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Die Schlachtenreiterei Russlands ist ein gar künstliches Product. Der Grossrusse reitet nie, sondern fährt. Er hat für „Pferd" nicht einmal ein slavisches Wort. Auch die nationalen Officiere sieht man ausser Dienst mehr zu Wagen als zu Pferde. Der Kleinrusse besitzt nur mehr die Tradition, nicht die Gewohnheit des Kosakenlebens. Die alten Reitervölker, Polen und Litthauer, haben einen seit Jahrhunderten verkommenen Pferdestand. Die russische Cavallerie geniesst in der Kriegsgeschichte keines sonderlichen Rufes ). Die Militär- Colonien Arakčejeff's sollten dieser Schwäche abhelfen. Ihr Fiasco ist bekannt.

Die Feld-Artillerie zählte bis 1870 in 163 Batterien 1304 Geschütze, 1154 Officiere, 40.000 Combattanten, 27.000 Pferde Kriegs-, 724 Geschütze, 22.000 Combattanten, 10.000 Pferde Friedensfuss, dazu 65 Parks, darunter 8 Brigaden, mit 175 Officieren 17.000 Combattanten, 17.000 Pferden, 900 Fahrzeugen Kriegs-, 4000 Combattanten Friedensfuss. In der Artillerie sind die viererlei Etats vertreten. Sie scheidet sich in Fussund reitende Artillerie. Erstere mit der Infanterie, letztere mit der Cavallerie im Divisions-Verbande, ausgenommen reitende Garde-Artillerie von vier Batterien, welche auch nicht als Brigade, sondern als Commando figurirt und zwei Brigaden gleich zu setzen ist. Die Fuss - Artillerie zählt mit der neu errichteten turkestanischen 48 Brigaden, 44 à drei Batterien, vier kaukasische, à vier Batterien. Als 4., resp. 5. Batterien treten jetzt die Mitrailleusen - Abtheilungen auf. Reitende Brigaden zählt man neun, à zwei Batterien, alle in Europa.

Die Zerstückelung in Brigaden ist für die gleichheitliche Ausbildung der Waffe nicht vortheilhaft. Weniger bedenklich scheint die Zutheilung zu den Divisionen, welche eine mehr nominelle ist, indem Brigaden und Batterien eine grosse Selbständigkeit geniessen. Die Batterie hat acht Geschütze, 4Pfünder in den reitenden und den zweiten und dritten Batterien der FussArtillerie. Erstere, sowie die ersten (9Pfänder-) Fuss - Batterien, mit sechs Pferden. Die Hälfte der 4Plünder Bronze, sämmtliche 4Plünder mit Eisenlaffelen. Auch in den Batterien sollen die Pferde möglichst gleicher Farbe sein. Die Remontirung geschieht durch ein grosses Commando, welches kleinere detachirt und die Pferde zur Vertheilung an das Artillerie-Commando der Districte sendet.

In den letzten Jahren ist unendlich viel geschehen, um die Artillerie in der früher mangelnden Schussfertigkeit und Manövrirfähigkeit empor zu bringen. Hiebei wird das erforderliche Material in einer Art verbraucht und geopfert, wie kaum irgendwo anders. In Handhabung der neuen Geschütze kommt angeborne Kaltblütigkeit und lange Präsenz zu Statten. Immerhin bleibt es zweifelhaft, ob in dieser Elitewaffe der russischen Armee wirklich der hohe Grad von Präcision, Intelligenz und technischem Geschicke

1) Die brillante Attake von Grochow war von einem deutschen Rittersmanne geführt.

allgemein verbreitet ist, welchen das ausgezeichnete Geschütz-System und die moderne Artillerie-Taktik voraussetzen.

Die Ingenieur-Truppen bilden eilf Sappeur-Bataillons, sechs Pontonnier-Halb-Bataillons. Sie arbeiten bei ihren Übungen häufig mit, resp. gegen Artillerie, was eine sehr nachahmungswerthe Manövrir Einrichtung. Seit Kurzem sind ausserdem auch Eisenbahn- und TelegraphenAbtheilungen creirt.

Unter der Bezeichnung „Troupes stabiles ou sédentaires“ werden gewöhnlich die übrigen Kategorien der regulären Armee zusammengefasst. Ihr Hauptbestand lässt sich rangiren unter locale Feld-Instructionsund Truppen des innern Dienstes mit einem Präsenzfusse von 180.000 Mann ohne Recruten, und 5000 Officieren, nebst 20.000 Pferden. Locale Feld- und innere Truppen sind zweiler, ja dritter Qualität im Vergleiche der FeldArmee, höchstens Gensdarmen ausgenommen. Da sie aber den Feldtruppen. grösstentheils materiell gleichgestellt sind, nur keinen Train in Friedenszeit besitzen, so kosten sie eben so viel als Truppen erster Qualität.

