Abbildungen der Seite
PDF
EPUB

mehr vor dir sehen lassen kann! Ich wollte schon früher kommen, das Kind verpflegen helfen, aber immer hielt mich die Furcht zurück, du würdest mir die Thür weisen. Nein, sage nicht, daß du es nicht gethan hättest! Es wäre ganz recht gewesen, ich kann die Augen nicht mehr zu dir aufschlagen. O, ich bin ein armseliges verdammtes Geschöpf, Gott und Menschen müssen mich verabscheuen. Ich habe nur noch einmal dein Gesicht sehen wollen, und jezt bereu ich auch das, denn ich fühle, daß ich's nicht mehr wert bin und nun nun will ich fort. Leb wohl!"

[merged small][ocr errors]

„Nein,“ rief sie, „schlimmer als krank, ich bin toll! Erschrick nicht, Goldene, ich habe meine fünf Sinne beisammen, aber es rast und tobt etwas in mir, ich habe einen bösen Geist in meinem Blut, der regiert mich, daß ich alles thun muß, was er will. Er hat mich fortgerissen von meinem guten Kind und dem braven Menschen, der ihm ein guter Vater sein wollte. Wie ich die Musik draußen auf der Straße hörte, da war's aus. Die Langeweile, das Stillsitzen, die Bravheit und Ehrbarkeit und Appell und Subordination - ich meinte, ich müßte geradezu ersticken, wenn ich das noch länger ertrüge. Ich wußte, daß es mein Unglück war, wenn ich fortliefe; er hatte mich ja schon das erste Mal | schlecht behandelt, er ist kein guter Mensch, aber er hat eine Gewalt, die mich ihm nachzwingt, und so ging ich und hatte nicht einmal Gewissensbisse. Für das Kind ist ja gesorgt, dachte ich, dem wird es besser sein, wenn solch eine Mutter nicht bei ihm ist, und er er findet eine bravere Frau. Nur daß ich dich nicht wiedersehen sollte, das that mir weh. Aber, wie gesagt, ich war wie von einem Geist besessen, ich ließ alles im Stich;

nun muß ich ausessen, was ich mir eingebrockt habe."

Sie sank in großer Erschöpfung auf einen Stuhl und starrte vor sich hin. Ich konnte sie jezt erst genauer betrachten. Sie trug anständige städtische Kleider und sogar einigen Schmuck, den ich früher nie an ihr bemerkt hatte.

"Hast du dein Kind nicht wiedergesehen?" fragte ich.

„Doch,“ nickte sie, „aber nur von draußen, durch das Fenster in der Wachtmeisterstube. Es saß am Tische, und er saß bei ihm und schien zuzuhören, wie es ihm aus einer Fibel vorbuchstabierte. Dabei rauchte er seine kurze Pfeife und sah ernsthaft mit seinen ehrlichen Vergißmeinnichtaugen vor sich hin. Gott vergelt's ihm, was er an der armen Waise thut. Vielleicht zieht er sie auf zu einem rechtschaffenen Weibe, das niemals merken läßt, was es für Blut von Vater und Mutter her in seinen Adern hat. O, daß ich elend werden mußte, das ist ja kein Wunder! Ich habe mit Gewalt glücklich werden wollen, so wie es mir ums Herz war, ohne nach irgend wem zu fragen, und gemeint, ich könnte es unserem Herrgott abtrogen, was er nicht gutwillig hergab. Das straft er nun und hat ganz recht. Aber du, Goldene, was hast du verbrochen, daß dir alles genommen wer den durfte, alles, alles! O, es ist eine jämmerliche Welt, und wenn ich am jüngsten Tage vor Gericht gefordert werde, ich werde meinen Mund dann schon aufthun, ich werde sagen —“

Sie war aufgesprungen und stand mit funkelnden Augen und geballter Faust mitten im Zimmer.

„Nein, Schwarze," sagte ich, so sollst du nicht reden. Du bist jezt außer dir, aber glaub nur, es ist noch nichts verloren. Wenn du jezt selbst bereust, daß du dich von dem schlechten Menschen wieder hast fortlocken lassen, so wirst du ja in Zukunft klüger sein, und auch er wird wohl richt wieder seine Macht über dich ausüben wollen. Ich bin überzeugt, dein Mann, wenn ich es ihm recht eindringlich vor

stelle, gut wie er ist und immer noch ver- |. Kaum aber war ich allein, so warf ich

[merged small][merged small][merged small][merged small][merged small][ocr errors][merged small]

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und wandte sich ab. Ich sah, wie sie langsam der Thür zuwankte. Mir selbst waren die Glieder wie erstarrt bei ihrem Bekenntnis. Armes, armes Weib! sagte ich vor mich hin. Doch erst, als sie die Schwelle erreicht hatte, überwand ich mich und that einen Schritt auf sie zu. "Ich lasse dich so nicht fort!" sagte ich. „Wenn du allen anderen Menschen ausweichst ich, deine alte Freundin, werde die Hand nicht wegziehen, mir mußt du vertrauen, hörst du wohl?"

