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Die Schweiz hat zwar durch die Annahme der Einverleibung jener Gebietstheile in ihre Neutralität die gerade erwähnten politischen Schwierigkeiten auf sich genommen; sie hat jedoch, gestützt auf den Wortlaut des bezüglichen Vertrages, trotz allem Drängen Sardiniens niemals anerkannt, dass die Besetzung und Vertheidigung des neutralisirten Savoyens eine imperative und quasi ein politisches Servitut sei, sondern dieselbe stets als eine facultative bezeichnet und sich damit die Möglichkeit der Begegnung daraus erwachsender diplomatischer Schwierigkeiten zu wahren gewusst.

Andererseits musste die Schweiz wohl erkennen, dass ihre Selbständigkeit Frankreich gegenüber in erster Linie nur durch eine Verbesserung ihrer militärischen Südwestgrenze aufrecht zu erhalten sei, und da ihr — was wohl das Wünschenswertheste gewesen eine directe, eine politische Einverleibung der Arve-Linie nicht zugestanden wurde, so nahm sie das ihr gebotene Auskunftsmittel endlich an.

Es ist bekannt, dass Frankreich im Jahre 1860 Nizza und Savoyen als Äquivalent für seine Zustimmung zur Constituirung eines einheitlichen Italiens erworben hat. In der bezüglichen Cessionsacte heisst es ausdrücklich, dass der König von Sardinien naturgemäss Savoyen nur unter denselben Bedingungen an Frankreich abtreten könne, unter und mit welchen es in dessen Besitze aus den Verträgen von 1815 hervorgegangen sei, und dass es Frankreichs Sache bleiben müsse, ihm etwa wünschenswerthe Änderungen bezüglich der Neutralität Nord-Savoyens mit den Signatar-Mächten von 1815 zu vereinbaren. Eine solche, diesbezüglich abändernde Vereinbarung hat aber nicht stattgefunden, daher bezüglich Nord-Savoyens der Status quo besteht. Factisch hat die Schweiz bei Ausbruch des französisch-deutschen Krieges im Jahre 1870 Anstalten getroffen, welche die Absicht erkennen liessen, von jenem Recht Gebrauch zu machen.

Es soll nun untersucht werden, ob und inwieferne die militärischen Verhältnisse der Schweiz durch die 1860 erfolgte Annexion Savoyens an Frankreich alterirt worden seien, und ob die factisch noch zu Recht bestehende Neutralität Nord-Savoyens ihre Wichtigkeit behauptet habe. Ausdrücklich wird bemerkt, dass hiebei von concreten politischen Constellationen abgesehen und nur die aus dem geographischen Elemente resultirende militärische Seite der Frage erörtert werden wird.

So wenig Bedeutung die Simplon-Strasse angesichts der Neugestaltung Italiens für einen französisch-österreichischen Krieg hat, so wichtig kann sie bei einem französisch-italienischen Krieg werden, nachdem die auf die Festungsgruppe Genua-Alessandria-Casale basirte und in ihrer ersten Aufstellung ohnedies schon über den Col di Tenda in der linken Flanke bedrohte italienische Armee dann auf noch weit gefährlichere Weise über den Simplon und (seit Herstellung der Fahrstrasse über die Furca) auch über den St. Gotthard in der rechten Flanke umgangen werden kann.

Mit der Erwerbung Savoyens ist Frankreich (von seinem Vordringen an die Pässe des Mont Cenis und des kleinen St. Bernhard nicht zu sprechen)

in den Besitz des nach dem Wallis führenden Ursprungsthales der Valorcine so wie der Defilés von la Meillerie und St. Gingolphe am Genfer See gekommen. Wenn es daher Truppen in Savoyen ansammeln darf, was durch die Bahnen Lyon-Grenoble-Montmeillan, und Lyon-Culoz-Annecy in überraschender Schnelligkeit geschehen kann, so ist die Schweiz, selbst wenn ihre Kriegsbereitschaft jener Frankreichs äquivaliren würde, nicht im Stande, das Wallis zu vertheidigen. Die Simplon-Strasse läge dann frei, und damit der Weg in die Ebene Piemonts und der Lombardei.

