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Traditionen nicht verläugnen, kühner und besser manövriren wird. Österreichischer Cavallerie und Jäger - Truppe hat Russland nichts Ebenbürtiges entgegen zu setzen. Die österreichische Genie-Truppe hat einen guten Ruf und eine kriegsgemässere Ausbildung, besseres Material. Die österreichische Infanterie laborirt an einer viel zu kurzen Präsenz, die russische an dem Ubel ihres Completirungs-Systems. Erstere besitzt vorläufig eine bessere Bewaffnung und Waffenvertrautheit.

II. Reformfrage.

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Wie die bürgerliche Gesellschaft Russlands, so war auch die Armee nach den Prüfungen des Orientkrieges in eine neue Aera getreten. Die Organisation von 1862 bildet den 19. Februar" des soldatischen Russland. Aber gleich dem bürgerlichen Umformungswerke ist auch das militärische ein Bruchstück geblieben, welches dringend seiner Ergänzung bedarf. Die Armee hat ohne Zweifel im letzten Decennium bedeutende Fortschritte gemacht nach verschiedener Richtung, materiell und moralisch. Die effective Kriegsstärke wurde vergrössert, die Schlagfertigkeit erhöht, die Recrutirung vervollkommnet und auf manche eximirte Kategorien ausgedehnt, die Dienstzeit herabgesetzt, Verwaltung und Justiz neu gestaltet, Verpflegung verbessert, das System der Bildungs-Institute reformirt, ebenso taktische Schulung und Reglementirung, endlich Bewaffnung neu geschaffen. Jedoch bedenkliche Übelstände sind geblieben, ja theilweise neu zugewachsen. So blieben eine ungenügende Cavallerie- und Local-Truppen-Organisation, eine exceptionelle Stellung der Garden, eine ungleiche und complicirte Vertheilung der Recrutirung, endlich trotz aller Reformen ein geringer intellectueller und moralischer Bildungsgrad, welcher freilich bei den trefflichsten Massnahmen dem Niveau der Gesellschaft nicht zu weit vorauseilen, sich also nur allmålig in einem gewissen Verhältnisse zum allgemeinen Culturprocesse erheben kann. Ausserdem ist jede höhere taktische Heeresgliederung weggefallen, dafür unverkennbar das bureaukratisch-administrative Element zu einem gefährlichen Übergewichte gegenüber der wahrhaft soldatischen Leitung gelangt, Mangel an Chargen eingerissen, das ganze Reserven-System als unhaltbar erkannt.

Die Mängel und Bedürfnisse des Heerwesens sind seit den Lehren des Jahres 1866 in der russischen Presse ein häufiger Gegenstand der Discussion geworden. Schon sieben Jahre früher hatte Schedo-Ferrotti den Finger auf manche Wunde gelegt, welche bis heutigen Tages schmerzt. Er schlägt vor, die Unbestimmtheit des Officiersstandes zu beseitigen, den Effectiv jedes Grades streng zu regeln und in möglichst genauen Einklang mit den Anforderungen des militärischen Dienstes zu setzen; sodann die Garde zu reorganisiren, indem man ihre höhern und niedern Grade nach innerer Qualification recrutirt, letztere auch höher besoldet; indem man ferner das Corps auf 14 historisch renommirte Regimenter reducirt (von 22) und in dem Reiche

dislocirt, endlich die Rang vorzüge der Officiere aufhebt, womit gleichzeitig in der Armee zwei überflüssige Stufen (Major, Capitän II, d. i. Stabshauptmann) wegfallen sollen. In sämmtlichen Officiers-Corps Wahl der subalternen Grade als heilsam für die Haltung der Jüngeren, für die Cameradschaft im Regimente und den Ton der Vorgesetzten, als nützlich für die Qualität der Avancirungen. Ausserdem drastische Schilderung der damaligen „Innern Wache", Gubernial-Bataillons und Commando's, Vorschlag, erstere aufzulösen, letztere besser zu formiren und zu behandeln ctc.