Sie schüttelte den Kopf. „Lebewohl, Goldene!" sagte sie mit einem dumpfen Ton, ohne mich anzublicken. „Ich danke dir tausendmal für deine Güte, aber es ist zu spät, sie würde mir nur eine Qual sein. Sorge dich nicht um mich. Ich gehe jezt zu meinem alten Vater, der ist mutterseelenallein und krank. Vielleicht kann ich dem noch nüßlich sein. Sonst es ist nicht mehr schade um mich. Lebewohl!"

Dann öffnete sie rasch die Thür, und ich hatte nicht den Mut und die Kraft, sie zurückzuhalten.

mir meine Feigheit vor, meine Unentschlossenheit und Herzensenge, daß ich sie hatte von mir lassen können, statt mit Güte oder Gewalt sie ihrem elenden, verzweifelten Zustande zu entreißen.

Ich verbrachte eine böse Nacht unter Selbstanklagen und tausend wirren Plänen, wie ich es anfangen sollte, das einzige, woran ich noch mit lebendigen Fäden. verknüpft war, mir zu erhalten. Selbst der Gram um meinen frischen Verlust trat vor dieser nagenden Sorge zurück.

Am Morgen war ich noch nicht viel flüger. Aber ich sagte mir, daß ich vor allen Dingen ihr nacheilen und sehen müsse, was inzwischen aus ihr geworden sei und ob sie vorläufig bei ihrem Vater ein Unterkommen und eine Pflichtaufgabe gefunden, die wie eine heilsame Buße ihr zerrüttetes Gemüt wiederherstellen könnte.

Mancherlei Geschäfte hielten mich in den Morgenstunden zurück. Es war Mittag geworden, als ich vor meinem Landhause in Liebenwalde anlangte. Da ich ungemeldet kam, war niemand da, mich in Empfang zu nehmen. Auch das Rasseln des Wagens und das Knallen der Peitsche verhallte ungehör auf der öden Dorfstraße, und das Haus mit den geschlossenen Fensterläden und der festverwahrten Thür sah mich unheimlich an. Ich ging nach dem Thorweg der Hofmauer, den ich offen fand, aber auch hier. war keine Menschenseele zu erblicken.

Endlich kam aus einem der Wirtschaftsgebäude ein kleiner lahmer Knabe herausgehinkt, der auf meine Frage, wo Mamsell Sengebusch und die anderen Hausleute seien, mich erst blöde anglozte und dann nach dem Park hinunterdeutete, ohne die Lippen zu bewegen. Ich schritt hastig, mit ahnungsvollem Herzklopfen durch den Blumengarten, der im ersten jungen Grünstand, und noch ehe ich den Park betreten hatte, sah ich unter den lichten Bäumen ein dunkles Gewimmel, ein wunderliches Hin- und Herlaufen, keiner aber beachtete mein Kommen. Erst als ich dicht bei ihnen war, starrten mir hundert Blicke

entgegen. Das halbe Dorf war zusam- | ner den Weiher von dem wuchernden mengelaufen, und jezt hörte ich den ersten Entenflott habe reinigen wollen, sei das Laut, der mir das Entseßliche verriet: Unglück an den Tag gekommen.“ Es ist keine Hilfe mehr sie muß es schon in der Nacht gethan haben der Gärtner hat es gleich gejagt, wie er sie herauszog

[ocr errors]

Ich weiß nicht, wie ich die Kraft behielt, mich durch die Leute durchzudrängen, bis zu der Bank am Weiher, wo man sie hingelegt hatte. Der Bader war eben noch zum Überfluß bemüht gewesen, ihr eine Ader am Arm zu schlagen. Die alte Sengebusch kniete neben ihr und rieb ihr mit Äther die Schläfen. Sie lag lang ausgestreckt, das nasse Haar siel schwer zu beiden Seiten auf die Erde nieder. Aber ihr bleiches Gesicht hatte einen fast freudigen Zug, und die Lippe, die sich von den oberen Zähnen ein wenig zurückgezogen hatte, schien zufrieden zu lächeln. Sie war mir nie schöner vorgekommen als in dieser grauenhaften Stille.

