beharrt und damit die Anzeige verbindet, daß der deutsche Reichskanzler seinerseits bereits die Einleitungen getroffen habe, eine ähnliche Lücke in der Strafgesetzgebung des Deutschen Reichs auszufüllen.

23. April. II. Kammer: beschließt trok des Widerspruchs der Opposition mit 57 gegen 43 Stimmen, die (meist liberalen) Handelskammern abzuschaffen.

30. April. Die belgische Regierung beantwortet die zweite deutsche Note vom 15. d. M. in ausweichendem Sinne, indem sie versichert, daß

Belgien entschloffen sei, seinen Pflichten als neutraler Staat in freundschaftlichem Geiste und in der ihnen vom Völkerrecht angewiesenen Ausdehnung zu entsprechen, daß es den ausgezeichneten Beziehungen, die es mit Deutschland zu unterhalten nie aufgehört habe, einen hohen Werth beilege und auch den aufrichtigen Willen betheuere, alles, was in seinen Kräften stehe, zur dauernden Bewahrung dieser Beziehungen zu thun."

7.-8. Mai. II. Kammer: Debatte über den Notenwechsel und die Differenzen mit Deutschland. Die Linke zwingt die Regierung, die Ausschreitungen ihrer eigenen, der clericalen Partei, zu bedauern und bringt es sogar dahin, daß dieses Bedauern in der Tagesordnung ausdrücklich constatirt wird.

Der Führer der Linken, Frère-Orban stellt dem Cabinetschef Hrn. Jules Malou, das Dilemma, entweder seine auswärtige Politik oder die Politik seiner Partei und des Episcopats zu verläugnen und da Hr. Malou zunächst versucht, dem Dilemma zu entgehen, gelingt es Hrn. Orts (Linke), den Minister zum Stehen zu bringen und ihm endlich das Geständniß zu entreißen, daß er sowol die Sprache des Bischof von Namur (der den deutschen Kaiser mit Nero und Diocletian verglichen) als die Ausschreitungen der clericalen Preffe bedauere. Aber damit gibt sich die Linke nicht zufrieden. Hr. Orts will im Interesse des Landes, daß nicht nur das clerilale Cabinet sich und seinen Ursprung, sondern daß auch die freie clericale Majorität die ultramontanen Grundfäße officiell verleugne. Er schlägt eine motivirte Tagesordnung vor, welche das von der Regierung ausgesprochene Bedauern constatirt und demselben beistimmt. Das ist den Ultramontanen zu viel. Herr Jacobs von der äußersten Rechten protestirt gegen eine Zumuthung, die, wie er behauptet, die Würde des Landes preisgäbe. Es genüge vollkommen, daß die Kammer die Erklärungen billige, welche die Regierung abgegeben, und nicht in besonderer Weise das von der Regierung formulirte Bedauern noch bestätige. Die Linke besteht aber auf ihrem Verlangen. Selbst die Rede des Herrn Jacobs wird zur Waffe gegen die Clericalen, und man bestürmt förmlich die Ministerbank, um dem Herrn Jules Malou zu Gemüthe zu führen, er dürfe nicht auf halbem Wege stehen bleiben, wolle er gestärkt aus der Debatte hervorgehen, so müsse die Kammer seine Politik gutheißen. Und wirklich erhebt sich zuletzt der Cabinets-Chef und beschwört seine Partei

freunde, im Interesse des Landes die vorgeschlagene Tagesordnung gut zu heißen. Lauter Beifall der Linken folgt diesem ministeriellen Aufruf; Herr Jacobs versucht es, seinen Rückzug zu decken, und einstimmig mit 99 Stimmen erz folgt das Votum folgender Tagesordnung: „Die Kammer billigt die Er= klärungen des Cabinets, pflichtet dem von ihm ausgesprochenen Bedauern bei und geht zur Tagesordnung über.“ Rauschender Veifall, in den auch die Tribünen einstimmen, folgt der Proclamation dieses Votums. Was Herr Frère-Orban verlangte, ist geschehen, ja noch weit mehr. Die Regierung und ihre Majorität haben den Episkopat und die ultramontane Politik verleugnet.

17. Mai. Die Jubiläumsprocessionen, die von den Ultra= montanen vielfach in geradezu herausfordernder Weise abgehalten werden, geben an mehreren Orten, namentlich in Gent, zu argen Excessen Anlaß. In Folge davon werden sie in Brüssel, Lüttich 2c. von den Bürgermeistern dieser Städte verboten.

21. Mai. Der Gerichtshof von Lüttich beschließt, den Anträgen des öffentlichen Ministeriums entsprechend, die weitere Verfolgung der Untersuchung gegen Duchesne einzustellen.

23. Mai. Die Regierung übermacht die Acten der Untersuchung Duchesne derjenigen des deutschen Reichs und erklärt endlich, dem Begehren derselben entsprechen zu wollen:

.. Ohne abzuwarten, daß andere Nationen ihre Strafgesche abändern und ohne ihre Beschlüsse der Bedingung der Gegenseiligkeit unterzuordnen, hat die Regierung des Königs, über das, was sie versprochen hat, hinausgehend, sich entschieden, der Gesetzgebung baldigst eine Disposition vor, zulegen, nach welcher die nicht angenommenen Anerbieten oder Vorschläge, gegen eine Person ein schweres Attentat zu begehen, in gleicher Weise wie die Drohung mit einer strengen Correctionsstrafe bestraft werden sollen . . .

