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Wegen der enormen Sterblichkeit in den Entwicklungsjahren erreichen verhältnissmässig weniger Jünglinge das Alter der Wehrpflicht, als im westlichen Europa, wo man mindestens / Procent der Bevölkerung für die Zwanzigjährigen rechnet. Sodann wirken Trunksucht, vieles Fasten, frühes Heiraten und Mangel jeglicher Gesundheitspflege nachtheilig auf Volkskraft und Diensttauglichkeit ein. Am meisten Dienstunfähige findet man unter den Israeliten und einigen finnischen Stämmen. Von der gesammten pflichtigen Bevölkerung mögen jährlich 350-400.000 das Recrutirungsalter erreichen, hievon nicht 50 Procent tauglich sein. Das Contingent wurde seither gewöhnlich auf 4 Mann pro Mille der Revisions-Seelen = 100.000 Mann normirt, wozu häufig locale Zuschläge von 1-3 Mann für Rückstände treten. 1854-55 wurden für Heer und Miliz nahe 50 pro Mille gefordert, aber nicht aufgebracht. Aus dem Recruten-Contingente wird übrigens auch der Ersatz der Flotte gedeckt, welche bei einem Stande von 50.000 Köpfen und einer 14jährigen Dienstzeit einige tausend Conscribirte verlangt. Im Durchschnitt mag ein Siebentel der Aushebung aus Leuten von 25--30 Jahren bestehen.

Die Recrutirung wird nunmehr im ganzen Reiche gleichzeitig vorgenommen (Januar-Februar); bis kürzlich geschah sie besonders in Polen, früher auch abwechselnd in der Ost- und West-Hälfte des Reiches.

Die Pflicht der Recrutenstellung ruht, entsprechend dem eigenthümlichen russischen Organisations-Principe, auf der Gemeinde, welche bei der ehemals leibeigenen Bevölkerung an den Platz des stellungspflichtigen Grundherrn getreten ist. Der Modus fraglicher Operation ist hier Reihenfolge der Familien. Losziehung galt bis jetzt auf den Kronländereien, in den meisten Städten, den Ostsee-Provinzen, nominell auch in Polen. Gewisser Familienverhältnisse halber tritt Befreiung ein. Seitdem die zwangs- und strafweise Einreihung von Seiten des Staates und der Gemeinden gesetzlich aufgehoben, ist auch die Möglichkeit wenigstens legal - hinweggefallen, die Armee als Abzugscanal oder Correctionsanstalt übel beleumundeter und untüchtiger Elemente zu benützen. Immerhin mag von Beamten und Gemeinden, in Polen und im Innern, noch genug Eigenmacht verübt werden.

Nach Massgabe der erfolgten freiwilligen Zugänge wird den Gemeinden und über deren Bedarf hinaus den Einzelnen eine Anzahl Loskaufs-Quittungen offerirt. In Polen bis 1871 gewöhnlich 40 Procent des geforderten Contingents. Der Preis wird jedesmal festgesetzt, betrug 1869 570, das letzte Mal 500 Rubel. Ferner ist es dem Einzelnen gestattet, sich durch einen privatim Angeworbenen vertreten zu lassen 1). Dieser Handel, oft von der Gemeinde selbst im Grossen betrieben, verursacht viel Unfug, und die Geworbenen, gediente Soldaten und Andere, entsprechen selten dem Interesse der Armee, liefern ein HauptContingent der Desertionen und in die Sträflings-Abtheilungen. Der Loskauf

1) Die Anwerbungs-Prämie, sonst im Innern 150-200 Rubel, steigerte sich 1871 häufig auf das Doppelte und mehr.

geschieht am häufigsten im Ostsee-Lande (Liefland hat bei 2 Recrutirungen zusammen 720.000 Rubel bezahlt), bei Israeliten, Altgläubigen und Polen. Der polnische Bauer pflegt von der Verheiratung ab ein Sümmchen für solche Familienbedürfnisse zu sparen. Hier im Zaarthum trat vor jeder Recrutirung bekanntlich eine Massenflucht ein, welcher freilich die famose, jetzt aufgehobene preussisch-russische Cartell-Convention viel Eintrag that. In Litthauen soll das jüngste Mal eine förmliche Menschenjagd gehalten worden. sein. Auch für das herrschende Volk selbst war das Soldatenlos abschreckend genug. Jetzt, bei humaner Behandlung des Recruten und abgekürzter Präsenz, beginnt der Schrecken zu schwinden. Man hört weniger mehr von Selbstverstümmelung und Flucht in die Schlupfwinkel der Altgläubigen, dagegen originell genug von absichtlicher Verwirkung gerichtlicher Strafen, um dem Soldatwerden zu entgehen.

