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Das Lied trägt in den Anfangsbuchstaben seiner Verse den Namen Heinrich Müller, und schließt außerdem nach altvolkstümlicher Weise mit den Worten:

„Hat Heinrich Müller gesungen

In dem Gefängnis fein.“ Weil man den eigentlichen Verfasser dieses Liedes nicht mehr kannte, glaubte ein fühner Gelehrter, der von unseres Märtyrers Leiden gehört, aber doch nur ungenau unterrichtet war, dieser Heinrich Müller sei kein Anderer als unser Zutphener. Und doch hat derselbe, wie sich zeigen wird, niemals eine härtere Gefängnisstrafe erduldet. Wir nennen daher den Mann nur wie ihn seine Zeitgenossen genannt haben. Auch sein Geburtsjahr glaubte man seit dem vorigen Jahrhundert zu wissen und seşte dafür 1488 fest. Auf einem Bilde nämlich von 1713, welches unsern Märtyrer darstellt und auf seinen Tod hinweist, steht die Bezeichnung Aetat. 36 (D. h. im 36. Lebensjahre), und da Heinrich 1524 starb, so ergab sich daraus 1488 als Geburtsjahr. Aber mag auch das Bild von einem älteren Original herstammen und die Jahresangabe auf frühere Traditionen zurückgehen, als sicher fann uns auch diese Notiz nicht gelten.3) Immerhin wird Heinrich ungefähr um diese Zeit geboren sein; er steht zu Luther, wie wir hernach sehen werden, ebenso im Verhältnis eines Schülers wie eines vertrauten Freundes und kann also sehr wohl etwa fünf Jahre jünger gewesen sein als dieser.

Der Grund, warum über Heinrichs Herkunft gar nichts vors liegt und auch hernach trotz sorgfältiger Nachforschungen nichts aufgefunden worden, liegt wohl in dem späteren traurigen Schicksal seiner Vaterstadt. In dem Befreiungskriege der Niederländer wider Spanien bezwang Herzog Alba die Stadt Zütphen. 500 Bürger wurden dabei ermordet oder in die Yssel geworfen, viele andere ausgetrieben, die Stadt aber an acht Eden in Brand gesteckt. Da mögen alle Bürgerlisten und Aktenstücke verloren gegangen sein, die uns über diese und andere Fragen Auskunft geben könnten. Sie müssen deshalb unbeantwortet bleiben.)

Wichtiger als die Frage nach Vatersnamen und Geburtsjahr ist hier ein Anderes. Schon 100 Jahre früher hatte Zütphen einem edlen Manne Leben und Namen gegeben, welcher den „Brüdern des gemeinsamen Lebens" angehörte. Es war Gerhard von Zütphen, auch Zerbold genannt, ein Mann von großer Gelehrsamkeit und heller Gotteserkenntnis. Er erwarb fich viele Verdienste um die Verbreitung der Bibel in der Volkssprache und gründete für jene „Brüder" eine Bibliothek zu Des venter. Doch starb er schon im 31. Lebensjahre (1398). Mit ihm sind wir jener eigenartigen Erscheinung in den Niederlanden näher getreten, welche von so bedeutungsvoller Vorbereitung für die Reformation geworden und auch auf unsers Heinrichs Ents wicklung von Einfluß gewesen sein muß. Die „Brüder des gemeinsamen Lebens" bildeten einen freien Orden, anders als die Mönche, und von heilsamen Wirkungen. Angeregt durch die Mystik eines Tauler und Ruysbroek wollten die Gründer dieser Genossenschaft, Gerhard der Große (nicht zu verwechseln mit dem eben genannten Gerhard von Zütphen) und Florentius Radewins vor allem Frömmigkeit und Arbeitsamkeit pflegen. Sie sammelten dazu viele Genossen um sich, welche durch Abschreiben und Verbreiten der heiligen Schrift, durch Predigt und Volksunterricht, sowie durch gelehrte und erbauliche Schriften von gesegnetem Einfluß auf Hoch und Niedrig wurden. Aus ihrem Kreise ist der unvergeßliche Thomas von Kempen († 1471) hervorgegangen. Das erste sogen. „Bruderhaus" dieser Stiftung zu Deventer lag in unmittelbarer Nähe von Zütphen, und auch Zwolle, des Thomas Wohnsiß, war nicht fern davon gelegen. Wie konnte es da an Berührungen fehlen?