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25. Mai. Senat: schließt sich einstimmig dem Votum der II. Kammer vom 8. d. Mts. an:

In der dießfälligen Debatte schließt sich der ehemalige (ultramontane) Minister des Auswärtigen Baron d'Anet han den bezüglichen vom Finanzminister Malou in der Deputirtenkammer abgegebenen Erklärungen an. Gleichzeitig sucht er den belgischen Episkopat gegen die Beschuldigungen zu rechtfertigen, daß es derselbe an patriotischem Sinne fehlen lasse, und verlangt Aufklärung über die Hindernisse, welche die Freiheit des Cultus_in Folge der jüngsten bedauerlichen Vorkommnisse bei Abhaltung von Proceffionen erfahren habe. Dolez (von der Linken) bedauert die von den Bischöfen geführte Sprache und tadelt besonders lebhaft den Hirtenbrief des Bischofs von Namur, gibt jedoch zu, daß die Sprache des Klerus in Folge des von der Regierung ausgeübten Einflusses eine weniger aggressive geworden sei. Redner protestirt mit aller Bestimmtheit gegen die Behauptung, daß Belgien mehr Sympathie für Frankreich als für Deutschland habe. Dolez und d'Anethan beantragen alsdann eine Tagesordnung, wornach der Senat unter völliger Billigung der von der Regierung gegebenen Ausführungen und im Anschluß an das entsprechende Votum der zweiten Kammer zur Tagesordnung übergeht. Der Finanzminister Malon kündigt darauf den Geschentwurf an, wornach das Anerbieten oder der Vorschlag

zu schwerem Attentat straffällig sein soll und äußert im weitern Verlauf der Debatte: Belgien müsse die Redefreiheit bei sich durchaus aufrecht erhalten, aber es sei nothwendig, daß alle Meinungen in solchen Fällen, wo es sich um Vorgänge in andern Ländern handle, in weiser und maßvoller Form zum Ausdruck gelangten. Die von Dolez und d’Anethan eingebrachte Tagesordnung wird schließlich einstimmig angenommen.

6. Juni. Belgien beantwortet die Eröffnungen Rußlands be= treffs der Folge, welche der vorjährigen Brüffeler Conferenz über das Kriegsvölkerrecht zu geben sei, worin es seine Absicht etwas mo= dificirt oder wenigstens näher begränzt, dahin,

daß er Act nimmt von den neuerlichen Erklärungen Rußlands, und vor allem davon, daß es sich nicht um eine förmliche internationale Conferenz handelt. Die belgische Regierung hält die Vorbehalte aufrecht, welche ihr Telegirter zur Zeit der ersten Brüsseler Conferenz in Bezug auf das von den mittleren (secondaires) Staaten angerufene Recht der Vertheidigung des Gebietes gemacht hat und stellt eine Frage hinsichtlich der Gegenfeitigkeit: „Einer der Kriegführenden erklärt, daß er sich an die von der Conferenz grundgelegten Bestimmungen halten werde; geschieht dieß nicht bloß unter der Bedingung, daß der andere Kriegführende dieselbe Erklärung abgebe? Es ist anzunehmen, daß diese Frage auf der St. Petersburger Conferenz in gerechter Weise erörtert und gelöst werde."

8. Juni. II. Kammer: die Regierung legt derselben nunmehr wirklich einen Gesezentwurf vor, durch welchen die Lücke in der Gesetzgebung bez. des Falles Duchesne ergänzt werden soll und dem Begehren Deutschlands entsprochen wird.

23. Juni. II. Kammer: genehmigt mit einigen von der Com= mission beantragten Modificationen den Gefeßentwurf Duchesne mit 75 gegen 6 Stimmen.

30. Juni. Senat: nimmt den Gesezentwurf Duchesne seinerseits ohne Debatte an. Derselbe lautet nunmehr:

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Art. 1. Jeder, welcher direct angeboten oder vorgeschlagen hat, ein mit Todesstrafe oder Zwangsarbeit bedrohtes Verbrechen zu begehen oder an einem solchen Verbrechen theilzunehmen; jeder, der ein solches Anerbieten oder solchen Vorschlag angenommen hat, wird mit Gefängniß von 3 Monaten bis zu 5 Jahren und mit einer Geldbuße von 50-500 Fr. bestraft, vorbehaltlich der Anwendung des Art. 85 des Code pénal, wenn betreffende Umstände obwalten. Der Schuldige kann überdieß mit Untersagung der bürgerlichen Rechte, entsprechend Art. 33 des Code pénal bestraft und während der Dauer von mindestens 5 Jahren und höchstens 10 Jahren unter polizeiliche Aufsicht gestellt werden. Indeß sollen bloß mündliche Anerbie: tungen oder Vorschläge nicht bestraft werden, wenn sie nicht von Geschenken oder Versprechungen begleitet oder an Geschenke und Versprechungen geknüpft find, ebensowenig die Annahme eines ähnlichen Anerbietenz oder Vorschlages. Art. 2. Folgende Bestimmung wird der Nummer 9 des Art. 1 des Ge seges vom 15. März 1874 über die Auslieferung hinzugefügt: „Wegen Anerbietungen und Vorschlägen, ein Verbrechen zu begehen oder daran sich zu betheiligen, oder wegen Annahme besagter Anerbietungen oder Vorschläge.“

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