Zur ersten Kategorie gehören 25 Bataillons Festungs-Infanterie, 6000 Mann Festungs- Artillerie. Dann 48 Linien-Bataillons, welche die Feldtruppen in asiatischen Provinzen ersetzen, beziehungsweise unterstützen, und einer Neu-Organisation unterliegen sollen, welche im Kawkas bereits begonnen ist. Zur zweiten Kategorie zählen ausser einigen Modelltruppen die Reserve- oder Depôt-Truppen. Ihr Kriegsfuss ist 36.000 Mann, 99 Geschütze, ihre Präsenz 1300 Officiere, 30.000 Mann, 11.000 Pferde, 40 Geschütze. In Finnland und Polen existiren gar keine, im Kawkas nur ganz wenige Abtheilungen der Depôts. Die Infanterie besitzt 72 Reserve-Bataillons und 10 Reserve-Schützen - Bataillons (77 Europa, 5 Asien). Deren Cadres je neun Officiere, 96 Mann, resp. 10 Officiere, 108 Mann Combattanten. Die Zahl der aufzunehmenden Recruten ist auf 1000 Mann pr. Bataillon berechnet (1869 waren es 53.000). Die Cavallerie hat pr. Regiment eine Escadron, Garde 10 Officiere, 275 Mann, Armee sieben Officiere, 132 Mann. Armee-Escadrons sind pr. Division in Europa zu einer Reserve-Brigade vereint. Ausserdem existiren 16 Batterien, vier Bataillons Sappeurs.

Für innern Dienst existiren nur 6000 Gensdarmen, 90-100.000 Mann Gubernial-Bataillons und Bezirks-Commando's. Zu den 70 GubernialBataillons dürfen wenigstens keine Individuen schlechter Conduite mehr genommen werden, sondern nur schwächere Leute. Die Commando's (600) sind der Ausschuss der Gubernial-Bataillons. Beide Gattungen erfüllen ihre Obliegenheiten des inneren Sicherheitsdienstes in wenig befriedigender Weise, so viel auch schon für ihre Hebung geschehen ist.

Die irregulären Truppen bilden 15 Abtheilungen, wovon zwölf Kosakenheere. Letztere formiren 156 Polks Cavallerie mit 138.000 Mann, 38 Bataillons Infanterie 38.000 Mann, 5-6000 Mann Artillerie in 26 Batterien. Sie gehen aus einer Bevölkerung hervor (1.5-1.8 Millionen),

die bisher wichtige fiscalische und andere Privilegien, wie Recrutirungsfreiheit, genoss, dafür aber zu allgemeiner Dienstpflicht verhalten, legislatorisch streng abgesondert und einem nur durch Wahlrechte und patriarchalische Institutionen einigermassen gemilderten Militär-Regime unterworfen war). Bei einem grossen Theile der Kosaken (Don'sche) ist jetzt die ständische Abschliessung von den übrigen Unterthanen gebrochen, und die neue Provinz- und Justiz-Organisation eingeführt. Die Ausnahmsstellung wird in Bälde völlig schwinden. Für Europa kommen eigentlich nur die Don'schen Kosaken in Betracht. Sie stellen zwei Garde-, 64 andere Polks, à sechs Sotnien, 14 Batterien, 60-70.000 Köpfe, sind meist Raskolniken, Grossrussen mit kleinrussischem Anhauch. 100 Sotnien mit dreijährigem Turnus stationiren im Westen und Süden des europäischen Reiches, ausserdem zwei Garde-Regimenter (vier Sotnien). Die neuen Eisenbahnen bringen den Don für einen europäischen Krieg näher. Der militärische Werth für den kleinen Krieg hat sicherlich abgenommen, seit der Steppenreiter sich vollends in den friedlichen Bürger verlor. Ihr Nutzen wird durch Raubsucht theilweise compensirt. Das Officiers-Corps leidet im höchsten Grade an der durch die bisherige Landes-Organisation bedingten Vermengung mit bureaukratischen Elementen, ist für den regelmässigen Kampf meistens unbrauchbar und jetzt auch für die numerischen Anforderungen des Etat nicht einmal ausreichend.