Die gegenwärtige Reform - Bewegung hat ihren geistigen Träger in General Rostislaw Fadejeff. Der kühne und redegewandte Paladin eines geharnischten Slaventhums geht von den Prämissen seiner bekannten Agglomerations-Politik aus und sucht die Unzulänglichkeit des russischen Kriegs-Instrumentes nachzuweisen. In Kritik und Postulaten schiesst er wohl genialer Weise öfters über Wahrheit und Möglichkeit hinaus; auch findet er jetzt unter dem Eindrucke neuerer Ereignisse und Erfahrungen Veranlassung, früher ausgesprochene Vorschläge zu modificiren. Sein Grundgedanke ist, Russlands Operationsheer so stark zu machen, dass es jeder Coalition, namentlich einer preussisch-österreichischen gewachsen wäre. Deshalb eine Million Feldtruppen, und zwar ohne neue Cadres zu schaffen, wozu ja Geld und Menschen fehlen. Man mobilisire die Localtruppen mit Ausnahme der Depôts, wobei an Stelle der Gubernial-Bataillons Gensdarmen zu treten hätten, facit 86 neue Infanterie-Bataillons. Sodann füge man nach Aufhebung der Schützen - Compagnien in jede der vier Compagnien des Bataillons 75 disponible Voll-Urlauber, beziehungsweise Milizen, und bilde per Regiment vier Bataillons, à drei Compagnien - 250.000 Mann und 232 Bataillons Zuwachs. Für den Compagnie-Chef, der in Russland unter den Subaltern-Officieren allein etwas bedeutet, gilt es gleich, ob er 200 oder 300 Mann commandirt. In analoger Weise wird die Artillerie um ein Viertel vermehrt, wobei jedoch auch der Officiersstand entsprechend zu verstärken. Ferner ist die Organisation von 500.000 Milizen im Frieden derart vorzubereiten, dass solche rasch an die Stelle regulärer Kräfte treten können. Hiefür aus anderweitig zu erübrigenden Summen 2, Millionen Rubel jährlich, um kurze Übungen abzuhalten. Ausserdem Extra-Credite, um die nöthigen Rüstungsvorräthe zu beschaffen. Die Miliz-Officiere sind aus gedienten Militärs zu ernennen oder von der Landschaft zu erwählen. Die Miliz-Organisation ist in eine fruchtbare Solidarität mit denen der ArmeeInfanterie zu versetzen, indem für beide gemeinsame Formations-Bezirke und correspondirende Regiments-Verbände gebildet werden.

Auf's Schärfste verurtheilt Fadejeff das jetzige Reserve-System als unvereinbar mit den allgemeinen militärischen Ideen und mit dem speciellen Charakter des russischen Soldaten. Durch Errichtung der erwähnten Formations-Bezirke glaubt er dem Übel so weit begegnen zu können, als es vorläufig unter den gegebenen Umständen möglich ist. Stricte, vollkommene Durchführung eines Territorial-Systems nach deutschem Muster

wird durch die geringe Entwickelung des Reiches auf lange hin ausgeschlossen. Es würde alsdann wenigstens der grössere Theil der Urlauber wieder in das Regiment zurückkehren. Fadejeff statuirt für politisch unsichere Grenz-Provinzen eine Ausnahmsstellung, weist ihre Contingente zur Abgleichung der in den Etats sich ergebenden Unebenheiten an. Bei einer Bevölkerung von circa 60 Millionen erhält man für je 240 Regimenter Armee und Miliz Recrutirungs-Bezirke zu 250.000 Seelen. In diese Bezirke verlegt man compagnie weise die Depôt-Truppen, und als Commandanten diensterfahrene Stabs-Officiere, welche die Befugnisse der jetzigen MilitärChefs übernehmen. Die sich in der Armee alsdann entwickelnden landschaftlichen Gruppirungen wirken gewiss sehr günstig auf den Geist der Truppe, ohne dass hiemit die imposante Einheitlichkeit gefährdet würde.