Mit der Besitzergreifung Savoyens durch Frankreich wurde aber auch ein speciell deutsches Interesse berührt. Wenn Frankreich am Südufer des Genfer-See's sich militärisch festsetzen darf, so kann es durch eine mittels Flotille auf den See basirte und (bei gleichzeitiger Maskirung von St. Maurice) um das Ostufer auf Freiburg dirigirte Operation den von der Linie, PontarlierLes Rousses ausgehenden Frontal-Angriff in so wirksamer Weise unterstützen, dass ein sofortiges Zurückgehen der auf der Südwest-Front, etwa an der Orbe-Venoge-Linie aufgestellten schweizerischen Streitkräfte hinter die Aar eintreten muss. Hiedurch erhielte aber der französische Angriff von vorneherein ein Übergewicht, welches in weiterer Consequenz zur vollständigen Aufrollung der schweizerischen Vertheidigungslinie und zur endlichen Festsetzung der Franzosen an der Süd - Deutschland, respective den linken Flügel der deutschen Armee auf das Intensivste bedrohenden Flusslinie BaselSchaffhausen führen muss. Durch die Neutralisirung Savoyens aber, respective durch die vor Kriegs-Ausbruch seitens der Schweiz erfolgende Besetzung des Chablais und Faucigny wird Frankreich diese flankirende Aufstellung entzogen, und dasselbe gegenüber der Schweiz auf das durch die JuraLinie bezeichnete frontale Verhältniss beschränkt. Aus der hier vorläufig ́ nur in grossen Zügen gegebenen Darstellung geht hervor, dass die Schweiz, ebenso wie Italien und Deutschland, das grösste Interesse habe, die Neutralisirung Nord-Savoyens nach wie vor aufrecht erhalten und respectirt zu wissen.

Da die Schweiz nach ihrer gegenwärtigen Wehrverfassung im Stande ist, ein (relativ) zahlreiches, gut bewaffnetes und geschultes Heer aufzustellen, so wird es ihr möglich sein, die durch besagte Neutralisirung militärisch günstiger gestaltete Südwestgrenze selbständig zu vertheidigen. Hiemit will gesagt sein, dass sich die Schweiz auf dieser Seite einer durch Überrumpelung gewaltthätig herbeigeführten Allianz mit Frankreich erwehren kann, und dass sie anderseits befähigt ist, bei eventuellem Allianz-Verhältnisse mit Italien oder mit Deutschland, den gegen die Südwestgrenze dirigirten französischen Streitkräften um so gewisser erfolgreichen Widerstand zu leisten, als diese ungeachtet der Wichtigkeit des Operations-Objectes schon wegen des hochgebirgigen Terrains numerisch stets secundär sein werden. Ob jene völkerrechtlich verbrieften Stipulationen Umgehungs - Manövern der französischen Diplomatei stets das Gleichgewicht werden halten können, d. h. ob die Schweiz bei einschlägigen Conflicten thatsächlich jedesmal in der Lage sein

wird, das neutralisirte Savoyen rechtzeitig zu besetzen, ist eine Frage, welche diesen Erörterungen ferne bleiben muss.

Da die Schweiz weder die Verpflichtung noch ein Interesse hat, Savoyen. als solches zu vertheidigen, sondern dasselbe nur als eine dem eigenen Territorium vorgelegte Schutzmauer betrachten kann, so entsteht die Frage, in welchem Umfange die Schweiz bei bevorstehendem Kriege mit oder zwischen den Nachbarstaaten von dem ihr tractatmässig zustehenden Rechte, das neutralisirte Savoyen zu besetzen, am zweckmässigsten Gebrauch machen würde?

Da hier nur vom defensiven Verhältnisse die Rede sein kann, so muss vor Allem der Grundsatz einer möglichst concentrirten Aufstellung, somit die Wahl eines Terrain-Abschnittes in's Auge gefasst werden, wo dem Feinde möglichst wenig Angriffspunkte gegeben sind, und von wo aus den ernstlich bedrohten Punkten eine Unterstützung rechtzeitig werden kann.

