Gesichte: Essays und andere Geschichten

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Verlag der Weissen Bücher, 1913 - 173 Seiten
 

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Häufige Begriffe und Wortgruppen

Beliebte Passagen

Seite 112 - Aus Grimm sinne Märchens. Der Enkelsonn ist ein Dichter. Paul Zech schreibt mit der Axt seine Verse. Man kann sie in die Hand nehmen, So hart sind die.
Seite 66 - Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen, pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet in meinen Heimatjahren, beim Betrachten der kostbaren Zeilen unter Glas im goldenen Rahmen. Den Brief hatte ein Bischof, ein Dichter geschrieben an meiner Mutter Mutter.
Seite 67 - Ich begegne Karl Kraus am liebsten unter »kriegsberatenen Männern«. Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater, gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über den Raum - Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde, o plastischer noch,...
Seite 17 - Du wehrst den guten und den bösen Sternen nicht; All ihre Launen strömen. In meiner Stirne schmerzt die Furche, Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht. Und meine Welt ist still — Du wehrtest meiner Laune nicht. Gott, wo bist du? Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen, Mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen, Wenn goldverklärt in deinem Reich Aus tausendseligem Licht, Alle die guten und die bösen Brunnen rauschen.
Seite 86 - Das Volk wird nie nach ihm schrein; er sättigt nicht, er ist überhaupt nicht zum essen, man kann höchstens eine seiner Hände streicheln oder seinen Mund küssen — er hat einen schüchternen Kindermund. Der erzählt immer von sich, immer so hübsche Geschichten, die sich am Ende des Pfades reimen und viele, viele Wege geht er mit den Mädchen in seinen Gedichten. In Grimms Märchen ist er gemalt, wie er als Kind aussah, in Hansel und Gretel.
Seite 63 - Aber, Tino, ich wußte ja gar nicht, daß du ein kleiner Bebet bist." „Ia, ich denke an die armen, blassen Kinder, die nie in die Sonne sehen, und an dich, Peter, an dich, dem die Welt ihr jubelndstes, tiefstes Spiel schenkte und das Leben eine Stiefmutter ist.
Seite 66 - Mutter, ein Dichter. Blau und mild waren seine Augen, und sanftbewegt seine schmalen Lippen und sein Stirnschatz wohlbewahrt, wie bei Karl Kraus; der trägt frauenhaft das Haar über die Stirn gekämmt. Und immer empfangen seine Augen wie des Priesterdichters Augen gastlich den Träumenden. Immer schenken Karl Kraus' Augen Audienz. Ich sitze so gerne neben ihm, ich denke dann an die Zeit, da ich den Schreiber des Briefes hinter Glas aus seinem goldenen Rahmen beschwor. Heute spricht er mit mir. Ich...
Seite 73 - Oskar Kokoschka ist eine junge Priestergestalt, himmelnd seine blauerfüllten Augen und zögernd und hochmütig. Er berührt die Menschen wie Dinge und stellt sie, barmherzige Figürchen, lächelnd auf seine Hand. Immer sehe ich ihn wie durch eine Lupe, ich glaube, er ist ein Riese. Breite Schultern ruhen auf seinem schlanken Stamm, seine doppelt gewölbte Stirn denkt zweifach. Ein schweigender Hindu, erwählt und geweiht - seine Zunge ungelöst.
Seite 16 - Luxusgeschenk hin, denn ich bin verschwenderisch, das liegt in meinem Sternsystem. Es kommt mir selbst nicht darauf an, einige Monde meines Planeten fallen zu lassen. Auch mit meinem. Chaos, ohne das Chaos kommt kein Mensch davon, hat es eine besondere Bewandtnis. Darüber möchte ich schweigen, aber eines kann ich Ihnen sagen, wir Künstler sind einmal bis ins tiefste Mark und Bein Aristokraten. Wir sind die Lieblinge Gottes, die Kinder der Marien aller Lande. Wir spielen mit seinen erhabensten...
Seite 68 - Zynismusschädel zu Zucker reiben können. O, diese Not, heute rot - - morgen tot! Unentwendbar inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges, überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit dem die Welt zugenagelt ist.

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