Zur Cavallerie übergehend, spottet Fadejeff darüber, dass man nach fremdem Muster sclavisch copirte, wie das Magdeburger Recht, so auch eine „Magdeburger Reiterei" auf russischen Boden verpflanzte und aus plumpen Bauern mühsam dressirte, während doch die herrlichsten Natur-Elemente zur Hand waren. Man bilde künftig seine reguläre Cavallerie, Kürassiere ausgenommen, aus dem Don'schen Kosaken-Heere. Dies, indem man sie in locale Abtheilungen formirt, gleich den kaukasischen Linien-Kosaken, die Hälfte der Officiere, wie dort versucht, aus der Armee ernennt, was um so leichter, als ja die Hälfte der Kosaken-Officiere aus Beamten besteht, daher überflüssig oder unbrauchbar ist, die Remonte durch Vorschriften und Subvention auf bessert, die Mannschaft auf Staatskosten equipirt, sodann die Sotnien allmählig an Stelle der regulären Escadrons setzt. In 10 Jahren können die letztern vollständig abgelöst sein, und zwar in der Art, dass anstatt eines Regimentes zu vier Escadronen ein solches zu sechs Sotnien existiri. Lässt man die bisher übliche alternirende Präsenz derselben bestehen, so besitzt man im Frieden nicht wie bisher 224 (ohne GardeKosaken), sondern nur 120 Escadronen, was eine bedeutende Ersparniss gibt, im Kriege dagegen 328. Auch könnte man überdies die Depôt-Escadrons aufheben, eine weitere Ersparniss von 52 Escadronen. Analog organisire man die reitende Artillerie aus Kosaken. Die Zahl der Irregulären vermehre man durch Formation der Kirgisen, in welche man Officiere der benachbarten Kosaken einreiht, und durch Werbung der kaukasischen Bergvölker, deren Unternehmungsgeist einer Beschäftigung entbehrt und solche im Kriegsfalle leicht zum Schaden der Russen suchen könnte.

Interessant ist Fadejeff's auf Erfahrung gestützte Behauptung, dass in der russischen Armee ausser dem Compagnie-Chef der Subaltern-Officier gar keinen Einfluss auf den Soldaten besitzt und ihn nie besessen hat. Angesichts des bedeutenden Officiers-Mangels will er daher für die Compagnie nur den Chef und einen Lieutenant beibehalten, an die Stelle der übrigen Officiere eine besondere Charge von Unter-Officieren setzen. Um letztere in der Armee festzuhalten, bedarf es überhaupt besserer Aussichten und beträchtlicher Zulagen, wozu eine Vermehrung der Loskaufs-Quittungen die Mittel liefert.

Unter Voraussetzung tüchtiger und fester Cadres sieht Fadejeff das Minimum der Infanterie-Präsenz in fünf Jahren. Eine Verminderung hält er allenfalls für möglich, wenn die Kasernirung allgemein durchgeführt ist. Energisch tritt er dem Regiments-Ökonomiewesen entgegen, dessen Nachtheile für die militärische Instruction er als Inspicirender nur zu sehr erprobt hat. Die Handwerker sind wenn möglich zu beseitigen oder wenigstens von der Truppe ganz auszuschliessen. Die Schützen-Compagnien, wie bemerkt, verwirft er. Hingegen verlangt er, dass bei den noch nicht versehenen Divisionen (19) Schützen-Bataillons errichtet werden. Das Verhältniss 1 : 6 der Schützen im Bataillon ist zu viel oder zu wenig. Entweder zwei solche Compagnien oder gar keine. Ob es gerathen, weitere Schützen-Bataillons zu bilden, welche den spärlichen Vorrath an gewandten Tirailleurs noch mehr erschöpfen, scheint uns fraglich zu sein.

Wie Schedo-Ferrotti dringt Fadejeff auf scharfe Abgrenzung des Officierstandes und strenge Normirung der Chargirten jeden Grades.

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Nachdrücklich verficht er das Interesse der vernachlässigten TruppenOfficiere und weist auf die Nachtheile dieser Vernachlässigung hin. In Frankreich genoss immerhin der Beruf der Truppen-Officiere Ansehen und war nicht in die niederste Kategorie der Militär-Branche verwandelt, welche hintangesetzt ist in Gehalt und Avancement gegenüber Allem, was Nichtmilitärisches sich in der Branche befindet. Der Truppen-Officier war dort nicht beständig von dem Gedanken bearbeitet, wie er irgend wohin entweichen könne aus seiner nicht beneidenswerthen Lage... Das französische KriegsMinisterium, begabt oder nicht, bestand doch immerhin aus erfahrenen Officieren und konnte nicht hartnäckig ganze Jahre hindurch eine augenscheinliche Sache verwerfen, nämlich die Unmöglichkeit, gegenwärtig Reserven zu entbehren."

Ausserdem sicht Fadejeff in der Wiedereinführung von Elite - Kategorien (nach Muster der früheren Grenadiere und Carabiniers) ein wesentliches Erforderniss der Armee-Reform. Doch sollten dieselben in der Armee vertheilt sein, nicht eigens formirt werden, und das alte Verhältniss von 14 zur Norm dienen.