Auch waltete in den niederländischen Staaten schon lange ein auf eigne Betriebsamkeit gegründeter freiheitlicher Sinn. Unter den burgundischen Regenten war derselbe groß gezogen, und ver. gebend suchten ihre Nachfolger, die Habsburger, ihn wieder zu dämpfen. Der deutsche Kaiser Karl V. trachtete in diesen seinen reichen Erblanden nach Centralisierung und führte nach spanischem Muster staatlichen und firchlichen Zwang ein. Gab das chon zu seiner Zeit vielen Unwillen und Widerspruch, so entstand daraus hernach unter Philipp II. jener gewaltige Unabhängigkeitstampf und die endliche Befreiung des nördlichen Teiles der Staaten. Früh hatte man in diesen sich auch den neuen Strös mungen in Theologie und sonstiger Gelehrsamkeit zugewandt, und an der Schwelle der Reformationszeit zeigt sich hier ein reger Aufschwung des wissenschaftlichen Lebens. Wir brauchen nur zwei Namen zu nennen, um die Bedeutung dieser Gegenden für das erblühende Geistesleben ins Licht zu stellen, nämlich Johann Wessel aus Groningen, diesen tiefsinnigen und großen Schrifttheologen, dessen Lebenszeit wohl noch eben in die unsers Heinrich hineinreicht († 1489), und Desiderius Erasmus aus Roterdam, den größten aller Humanisten. So blühten in den Niederlanden die Wissenschaften, wie in wenigen anderen Ländern der Christenheit, und während anderswo neben einer hochgebildeten Gelehrtenklasse der größte Teil des Volkes in Roheit, Aberglauben und Priesterdruck dahinlebte, sorgten hier jene Brüder des gemeinsamen Lebens dafür, daß die edelsten Ergebnisse der Bildung auch so viel wie möglich dem Volksleben zu gute kamen. Was wunder, wenn die in Sachsen durchbrechende Reformationsthat vor allem in den Niederlanden mit begeisterter Wärme ergriffen ward ? wenn gerade hier Männer aufstanden, welche nicht allein in ihren Vaterlande freudig wirkten und vielfach den Märtyrertod dafür erlitten, sondern in großer Zahl auch nach Deutschland herüberkamen und an vielen Orten Großes und Unvergebliches leisteten?

Es muß wohl im Dunkeln bleiben, wie viel unsres Heinrichs Jugendentwicklung von jenen vorreformatorischen Strahlen beleuchtet gewesen ist. Als er uns zuerst begegnet, finden wir ihn nicht auf gelehrter, humanistischer Laufbahn, auch nicht in einem jener „Bruderhäuser", sondern als Bettelmönch im Augustinerorden. Eine angeregtere Jugendzeit kann ihm freilich darum ebensowohl zu Teil geworden sein, wie dem Augustiner Luther. Was ihn zu seinem Klostereintritt veranlaßt, hat er später ebensowenig verraten, als in welches Kloster er eingetreten. Bemerkenswert ist es immerhin, daß er nicht den Franziskanern seiner Vaterstadt, sondern den Augustinern eines andern Ortes (denn solche gab es in Zütphen nicht) den Vorzug gab, und wiederum, daß es gerade ein Augustinerkloster von der reformierten „Sächsischen Congregation" war, in welches er trat.5) Damals hatten sich drei von den niederländischen Augustinerklöstern dieser sächsichen oder deutschen Congregation angeschlossen, nämlich zu Þaarlem, Enkhuizen