Finnland besitzt, ausser seiner milizartig angesiedelten IndeltaArmee, ein Garde-Schützen-Bataillon (beiläufig gesagt, wohl die einzige Truppe der russischen Armee, deren gesammter Friedensstand Schulkenntnisse aufweisen kann). Das Budget für Landtruppen und Marine 475.000 Rubel, wovon etwa ein Drittel auf Eisenbahnbauten verwendet wird, (welche freilich hier höchste militärische Bedeutung beanspruchen). Die Indelta-Armee ist in Auflösung gerathen. Die im Frieden nöthigen Mannschaften werden durch. Werbung auf 3-12 Jahre gewonnen. Finnland hat seit der letzten Prüfung weniger denn je die Mittel, grössere militärische Anstrengungen zu machen. Unter 18 Millionen Einwohnern erreichen etwa 14-16.000 Mann das 21. Lebensjahr.

Die Landes-Vertheidigung ist unter Totlebens bewährter Leitung zwar bedeutend verbessert worden, erweist sich jedoch den neuesten taktischen Anforderungen gegenüber als sehr der Vervollkommnung bedürftig. Für Befestigung und Armirung weist das letzte Budget sechs Millionen Rubel an. Bei der Land-Fortification ist die neue Ausrüstung bis zu 43 Procent des normirten Status gediehen, bei der Küstenbefestigung bis zu 48 Procent. Festungen ersten Ranges sind in den letzten Jahren geworden: Kiew, Kerč, Sweaborg. Brzesc, Nowo-Georgiewsk und Iwangorod erhalten eine grossartige Erweiterung mit detachirten Forts.

Längst ist eine Befestigung der Hauptknotenpunkte Westrusslands

1) Nicht alle Bewohner des Kosakenlandes zählen zur Kosaken-Bevölkerung, z. B. sind am Don unter 950.000 Einwohnern 282,000 gewöhnliche Landleute, 6500 geistlichen Standes, 15.000 Adelige, 633.000 Kosaken,

projectirt, aber nicht ausgeführt. Im Augenblicke geschieht sehr viel für Nikolajeff und die transkaukasischen Plätze.

Das russische Eisenbahn-System hat eine Länge von 1500 Meilen im Betriebe, von 500 Meilen im Bau, von 900 Meilen in Concession. Die strategischen Hauptlinien Smolensk-Brzesc (90 Meilen) und Brzesc-Berdyceff (77 Meilen) sollen, erstere bis Ende, letztere bis Anfang des nächsten Jahres fertig werden. Mit Ausnahme von ein paar kurzen Linien existirt überall das breite Geleise. Auf den militärisch wichtigen Linien nach Süd und Westen, auch gegen den Don, ist doppelte Schienenbahn entweder gelegt oder vorbereitel. Von Warschau ist eine solche fertig bis Skiernewice, wird bis Ende des Jahres zur österreichischen Grenze hin laufen. Neuerdings wurden ausschliesslich für Kriegszwecke Militär-Waggons mit verschiebbarer Achse construirt.

Die meisten Linien sind Privatbesitz. Der Staat überlässt gerne die selbstgebauten an Gesellschaften, trägt übrigens eine schwere Bürde an den Zinsgarantien (jetzt 7·6 Millionen zu zahlen). Die Privaten bauen besser und wohlfeiler, verwalten besser. Doch dies gilt eben nur schr relativ. Im Allgemeinen herrscht auf den russischen Eisenstrassen wenig einsichtiger, ordentlicher und genauer Betrieb, Mangel an Transportmaterial, was bei grossen, raschen Truppensendungen sehr fühlbar sein müsste. Der Nationalrusse empfiehlt sich nicht zum Bahndienste wegen seiner Unverlässlichkeit und Trunksucht, welche die Ursache sehr häufiger Unglücksfälle sind.

An Telegraphenlinien besitzt Russland über 6000 Meilen, eine Meile auf 60 Quadratmeilen (in Österreich eine auf drei Quadratmeilen).

Operationsstärke. Um die russische Streitmacht von ihrem Friedensfusse, wie solcher wenigstens Anfangs 1870 bestand, auf den Kriegsfuss zu versetzen, ist es nöthig, 500.000 Urlauber einzurufen und 100.000 Irreguläre aufzubieten, sowie zu equipiren. Für eine einzige Division der Infanterie muss man die Reserven durchschnittlich von einem Areal zu 1000 Quadratmeilen zusammenholen. Die Einberufung derselben ist seit vorigem Jahre auf dem Papiere vollständig vorbereitet, soll nach dem officiellen Anschlage höchstens sechs Wochen in Anspruch nehmen. Bleibt ausserdem die Nothwendigkeit, den grössten Theil mit dem Gebrauche der neuen Feuerwaffe bekannt zu machen.