Mit besonderer, durch persönlichen Antagonismus beeinflusster Bitterkeit wendet sich der aus der Armee verdrängte Reformer gegen das Übergewicht der Kanzlei-, der Intendantur- und Nicht-Front-Officiere. Er sieht, von einem Wechsel des ihm feindseligen Ministers natürlich abstrahirt, das Heil nicht gerade in einer einfachen Wiederherstellung der Armee-Corps-Organisation, vielmehr in der Schöpfung grösserer Verbände, etwa einer westlichen, südlichen und baltischen Armee (welche letztere auch die Truppen des Innern begreift). Die Armee-Chefs allein hätten das nöthige Ansehen, um mit ihrer Stimme an entscheidender Stelle die wahrhaft militärischen Interessen zu vertreten. Ihnen bliebe es überlassen, die Einrichtung von Corpsstäben in ihren Truppen zu empfehlen.

Ausser einem System der Umformung, welches auf die Zukunft be

rechnet ist, fasst Fadejeff in einem seiner jüngsten Artikel die Eventualität eines nahen Krieges in's Auge 1). Dabei sieht er ab von den 4. Bataillons wegen Mangel an disponiblen Urlaubern und einigermassen vorbereiteten Milizen. Er mobilisirt die Festungs- und Gubernial-Bataillons (65), giesst in dieselben die supponirten 70.000 disponiblen Urlauber, 14.000 beurlaubte Unter-Officiere, die 90.000 Recruten der Depôts, wenn solche nicht schon in die Armee abgestellt sind. Als Officiere treten hiezu die jüngste Kategorie der Beabschiedeten, sowie neubeförderte Junker. Aus einer Compagnie der Localtruppen erwächst ein neues Bataillon, in Summa 260, welche in die westlichen Provinzen zu verlegen sind, während die inneren Wachen an eine Bürgergarde übergehen. Sofort kömmt in die Depôts ein frisches Jahres-Contingent.

Gleichzeitig wird die Miliz einberufen. In dieselbe treten auch die ehemaligen Soldaten, welche nicht die 25jährige Dienstzeit gehabt. Aus den Unter-Officieren der Reserve 14.000. Als Führer beabschiedete Officiere und niedere Grade, dann Erwählte. Die Miliz braucht sechs Monate zur Organisirung. Sie löst alsdann die Bürgerwachen und die neu formirten Bataillons in den West-Provinzen ab, ergänzt auch die kaukasischen Linien-Bataillons, welche auf 60 zu vermehren sind und sodann nach Europa gezogen werden. Aus Kaukasiern und Nomaden werden Reiter-Regimenter errichtet.

Für die 320 neuen Bataillons braucht man Artillerie. Die nöthige Mannschaft geben Reservisten und Beabschiedete für die ersten Nummern, dann Infanteristen. Die Geschütze muss man im In- und Auslande schaffen. So kann man in 6-10 Monaten 80 Batterien gewinnen. Zum Train der neuen Bataillons nehme man einfache Bauernfuhren.

Gleich zu Anfang errichte man in West-Russland Bauernwachen, 150-200 Leute pr. Kreis, unter 2000 Reserve-Unterofficieren, welche zur Verfügung der Local-Regierung gestellt werden.

Fadejeff unterscheidet sechs Stadien der Rüstung.

I. (Vor Beginn der Operationen). a) Versetzung der Armee auf Kriegsfuss, b) Formirung der neuen 260 Bataillons (kann gleichzeitig beendet sein mit a, wenn die Recruten in den Depôts präsent; wird um die Dauer einer Jahres-Aushebung später fertig, wenn die Depôts leer sind), c) Unverzügliches Aufgebot der Miliz, d) Schaffung 80 neuer Batterien (Anfangs wird die ganze Aufmerksamkeit absorbirt durch die Feld-Artillerie, und deshalb nehmen wir an, dass die ersteren 10 Batterien in drei Monaten, noch 30 in sechs Monaten, 21 in acht Monaten und die letzten 19 in zehn Monaten bereit seien).

Wenn es möglich, den offenen Ausbruch zwei Monate über den Rüstungs-Beginn zu verzögern, so werden bis dahin die active Armee concentrirt (?) sein und die neuen Bataillons, wenn auch ohne Artillerie in den Grenz-Provinzen stehen (?).

1) Wobei Fadejeff, als Adjutant des Generalissimus Barýatinski, eine wichtige Rolle spielen würde.

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