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und Dordrecht,*) und in einem derselben befand sich somit Heinrich. Was bedeutete aber diese Congregation? Sie gehört in die Reihe der Kloster-Reformierungen, deren das Mittelalter so viele hervorgebracht hat. Andreas Proles, der deutsche Augustinervifar († 1503), hatte sie in einem Teile seines Ordens durchgeführt, und sein Nachfolger, Johann Staupiß, folgte ihm getreulich auf dieser Bahn. Man hat in dieser Reformierung oftmals eine vorreformatorische Bewegung sehen wollen und behauptet, daß die so erneuten Augustiner sich durch ein vorzügliches Studium des Augustinus, durch große Schriftkenntnis, Mystik u. dgl. hervorgethan. Aber bei näherem Zusehen findet sich davon nichts. Es war nur eine strengere Durchführung der alten Klosterregeln und darum ein größerer religiöser Ernst, was Broles und Staupik bei ihren Anhängern erstrebten; war doch auch bei den Bettelmönchen viel von der alten Zucht und Strenge in Verfall geraten, und darum eine solche Umkehr von heilsamer Bedeutung. Eine Reformation im evangelischen Sinne war von diesen Bestrebungen aus nicht zu erwarten.) Und doch ist es wohl nicht zufällig gewesen, daß gerade diese Ordenscongregation die Basis für die Reformation hergegeben. Hier würdigte man Luthers Ringen doch mehr, als man es mutmaßlich in einem Dominikaner- oder auch in einem „nicht reformierten" Augustinerkloster gethan, und eine Persönlichkeit wie die des Johann Staupiß mit ihrem tiefen Ernste und dem eindringenden Verständnis für anderer Seelennot hätte man anderswo wohl so leicht nicht gefunden. Auch für Heinrich war die Wahl gerade dieser Congregation nicht gleichgültig; sie gab ihm eine ernste Sinnesrichtung und erleichterte es ihm später, mit so vielen Brüdern dem hervortretenden mächtigen Ordensgenossen sich anzuschließen.

Nach alter Tradition hat Heinrich bei seinem Klostereintritt den Namen Johannes, nach dem Apostel dieses Namens, annehmen müssen. Der Gebrauch solcher Namensveränderung ist bekannt, Luther mußte ja seinen ehrlichen Vornamen mit dem des Ordengheiligen Augustinus vertauschen. Aber sie hatte für þeinrich keine weitere Bedeutung. Niemals, auch nicht in den ältesten vorreformatorischen Aufzeichnungen, finden wir ihn Johannes genannt, wie auch Luther bekanntlich in Wirklichkeit immer als „Bruder Martin" erscheint. Als „Bruder Heinrich" sollten ihn nachher die Feinde mit Schrecken, die Anhänger aber mit Freuden kennen lernen, und unter diesem Namen ist er auch uns noch teuer geblieben.)

*) 1513 kam das Kloster zu Antwerpen hinzu.

Zu einem festeren geschichtlichen Halt über Heinrichs Leben gelangen wir erst etwa mit seinem 20. Jahre. Im Sommer 1508 nämlich finden wir seinen Namen in die Listen der Studierenden zu Wittenberg eingetragen. Es heißt da: „Bruder Heinrich aus Geldern von Zütphen des Augustinerordens." $) Eine interessante Thatsache! Was führte den jungen Mönch schon damals an den Herd der nachherigen Reformation? Luthers Persönlichkeit fonnte es nicht sein, denn dieser war noch gar nicht dort, sondern fam erst am Anfang des Winterhalbjahres von Erfurt herüber. Es muß die enge Beziehung zwischen den Augustinern der sächsischen Congregation gewesen sein, was die Ordensoberen veranlaßte, Heinrich jeßt nach Wittenberg und hernach nach Köln zu senden. Er sollte lernen und weiterkommen, denn an Gaben fehlte es ihm nicht. Wie bei der Gründung der Universität Wittenberg im Jahre 1502 darauf gerechnet war, daß der dortige Augustinerkonvent der jungen Hochschule Dozenten liefern sollte, so suchte natürlich der Orden diese Universität auch für die Ausbildung seiner Mönche nutbar zu machen, indem auch aus den entferntesten Klöstern strebjame und befähigte Mitglieder zum Studium ins Wittenberger Kloster versekt wurden. Man ahnte freilich noch nicht, welches Licht von dort aus der ganzen Christenheit zustrahlen sollte. War doch die Wittenberger Stiftskirche ausgestattet mit einem Schaße von 5000 Stück Reliquien, und etwa 10,000 Messen sollten alljährlich in ihr gelesen werden. Kurfürst Friedrich der Weise hatte wohl seine Freude an dem aufblühenden Humanismus, aber er dachte nicht im entferntesten daran, mit dieser neuen Hochschule der alten Kirche Ungelegenheiten zu bereiten.

Heinrich ist ohne Zweifel damals mit Luther persönlich bes fannt geworden. Wohnten doch beide pflichtmäßig in demselben

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