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eilte. Man darf wohl (mit Anderen) annehmen, daß Heinrich ihn jeßt, da er Dordrecht verlassen, zu Antwerpen aufgesucht und mit ihm für kurze Zeit verkehrt habe, woraus sich dann seine spätere Bekanntschaft in dieser Stadt erklärt.?!) Eine andere Nachricht indesjen, nach welcher er in dieser Zeit einmal Prior in Gent gewesen und als solcher zu Köln der Uebergabe der päpstlichen Bannbulle durch die Legaten Aleander und Carraccioli an Kurfürst Friedrich von Sachsen beigewohnt, erweist sich bei näherem Zusehen als unbegründet.22) Heinrich schwebte als nächstes und großes Ziel der Aufenthalt in Wittenberg vor Augen, wo wir ihn denn auch noch in demselben Jahre (1520) finden. Hier hatte er feine Studien begonnent, hier wollte er nun, von einem höheren Gedankenstrom erfaßt, seine geistige Weihe empfangen. Der im Leben schon zu Ehrenstellen gelangte Mann, welcher die dreißiger Jahre bereits überschritten, wollte auf's neue zu lernen anfangen, um seinem Vaterlande und der Kirche in besserer Weise dienen zu fönnen, als er es bisher vermocht.

2. Fortentwidlung zu Wittenberg. Etwa im Sommer des Jahres 1520 mag Heinrich zum zweiten Male in Wittenberg angelangt sein.) Hier bezog er wieder das Augustinerkloster und hatte Gelegenheit, den gewaltigent Vorfämpfer evangelischer Wahrheit alltäglich in nächster Nähe zu bewundern. Wie hatte sich in den lezten sechs Jahren hier alles verändert! Leußerlich galten noch die Klostergebräuche und Ordensregeln in alter Strenge, aber innerlich war man über Vieles bereits hinaus und ging einer neuen Ordnung christlichen Lebens entgegen, zu welcher Bruder Martin in seinem eben erschienenen Büchlein von der Freiheit eines Christenmenschen“ den Weg gewiesen. Damals befand sich zu Wittenberg alles in mächtiger Aufregung, und vorzüglich drehten sich die Gedanken um die Bannbulle Leo's X. Feierlich war diese dem sächsischen Kurfürsten eingehändigt, und Ed hatte eine Abschrift von ihr an den Rektor und die Universität Wittenberg übersandt, mit der dringenden, im Namen des Papstes ausgesprochenen Bitte, nach ihr zu verfahren, 8. h. feinen der darin verurteilten Säge zuzulassen. Von der Universität war nun freilich für Luther wenig zu fürchten, eher von dem zaghaften und alternden Kurfürsten, der es so ungern zu einem Bruche mit Rom fommen lassen wollte. Aber Luther riß Alles mit sich fort. Denn er jah in der Bulle nicht sich, sondern Christus und sein Evangelium verdammt. In mehreren Kundgebungen sprach er sich darüber aus und schritt dann am 10. Dezember dieses Jahres zu ihrer feierlichen Verbrennung, gleichwie man an mehreren Orten seine Schriften verbrannt hatte. Þeinrich muß das mit erlebt haben, und welche Erregung haben diese Ereignisse wohl in seiner Seele hervorgerufen! Wäre ihm die prophetische Gabe verliehen gewesen, so hätte er freilich von diesem Scheiterhaufen auf einen andern blicken müssen. Denn nur vier Jahre später, an eben diesem 10. Dezember, sollte er selber im Feuertode feinen Glauben bekennen.

Aber alle die Ereignisse hinderten unsern Augustinermönch nicht, den Hauptzweck seines Wittenberger Aufenthaltes mit Ernst zu verfolgen. An der Universität wurde tüchtig gearbeitet. Troß der aufregenden Kämpfe mit Rom hielt Luther seine Vorlesungen und Predigten, und seine Genossen waren nicht minder von frischem wissenschaftlichen Streben erfüllt. Galt es doch, die neuerkannten Wahrheiten biblisch, firchengeschichtlich und dogmatisch klarzustellen. Allen voran ging darin mit Gründlichkeit und Klarheit der junge Philipp Melanchthon, welcher damals seine berühmten Vorlesungen über den Brief an die Römer hielt und bald hernach (1521) seine Loci communes, die erste protestantische Glaubenslehre, herausgab. Heinrich konnte hier viel lernen, und daß er trop seiner wohl mehr als 30 Jahre sich mit jugendlichem Eifer daran machte, darüber sind uns treffliche Zeugnisse erhalten.