Bezieht man diesen Grundsatz auf die geographischen Verhält nisse des savoy'schen Neutralitäts-Rayons, so gelangt man zu folgenden Erwägungen:

Wollte die Schweiz ihre Defensiv-Aufstellung längs der Neutralitätsgrenze selbst nehmen, so würde diese militärische Position, von Genf längs des Rhône bis St. Genix, dann in östlicher Richtung bis an die MontblancGruppe laufend, eine grosse Ausdehnung erlangen und um so grössere Streitkräfte absorbiren, als das Terrain an der Front der südlichen Grenzlinie schon weit gangbarer ist. Bei dem Mangel einer rückwärtigen Centralstellung (das Arve-Thal kann wegen der relativen Ungangbarkeit seiner linksseitigen Begleitung für eine so weit vorliegende und ausgedehnte Aufstellung als eine solehe füglich nicht gelten) würde die ganze Vertheidigung den Charakter einer Cordonsstellung tragen, aus welcher der Sehweiz bei Abgang irgend wie gegengewichtiger Vortheile nur die grössten militärischen Nachtheile erwachsen würden.

Rückwärts der Linie der Neutralitätsgrenze sind aber noch zwei Abschnitte, welche für defensive Aufstellungen in Betracht kommen können, u. z. die Linie der Arve und die Linie der Dranse. Was die letztere betrifft, so ist auf den ersten Blick zu sehen, dass durch ihre Besetzung als vorderste Defensionslinie Genf, dessen hohe politische und militärische Bedeutung anderwärts eingehend gewürdigt werden soll, isolirt würde, dass ferner den Franzosen der Zugang zu dem Genfer See und der wichtige Einbruchsweg durch das Thal von Valorcine in das Wallis offen stünden. Durch die Besetzung blos der Dranse-Linie ist also weder speciell das Wallis, noch überhaupt die Südwestgrenze vertheidigt.

Die Besetzung der Arve-Linie dagegen bietet die relativ grössten Vortheile zur Erreichung dieser Zwecke. Vom Mont Dolent nämlich, an der Grenze zwischen Wallis, Piemont und Savoyen, bis an den Col du Bonhomme reicht die unübersteigliche Gebirgsmasse der Montblanc-Gruppe, von wo zwar eine minder gewaltige, aber durchwegs auch hochgebirgige Kette als linke

Thalbegleitung der Arve bis zum Mont Salève bei Genf zieht. Über dieses Hochgebirge führen nur zwei Fahrstrassen; die eine aus dem Isère-Gebiete von Alberteville über Ugine, Megève nach Sallanches, die andere von Annecy über la Roche in zwei Zweigen ebenfalls an die Arve. Zwischen diesen Pässen ziehen nur wenige Saumpfade (der Punkt St. Jean de Sixte ist als Knotenpunkt erwähnenswerth), so dass dieses Hochgebirge mit dem nahe dahinter liegenden, durchwegs von einer guten Communication durchzogenen ArveThal mit Vortheil als Vertheidigungslinie benützt werden kann, vorausgesetzt, dass am rechten Flügel Genf zweckmässig befestigt und zum Replipunkte für die Vertheidiger der Strassen über den Mont Sion gemacht wird.

Die Vortheile, welche die Besetzung der Arve-Linie gibt, sind:

1. Die Kürze der Linie; sie ist sogar kürzer als die schweizerische

Staatsgrenze (von (beiläufig] Fort ' Ecluse bis zum Mont Dolent);

2. die Verhinderung der feindlichen Festsetzung am südlichen Ufer des Genfer See's, und damit im Zusammenhange die Gewinnung und Deckung der kürzesten Verbindung zwischen Genf und dem Wallis;

3. die leichte Sicherung aller aus Savoyen in das Wallis führenden Pässe;

4. die Möglichkeit, eine zweite Aufstellung in dem Dranse-Thale (so lange man nämlich das Chamounyx-Thal noch festhalten kann), und weiters noch eine dritte Aufstellung im Wallis selbst nehmen zu können.

Die aus der geographischen Lage des Landes resultirende Wichtigkeit der schweizerischen Neutralität in den verschiedenen Kriegs

fällen zwischen den angrenzenden Mächten.