Behufs der Aushebung wird jedes Gubernium in Districte getheilt, deren Commissionen die Adelsmarschälle präsidiren. Die Gemeinde hat als Reserve 50 Procent über die Recruten-Quote abzustellen, sämmtliche für den Weg zu kleiden und mit Zehrgeld zu versorgen, ausserdem die hilfsbedürftigen Angehörigen zu unterstützen '). In Polen besorgt die Krone den Reiseanzug. Hier verausgabt sie 39 Rubel pr. Kopf, anderwärts durchschnittlich 22, in Summa, mit Provinz-Zuschüssen, gut 2 Millionen. Für die Gemeinden stellt sich die Ausgabe auf 30 Rubel, im Westen 40 und weit darüber, -in Summa eine Steuer von 5 Millionen. Dieses Mal sollten dem Volke angeblich

600.000 Rubel erspart werden.

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Die Aushebung 1871 wurde auf 6: 1000, in Polen wegen Rückständen auf 8: 1000 normirt, sollte also inclusive Loskaufs-Kategorie über 150.000, (in Polen 22.000 Mann) ergeben. Für Polen wurden 4250 Quittungen offerirt à 500 Rubel. Hier sollte man dieses Mal angeblich erst mit dem 22. Lebensjahre beginnen, 1 Jahr später, aus Rücksicht auf die langsamere Körperentwicklung, und bei den 5 letzten Altersclassen nur Ledige nehmen. Die Schullehrer sind hier wie im Reiche befreit. 1868 wurden in ganz Russland effectiv ausgehoben 95,000 Mann, davon 11.000 in Polen, nachdem circa 210.000 gestellt worden und 18.000 sich losgekauft hatten. 9 Procent der Ausgehobenen zeigten Schulbildung, vorzugsweise Balten; unter den Russen etwa 5 Procent. In die Land-Armee wurden 87.000 eingereiht. Unter 84.000 Recruten des Kaiserreichs befanden sich 6000 Bürger und

74.000 Russen 2).

Die Flotte muss selbst zur Ergänzung ihres rein seemännischen Standes

1) Man kann rechnen, dass unter den präsentirten Recruten 20-25 Procent als untauglich zurückgewiesen werden müssen.

2) Nämlich 56.600 Gross-, 737 Weiss- und 17.200 Klein-Russen. Ferner 2800 Litthauer und Samogitier, 590 Polen, 500 Juden, 3000 Letten und Esten, 1700 Tataren. Eine jüngst erflossene Notiz (auf 1870 bezüglich?) weist unter 93.500 des Kaiserreichs nach 57.700 Gross-, 26.300 Klein-Russen, 360 Polen, 1200 Juden und 1600 Litthauer etc. Die starke Aushebung pro 1871 stiess auf grosse Schwierigkeiten und ist wohl bedeutend hinter dem Voranschlage zurückgeblieben,

aus der Binnen-Bevölkerung recrutiren, zu welcher freilich, der Lebensweise nach, auch der grössere Theil der Küstenbewohner zu rechnen ist. Der Grossrusse excellirt als Fussgänger, da er an häufige Wanderung gewöhnt ist, als Fuhr- und Zimmermann, taugt (ausser Kosaken-Race) nicht zum Reiter, selten zum Jäger. Von Natur ganz unkriegerisch geartet, so dass man unter der Jugend kaum je die ander wärts beliebten Soldatenspiele beobachtet, gibt er doch ein sehr tüchtiges Material. Er ist energisch, kräftig und ausdauernd, kaltblütig und todesverachtend, gelehrig und anhänglich, bedarf aber einer eisernen Zucht. Der Kleinrusse recrutirt hauptsächlich die Cavallerie, obwohl er fast nur mit Ochsen fährt. Er ist langsamer, weicher und empfindlicher, bedarf weniger der Strenge und liefert einen zuverlässigen, ordentlichen Mann. Der Pole wird von den Elite-Truppen ferngehalten, seines kriegerischen Naturels und Geschickes halber sehr geschätzt, in's Innere und nach Asien geschickt.

Die Recruten treten auf 6- 9 Monate zur ersten Abrichtung in die Depôts. Ihre Sterblichkeit, noch vor wenigen Jahren auf 30 Procent geschätzt, hat bedeutend abgenommen, Dank geänderter Behandlung.

Bei Reengagirung ausgedienter Mannschaften gewährt man ihnen Abzeichen, Soldverdoppelung bis zu gewisser Grenze, für je 3 Dienstjahre, und Anrecht auf Pension.