Zunächst hören wir von seiner Erlangung des ersten akades mischen Grades. Am 12. Januar 1521 hat, so lautet die aufbewahrte Urkunde, der „pater Henricus Zutphaniensis“ unter dem Winterdekanate des verehrungswürdigen Herrn Vaters Martin Luther, zur Erreichung des biblischen Baccalaureates disputiert und ist befördert worden.) Dieser biblische Baccalaureat war der unterste theologische Rang an der Universität, den Luther bereits 1509 inne hatte. Wer ihn gewonnen, hatte das Recht, über biblische Bücher Vorlesungen zu halten, und mußte wenigsteng

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ein Jahr, oder, falls er Ordensglied war, ein Semester dabei bleiben, ehe er weiter fam.3) Die bei dieser Gelegenheit von Heinrich verteidigten Säße oder Thesen sind durch günstige Umstände erhalten geblieben und haben hernach auch in seinem eignen Leben noch einmal eine Wirkung gehabt. Es sind nämlich diefelben Säße, die Heinrich drei Jahre später von Bremen aus an das feindliche Konzil des Erzbischofs sandte, welches ihn vor seine Schranken geladen. Wir besißen sie in einem lateinischen und einem plattdeutschen Texte, die unabhängig von einander auf uns gekommen und auch in Einzelheiten verschieden sind. Der plattdeutsche Text entstand hernach in Bremen und wird unten erwähnt werden; hier handelt es sich nur um den in lateinischer Sprache abgefaßten.) Da wir in diesen Thesen Heinrichs erste schriftstellerische That vor uns haben, und diese keineswegs bes deutungslos ist, so wird eine kurze Betrachtung derselben hier am Orte sein.

Ihr Inhalt führt uns mitten in die damals mächtig pulsierenden theologischen Gedanken. Wie werde ich vor Gott gerecht? so lautet auch in ihnen die Hauptfrage, und die Antwort auch hier: nur durch den Glauben, welcher die im Evangelium dargereichte Wahrheit ergreift und sich dann (wie Luther so trefflich im 2. Teil von der „Freiheit eines Christenmenschen“ darlegte) zur rechten christlichen Liebe gestaltet. Aber Heinrich hat diese Gedanken nicht einfach nach Luther und Melanchthon ausgeführt, sondern selbständig und eigenartig entwickelt. Seine Säße zerfallen in 4 Teile: der erstere handelt von der Natur" (natura) d. h. von des Menschen natürlichen Beschaffenheit, der zweite vom Geset" (lex), der dritte stellt die Wirkungen von , Evangelium und Glauben" (evangelium et fides) dar, während der vierte (in 12 Thesen) von der „Liebe" (charitas) spricht. Der erste Teil giebt eine ernste, man kann sagen herbe, Schilderung von dem Elend des gefallenen Menschen in furzen, knappen Säßen. Der Mensch hat das lebendige Wort verlassen und ist damit gestorben“, nämlich des lebenbringenden Gottesgeistes beraubt. Zwar Aristoteles, heißt es, und die blinden Sentenzenlehrer, die ihm folgen, nennen solchen Zustand „Leben“, aber sie ziehen uns damit nur tiefer in's Verderben hinein. Da hat nun Gott, so