Es ist gewiss eine müssige Untersuchung, ob die Neutralität der Schweiz in kommenden Kriegen werde gewahrt werden oder nicht. Dass Ersteres bei dem jetzigen, in seinen Dimensionen so colossalen deutsch - französischen Kriege der Fall gewesen, beweist noch Nichts für die Zukunft und ist wohl zunächst aus der Schnelligkeit zu erklären, mit welcher die französische Macht der Initiative beraubt und niedergeworfen wurde. Im gegentheiligen Falle, der vielleicht Italien in die Action zu Gunsten Frankreichs geführt hitte, wäre die Neutralität der Schweiz kaum aufrecht zu erhalten gewesen.

Wollte man diesbezüglich einen Grundsatz aufstellen, so könnte man Sagen, dass die Behauptung der schweizerischen Neutralität immer dann möglich sei, wenn die Kriege zwischen ihren Grenznachbarn localisirt bleiben, d. h. einen Kampf zweier Mächte vorstellen, in welchem Dritte nicht interveniren.

Die folgende Betrachtung wird aus dem geographischen Elemente nachweisen, welchen, und zwar welchen verschiedenen Werth die Aufrechterhaltung oder Verletzung der schweizerischen Neutralität für die vier angrenzenden Grossmächte bezüglich der Offensive und der Defensive haben müsse.

Österreich gegen Italien.

Ist Österreich im Kriege mit Italien, so bedarf es für seine Operationen der aus der Schweiz in die Lombardie und Piemont führenden Strassen nicht, da die erste, aut die Etsch basirte Aufstellung der italienischen Armee schon durch die aus dem Pusterthale und aus dem südöstlichen Tirol nach Italien gehenden Communicationen in Flanke und Rücken genommen, und die Lombardie (im weiteren Verlaufe des Krieges auch Piemont) über das StilfserJoch und über den Tonal invadirt werden kann. Hätte aber die österreichische Armee einmal den Po überschritten, so nehmen die Operationen eine zur Schweiz absolut excentrische Richtung, und was dann zur Deckung der rechten Flauke, bezüglich des Rückens der österreichischen Armee vorzukehren ist, basirt sich weit zweckmässiger, weit kürzer auf Tirol und InnerÖsterreich.

Wenn auch eine gleichzeitig auf die Schweiz basirte österreichische Invasion der Lombardie und Piemonts immerhin Einiges zur rascheren Paralysirung der Leistungslähigkeit dieser Provinzen beitragen würde, welche den Kern des Heeres und, theils direct, theils indirect den grössten Theil der Ergänzungen und Nachschübe aller Art liefern, so stunde ein solcher Vortheil in gar keinem Verhältnisse zu den grossen Nachtheilen, welche der österreichischen Defensive aus dem Wegfalle der schweizerischen Neutralität erwüchsen, indem dadurch das westliche Tirol bis an den Bodensee dem Angriffe zugänglich gemacht würde. Diese Verlängerung der strategischen Front, u. z. in feindlicherseits umfassender Weise, erforderte zur Sicherung nicht unbedeutende Steitkräfte, und, wenn man auch nicht sagen kann, dass hiedurch die Offensive entschieden gelähmt würde, so muss doch zugegeben werden, dass das defensive Verhältniss zu einem höchst unerquicklichen, ja bedenklichen sich gestalten könnte.

Hieraus ist zu entnehmen, dass Österreich im Kriege mit Italien kein hervorragendes Interesse habe, schweizerisches Gebiet mit zur Basis der Offensiv-Operationen zu machen, dass es dagegen in defensiven Verhältnisse das höchste Interesse an Bewahrung der schweizerischen Neutralität habe. Die Anwendung dieses Satzes vom italienischen Standpunkte aus Österreich gegenüber ergibt sich von selbst.

Deutschland gegen Italien.

In einem zwischen Deutschland und Italien ausgebrochenen Conflicte hat Letzteres, als die weitaus schwächere Macht, gewiss das höchste Interesse an Aufrechterhaltung der schweizerischen Neutralität, weil bei dem Mangel an Grenzberührungs-Punkten zwischen diesen beiden Mächten der kriegerische Contact nur durch Betreten Schweizerbodens vermittelt werden kann. Der erste Zusammenstoss erfolgt dann im frontalen strategischen Verhältnisse.

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