*

Meine alte Freundin schwieg. Sie hatte sich in tiefer Erschöpfung in ihren Sessel zurückgelehnt und die Augen zugedrückt. Ich fand kein Wort, mit dem ich den dumpfen Nachklang dieser Erinnerungen zu unterbrechen gewagt hätte.

Endlich hob sie wieder das matte Haupt und sagte: „Ich habe Sie lange mit dieser traurigen alten Geschichte aufgehalten, lieber Freund. Vielleicht ist sie Ihnen durchaus nicht so merkwürdig erschienen, und ich habe es nur schlecht vermocht, Ihnen ein Bild dieses armen Menschenwesens zu geben. Aber wie ich Ihnen schon vorhin gesagt habe: wenn ich jezt zu wählen hätte, wen von allen Menschen, die mir je lieb und teuer waren, ich von den Toten heraufbeschwören wollte, um einen Tag mit ihm zu verbringen, ich bejänne mich keinen Augenblick. Meine arme

Ich erfuhr nachher, daß sie am vorigen Abend bei ihrem gichtkranken Vater ein getreten sei und auf den Knieen um seine Vergebung gefleht habe. Der sonst so,Schwarze nur noch auf ein paar Stungutmütige Alte, durch Schmerzen und den wiederzusehen, würde mir eine überNot verbittert, habe sie mit einem Fluch schwengliche Freude machen. Werden Sie aus seinem Hause weggewiesen und auf noch Ihre Philosophen in Schuß nehmen, all ihre Thränen und Gelöbnisse, daß sie die nichts davon wissen, daß Freundschaft nichts als seine Magd sein wolle, ein har ein elementarer Naturtrieb ist, unveranttes, stumpfes Schweigen behauptet. Da wortlich und unergründlich wie jene Gesei sie endlich fortgeschlichen und erst walt, die Mann und Weib in blinder um die zehnte Morgenstunde, da der Gärt Leidenschaft zueinander zieht?"

[ocr errors]
[graphic][merged small][merged small]

"

[ocr errors][merged small]

In einem Wagen aus dem herzoglichen Marstall fuhr "Apollo" Goethe, wie May ihn gemalt, und in eigener Equipage Jupiter" Goethe, wie er auf den Bildern von Jagemann und Stieler erscheint, nach Jena, dem lieben närrischen Nest". Sein Kutscher Barth sah einst kurz vor der Stadt, in der Nähe des Johannisthores, behauene Steine am Wege und rief, da er von Goethes geologischen Studien vernommen hatte: Er cellenz, ich globe, zwischen den Steinichen is was für uns!"

"

"

Das liebe närrische Nest! Wiederholt so in Briefen und Gesprächen hat Goethe Jena genannt. Dort pflegte er Stim mung zu allerlei Gutem zu holen", und nach den Berichten der Freunde war er dort immer erst recht er selbst". Am behaglichsten und teilnehmendsten, meinten Charlotte v. Schiller und Frau v. Stein, habe er sich stets in Jena gezeigt, und er selbst sagte häufig, daß er der Weimarer Gegend nichts abgewinnen könnte, seit er sich an die jenaische gewöhnt.

Ob auch er den bis zum Überdruß gehörten Ausspruch Karls V. wiederholte? Als der Kaiser, wird erzählt, nach dem Siege von Mühlberg ins Saalthal kam, rief er beim Anblick von Jena: „Das ist ein klein Florenz!" Schwerlich hat Goethe, mit den Worten eines Kundigen zu reden, die altersgraue Stadt im Thale mit der prachtvollen Steinrose verglichen, die sich in den Fluten des Arno spiegelt, und weit treffender, schmeichelnd und kosend, klingt sein Wort: das liebe närrische Nest!

Denn recht wie ein Nest, vor rauhen Winden geschüßt, anheimelnd und behaglich, liegt die Stadt zwischen den Bergen. Auf den Hain- oder Galgenberg steige, wer sich am Anblick der Landschaft erfreuen will. Zu Füßen die Türme und Häuser, fast achthundert an der Zahl, von neuntausend Menschen belebt. Die nüchterne Chronik meldet das alles genau und schildert Ursprung nebst Alter und Größe der Stadt; doch die Fülle des Lieblichen, das sich dem Beschauer von jenem Berge zeigt, drängt Zahlen und Maßstab zurück. Da schäumt der Fluß, von steinernen Brücken