Der freiwillige Zugang setzt Vollendung des 16. Lebensjahres voraus. Freiwillige der pflichtigen Classen, vor dem 21. Jahre eintretend, dienen nur 4-5 Jahre. Auf Avancement Eintretende scheiden sich (seit 1869) in 2 Kategorien, verpflegen sich selbst.

Stellvertretung verpflichtet zu 5-10jähriger Dienstzeit in der Armee, und 5jähriger in den Reserve-Truppen.

Verabschiedet oder in Vollurlaub entlassen, tritt jetzt der Mann wieder in die Rechte seines Gemeinde-Verbandes, findet freilich oft keinen Grundbesitz oder andern Erwerb, taugt auch meistens nicht mehr zum Bauern, und zieht gerne dem Stadtleben nach. Unter dem früheren Regime war der Soldat zwar der Hörigkeit los geworden, damit aber auch jedes spätern Anspruchs an die Heimalgemeinde, und de jure zum Proletarismus verurtheilt. Neuerdings geschahen Versuche mit Ansiedelung auf Kronland; im Osten z. B. wurden im Kreis Orenburg 56.000 Dessj. für 4000 Männer angewiesen. Invaliden erhalten 3 Rubel Monatspension.

Die Präsenzzeit variirt nach den speciellen Anforderungen der Elats. Durchschnittlich etwa 7 Jahre, ist sie am längsten in den Depôts, den Linien-Bataillons, der Cavallerie, Garde-Artillerie, den Sappeurs und gewissen Local-Commando's. Nach 8 Jahren wird jetzt gewöhnlich ein zeitweiliger, nach 10 Jahren (in Europa und Kaukasien 1871 ohne Ausnahme) ein terminloser Urlaub ertheilt.

Ersterer kommt in der Wirkung dem letzteren ziemlich gleich, rangirt wie dieser in den Reservestand. 1868 gehörten von 468.000 Vollurlaubern

239.000 in die jüngere Kategorie. Wer auf das Recht zu terminlosem Urlaub verzichtet, erhält ein Abzeichen und 50 Procent Soldzulage. Die Präsenz ist noch weiters abgekürzt durch den Arbeits- Urlaub von 4-6 Wochen, der jährlich in den Garnisonen freigebig gewährt wird.

Der Militär-Codex athmet den Geist einer neuen, mildern Epoche. Die Körperstrafe darf nur für in die Strafclassen versetzte Individuen angewendet werden. Ausgedehnt sind die Straf-Competenzen gegenüber der Mannschaft, auch den Unterofficieren beschränkt zustehend, wie in Frankreich. Strenges Gesetz und strenges, promptes Verfahren erfordert der niedere Culturgrad des russischen Soldaten. Speciell der Grossrusse verträgt keine andere Behandlung, will aber dadei patriarchalische Formen und hasst darum die kalle, schweigsame und steife Systematik des deutschen Officiers.

1867 begann, entsprechend dem Fortschritte der bürgerlichen Rechtszustände, die Einführung einer Gerichts-Verfassung neuen Styles. Sie gewährt mündliches und öffentliches Verfahren mit der Staatsanwaltschaft, schliesst jedoch die Jury aus, an welcher man in der russischen Civilgesellschaft freilich schlimme Erfahrungen der Unreife macht. Drei Instanzen: Regiments-, Districts (eventuell temporäres Kriegs)- Gericht, endlich Ober-Militär-Gericht als Cassationshof. In Polen und Kaukasien erfolgt die Einführung der neuen Organisation im laufenden Jahre, und damit verschwindet das letzte Asyl des alten, umständlichen und mangelhaften Justizverfahrens.

Die Heeres-Disciplin hat während eines Decenniums an der äussern Strammheit verloren. Ob an innerem Gehalte, ist mindestens fraglich. Die principielle Beseitigung der Prügelstrafe hat wohl ungegründete Befürchtungen erregt. Hingegen dürften die Consequenzen der socialen Umwälzung eher zu verspüren sein. Der Bauer tritt mit potenzirtem Selbst-, aber sehr geschwächtem Pflichtgefühl in die Reihen. Die Gemeinde ist nur zu häufig aus einer Vorschule des Gehorsams und der Zucht zum Schauplatze des Gegentheils geworden, die patriarchalische Geschlossenheit und Autorität der Familie im Schwinden. Ferner scheint man in Nachahmung französischen Armee-,,Chic's" bedenklich weit gegangen zu sein. Sollten die Erinnerungen des polnischen Aufstandes ganz verwischt sein, welcher Desertion und Verdächtigung in die Armee trug und zu einer geradehin autorisirten Überwachung nicht nur polnischer, sondern auch der jüngern russischen, ob Herzen'scher Ideen beargwohnter Officiere durch ihre Untergebenen führte? Sollte endlich die im Heere, wie im Volke unheimlich wachsende Trunksucht allein ausser Dienst schädlich sein? Sollte dieser immer gewohnter werdende alkoholische Zustand" nicht überhaupt negativ wirken auf Moral und Disciplin seiner Opfer?