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sagt der 2. Teil, dem Menschen für's erste das Geseka gegeben, um ihm seinen Zustand zum Bewußtsein zu bringen und ein Þeilsverlangen zu erwecken. Dieses Geset selber ist gut, aber seine Wirkung zunächst bei den Menschen nur übel und verschlimmernd, grade wie die Sonne den widerlichen Geruch aus einem Leichnam erwedt. Gilt das vom göttlichen Geseke, wie viel weniger können auch die besten menschlichen Geseke Gutes bewirken. Zur wirklichen Rettung der Menschen, (jo führt Teil 3 aus), hat Gott darum ein Anderes gethan, nämlich den „verheißenen Samen" erscheinen lassen, durch welchen alle Kreatur erneuert werden soll. Dieser war auf Erden dem Geseke unterthan, zugleich aber ein Herr des Gefeßes, und in ihm ist alle Verheißung zur Erfüllung gekommen. Zur Heilserlangung durch ihn ist der Glaube nötig, aber nicht ein toter, wie ihn auch die Teufel haben können, sondern ein vom Geiste Christi gewirkter und darum lebendiger Glaube, in welchem man ,jo viel empfängt, als man glaubet.“ Eine anderweitige Heilserlangung, etwa durch unsre verdienstlichen Werte, ist nicht möglich. Bei dieser Verwerfung des eignen Verdienstes fönnte scheinen (Teil 4), als ob der Trieb zum Guten in uns ertötet werde, allein das Bewußtsein der Gotteskindschaft Tuft denselben vielmehr auf's stärkste zum Leben. Ein Glaube ohne Liebe ist darum bei einem rechten Christen undenkbar, aber ebenso undenkbar ist, daß solch ein Christ sich an der äußeren aristotelischen Rechtbeschaffenheit (Habitus) sollte genügen lassen fönnen. Hierzu wird der glaubende Christ vom Geiste angeleitet und weitergeführt, während er vom Geseke frei geworden ist.

Es ist klar, daß wir in diesen Gedanken die Hauptzüge der von Paulus wie von den Reformatoren ausgeführten Rechtfertigungslehre vor uns haben. Die strenge Grundlage, auf welcher sie hier ruht, die Verwerfung des Aristoteles, auf den die römischen Scholastifer sich stüßten, und ihr oftmals so freudiger Schwung (z. B. 3, 16: „Christi Gerechtigkeit ist die unsre, fein Triumph über Sünde, Tod und Hölle der unsre, und sein ganzes Reich das unsre“) bezeugen den Schüler Luthers. Auffallen aber muß, daß Heinrich keineswegs den Glauben genau so auffaßt, wie wir das bei diesem gewohnt sind. Während Luther nämlich den Glauben wie die Hand darstellt, welche die von Gott gebotene Gerechtigkeit erfaßt, aber an sich selber noch nichts bedeutet, so bringt Heinrich denselben von vornherein in engsten Zusammenhang mit den neuen Werken, und während Luther über die Epistel des Jakobus wegen ihrer Stellung zum Glauben nicht eben günstig urteilt, so führt Heinrich grade einige ihrer charakteristi(chen Stellen mit Hervorhebung an. Es ist hier nicht der Ort, auf diese feineren Unterschiede weiter einzugehen. Bekanntlich haben sich später daraus dogmatische Differenzen und genauere Begriffsbestimmungen in der evangelischen Kirche entwicelt. Uns ist hier nur wichtig, die selbständige Haltung unsres Niederländers zu konstatieren.)

Nach Erlangung dieser akademischen Würde finden wir denselben noch über ein Jahr in Wittenberg. Die weitere theologische Ausbildung und die Verbindung mit den Männern der Reformation konnten ihm als die beste Vorbildung für einen späteren Lebensberuf erscheinen. Und einstweilen gaben die großen Ereignisse im Leben Luthers Stoff zu vielen Gedanken und Erwartungen. Der Reichstag zu Worms hatte den Kaiser endlich bestimmt, den Reformator persönlich vorzuladen. Dieser erhielt am 26. März dieses Jahres (1521) seine Ladung nach Worms, und brach am 2. April von Wittenberg auf. Mit schwerer Sorge sahen ihn die Freunde (und Ordensbrüder von dannen ziehen. Aber daß er nach wohl vollbrachter Verantwortung auf längere Zeit noch den Seinen entzogen und auf der Wartburg fürsorglich festgehalten werden sollte, konnte Niemand ahnen. Luther blieb beinahe ein Jahr lang der Universität fern. Vom Mai an schrieb er aus seinem , Patmos“ wieder nach Wittenberg, und in einem der ersten Briefe erwähnt er unter den zu Grüßenden auch unsern „Henricus Zutphaniensis.")

In dem nun folgenden Sommer (1521) durfte Heinrich die Freude erleben, seinen oben erwähnten Freund Jakob Probst, den Antwerpener Prior, in Wittenberg zu sehen. Derselbe hatte Zeit gefunden, seine vor zwei Jahren hier abgebrochenen Studien fortzuseßen, ohne seine heimatliche Ordensstellung aufzugeben.) Er war Heinrich etwas im Studium voraus, infolge dessen er denn jeßt auch schon am 13. Mai das zweite Baccalaureuss Examen bestand und am 12. Juli zur Licentiatenwürde gelangte.

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