umspannt, über Wehre hinweg; im Grün der Erlen, Weiden, Rüstern und Pappeln zeigen sich freundliche Weiler und Dörfer. Gärten und Felder wechseln mit Wiesen und Weinbergen ab, und wie ein Kranz schließen die Berge das Ganze ein: der Johannisberg mit den Trümmern der Lobdaburg, die Kernberge und der langgestreckte Hausberg, auf dem sich der Fuchsturm als einziger Rest dreier Raubburgen erhebt. Recht kahl, ein Hufeisen bildend, nimmt sich der nördlich liegende Jenzig aus, während der Landgrafen berg, auf dem Napoleon in der Nacht des Jenaer Schlachttages weilte, in edlerer Form und bewaldet erscheint.

Nicht jeder kennt das Lied, das vor vielen Jahren ein „seliger“ Bruder Studio sang, als er wankenden Schrittes aus der „Kneipe" kam und die Berge im Schimmer und Flimmer des Mondlichtes sah: Der Hausberg und der Jenzigberg, Sie stolpern und sie wackeln, Der Hausberg und der Jenzigberg, Die riesigen Halunken;

[ocr errors]

Der Hausberg und der Jenzigberg Sie haben zu viel getrunken. Durch das Kieferngehölz am Fuße des Landgrafenberges fuhr Goethe in die Stadt. Zuweilen, um eine Kleinigkeit zu kaufen, ließ er auf dem Wege nach seiner Wohnung in der Johannisstraße oder auf dem Markte halten. Dann mußte Barth ihn durch das Johannisthor fahren. ein bemerkenswertes Denkmal aus der Vorzeit, schon im vierzehnten Jahrhundert erwähnt. Das Thor geht durch einen viereckigen Turm, auf dem sich eine Spize erhebt. Die Plattform war zur Aufstellung von Truppen bestimmt; an den Ecken derselben ragen vier steinerne Affengestalten hervor. Anno 1624, erzählt die Chronik, riesen Studenten den Turm wächtern das „garstige Wörtlein“ Affenwächter zu. Die Erzürnten griffen zu Knitteln, ein Student wurde erschlagen; der Pfarrer sprach am Grabe über den Text Philister über dir, Simson", und seitdem, wird behauptet, hätten die Studenten die Bürger Philister genannt.

Die Johannisstraße führt auf die Stadt

kirche zu. Um diese und durch ein Gäßchen biegend, kam Goethe auf den Markt. Schon damals war hier am Donnerstag und Sonnabend Wochenmarkt, den die Bauern aus Kuniz, Dornburg, Lichtenhain und Löbstedt bezogen. Kunißer Gänse und Dornburger Kartoffeln, Lichtenhainer Hühner und Löbstedter Wurst: Jenenser Hausfrauen wissen diese Dinge zu schäßen. Gern sah Goethe die Frauen und Mädchen mit ihren Körben, die kräftigen Gestalten der Verkäufer; aber heute, ziemlich an der Stelle, wo er zuweilen den Wagen halten ließ, sieht ein erzenes Standbild auf die Menge herab. Die Bibel in der Linken und das Schwert in der Rechten, erhebt sich dort Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen auf hohem Postament. Bei der dreihundertjährigen Jubelfeier des Bestehens der Universität wurde das Denkmal 1858 enthüllt. Denn der Kurfürst, der Stifter derselben, hatte sie von Wittenberg, wo schwere Seuchen herrschten, nach Jena verlegt, und nur ungern kehrte man aus dem gesunden und anmutigen Orte nach Wittenberg zurück. Dann wurde die Schlacht bei Mühlberg geschlagen, der Kurfürst gefangen, Wittenberg ihm genommen, und so schuf er in den seinen Söhnen ausgesezten Landen und zwar in Jena eine neue Universität. „Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat," steht auf der Bibel, die das Standbild in der Linken hält.

Plöglich, um die zehnte Stunde, wird es unter den Marktleuten „urgemütlich“. Die älteren fangen zu trällern, die jüngeren ein wenig zu hüpfen an, denn auf dem Rathausturm ertönt die sogenannte Marktmusik. Ein uralter Bau, steht das Rathaus an der südwestlichen Ecke des freundlichen Plazes. Zwei Gänge find verschlossen und verbaut. Die Wage in einem Gewölbe hat Raum verlangt, be= sonders aber die Zeise (Accise), ein treffliches Weinlokal, wo Jonas Herzer, der allezeit lustige Wirt, die Gläser füllt. Bei ihm mundet der Naumburger, Meißener und Jenenser noch einmal so gut.

« ZurückWeiter »