Die Verpflegung ist doch eine viel bessere geworden, sowohl durch erhöhte Gebühren, als durch Unterdrückung vieler der schamlos betriebenen Unterschleife. Die Löhnung zwar ist herzlich gering, höchstens 4-5 Rubel beim Soldaten. Die Verköstigung, gleich für Soldaten und Unterofficiere, variirt nach Abtheilung und Art der Bequartierung. Am besten in der Garde,

überhaupt gut bei den casernirten Truppen, ist sie oft schlecht bei den cantonnirten, welche die Mehrheit bilden. Für die erste Kategorie ist Kostund Wohnungsverhältniss entschieden günstiger, als im heimatlichen Dorfe. Casernen existiren vorläufig nur in grossen Garnisonen, sind häufig aus Complexen von kleinen, luftigen Gebäuden gebildet. Hier wird die Verpflegung bestritten aus Natural-Lieferungen und Speisegeldern (bis zu 6 Kopeken pr. Tag), im Wege einer der Truppe überlassenen Selbst-Verwaltung (Artjél). Der Speisegelder-Fonds vergrössert sich durch Erlös aus Naturalienverkauf und Abzüge aus den zahlreichen Privat-Verdiensten der Mannschaft, so dass an den 200 Nicht-Fasttagen der orthodoxen Confession eine Fleischration von - Pfund verabreicht werden kann. In den Cantonnirungen auf dem Lande übernimmt meistens der Quartiergeber gegen Überlassung der ÄrarLieferungen die Verpflegung. In ärmeren Bezirken, wo es auch an Zufuhren und an Privat-Erwerb mangell, wird der Soldat zu Entbehrungen verurtheilt. Doch zieht er angeblich die schmutzigste Bauernhütte der Casernbehausung vor. Das Cantonnements-Verhältniss ist nachtheilig für die militärische Disciplin und Instruction, ebenso für die Moral der bürgerlichen Bevölkerung, oft auch materiell beschwerlich für die Interessen der letzteren. Daher das Streben, die Casernirung allmälig vollständig durchzuführen, was aber bei der Grösse der Aufgabe und der erforderlichen Mittel noch im weiten Felde steht.

Die Kleidung der Truppen besteht in 2 Garnituren, ist nach Tragzeiten normirt und wird aus den durch die Intendantur gelieferten Rohstoffen bei den Abtheilungen selbst hergestellt. Ebenso Geschirrzeug bei Cavallerie und Artillerie, welche zugleich den Bedarf ihrer Reservisten und Recruten besorgen. Für die Ausrüstung der übrigen Reserven und Recruten arbeiten seit ein paar Jahren 6 grosse Central-Werkstätten, welche angeblich pr. Jahr den Vorrath auf 150.000 Mann fertigen.

Die Regiments Ökonomie mag unter gewissen Umständen zweckmässig, beziehungsweise ein nothwendiges Übel sein. Sie bringt jedoch eine zu grosse Steigerung des thatsächlichen Nicht- Combattanten - Standes mit sich, welcher nicht vom übrigen Stande ausgeschieden ist, und beeinträchtigt auf's Empfindlichste die kriegerische Ausbildung der Truppe. Sie bedingt ausserdem eine grosse Selbständigkeit der Abtheilungen in administrativer Hinsicht. So war denn auch früher die gesammte Verwaltung und Verrechnung in rein persönlich - discretionärer Weise dem Regiments-Chef etc. überlassen und bildete für ihn eine reiche Quelle tolerirter Nebeneinkünfte, auf welche er bei seinem geringen Gehalte stillschweigend angewiesen war. Hieraus entsprang eine Unzahl von Betrügereien, welche das materielle Wohl der Mannschaft benachtheiligten, und ein schiefes Verhältniss des Chefs zu seinen Untergebenen, was indessen bei den laxen Anschauungen des russischen Volkes in der Regel nicht so bedenklich war, als es nach abendländischen Ideen sein musste. Jetzt ist die persönliche Verwaltung aufgehoben, und an ihren Platz die collegialische durch eine Com

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