Für einen europäischen Krieg kömmt als Operationselement in Betracht: Feld-Armee und Don'sches Heer. Die Mehrzahl der Kosaken und die stabilen Truppen werden vollkommen absorbirt durch innern und äussern Dienst hinter der europäischen Operations-Armee und in Asien. Die Feld-Armee zählt höchstens 700.000 Combattanten, vorausgesetzt, dass ansehnliche Manquements aus überschüssigen Reserven gedeckt werden können. Unter allen Umständen fallen 100.000 Mann auf den Kawkas, welcher keineswegs ernsthaft pacificirt ist und ein imposantes Truppen-Aufgebot erfordert, selbst ohne türkische Campagne. Nimmt man an, dass Preussen wie sonst seinen Druck übt auf polnische Rebellionsgelüste, so absorbirt immerhin die Occupation der 18 westlichen Gubernien 120.000 Feldtruppen.

Rechnet man im günstigsten Falle, ohne Bedrohung durch eine Seemacht, noch 60.000 Mann Besatzung des pontischen, 60.000 Mann des baltischen Rayons etc., so ergibt sich eine Operationsstärke von circa 350.000 Mann, dazu 20.000 Kosaken: 290 Bataillons, neun Divisionen Cavallerie und 30 Polks, in etwa acht Armee-Corps, à 45.000 Mann. Davon wird wenigstens die Hälfte nach den ersten zwei Monaten an der Grenze aufmarschirt sein.

Vergleichen wir nun die Ressourcen, welche Russland und Österreich in einem isolirten Kriege wider einander aufbieten können, so kommen wir zu folgendem Resultate: Das Donaureich wird an Armee und Landwehren vielleicht 800.000 Mann thatsächlich mobilisiren. Hievon 100.000, um den Süden von Laibach bis Budua zu besetzen, 100.000 an die rumänisch-türkischen Grenzen zur Observirung, 200.000 als Garnisonen in Cisleithanien und Ungarn. Verbleiben mindestens 400.000 Operations-Armee, mithin etwas mehr als die russische Ziffer 1). Die finanziellen Mittel anlangend, hat Österreich eine grössere Ordnung des Staats-Haushaltes und höhere Steuerfähigkeit; dagegen Russland eine grössere Leichtigkeit des Credites, und einen weiteren Spielraum in Benützung der vorhandenen Staatsmittel, indem es nicht durch parlamentarische Schranken und Parteiungen gehemmt wird. Diese und andere Verhältnisse gestalten dem Zaaren-Reiche in aller Gemüthlichkeit den Krieg im Frieden vorzubereiten wie die Actualität beweist und damit den Vorsprung abzukürzen, welchen sonst Österreich in Mobilisirung und Disponirung seiner Streitkräfte finden müsste. Der Vorsprung des strategischen Aufmarsches wird in Österreich freilich nach Durchführung des Territorial-Systems wieder zunehmen. Das Eisenbahn-System ist beiderseits lückenhaft, in Russland nicht intensiv entwickelt, aber überlegen im strategischen Gedanken. Und Österreich darf sich sehr beeilen, um von dem Gegner auf diesem Gebiete nicht geradezu überflügelt zu werden. Das Befestigungs-System Russlands ist wenigstens in Congress-Polen das Gegentheil der fortificatorischen Vernachlässigung Galiziens und Nord-Ungarns.

Qualität der Truppen betreffend, sehen wir im Allgemeinen auf russischer Seite eine grössere Homogenität, eine unschätzbare Zähigkeit und Kaltblütigkeit des militärischen Temperamentes, den wunderbaren Instinct der Geschlossenheit. Auf österreichischer Seite eine grössere Quantität der Intelligenz, eine höhere Beweglichkeit und Schwungkraft.

Der russische Generalstab wird dem österreichischen gleichstehen. Die russische Artillerie führt ein besseres Geschütz-System, hat eine dreimal längere Präsenzzeit als die österreichische, welche indessen ihre ruhmvollen

1) Die österreichische Armee stellt, abgesehen von Festungsbesatzungen und Garnisonen, 13 Corps, 2 Truppen - Divisionen und 5 Cavallerie-Divisionen, mit zusammen 700,000 Mann an Operations-Truppen, von welchen kaum mehr als 2 Truppen-Divisionen oder 36,000 Mann zur Beobachtung der Südgrenze wegfallen würden. Das Übergewicht über die russische Ziffer ist daher gegenwärtig sehr bedeutend.

D. R

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