Die Kunst Marc Chagalls

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Häufige Begriffe und Wortgruppen

Beliebte Passagen

Seite 28 - AQUARELL orthodoxe Gebote, apokryphe Ängste und rauhe Frömmigkeit. Sanfte, sentimentale Tiere, gazellenähnlich oder, umgekehrt, mit viehischen Fratzen. Wie die Schweineschnauzen bei Gogol, so glotzen in seinen Interieurs neugierige „Schnauzen" von Ochsen und Kälbern drein, und dann erscheinen sie als dämonische Symbole der sündhaften Versuchung, die einst Aaron dazu getrieben hat, am Berge Sinai das Idol des goldenen Kalbes zu prägen. Etwas sodomitisch Erotisches, das an Bosch und Goya erinnert,...
Seite 36 - Provinz dagegen reizt ihn — das Lächerliche oder Altfränkische. Chagall aber empfindet die Mystik der Provinz selbst noch im Lächerlichen und Neuzeitigen. Seine Provinz ist ein Märchen, sentimental und zugleich zynisch, alltäglich muffig und zugleich phantastisch leuchtend. Er kennt Feste, da das in Tanz geratene Gras am Himmel grünt und die Hütten mit dem Dach nach unten wippen; Begräbnisse, wo der Himmel schwarz umflort ist. Seine Kirchlein, Mühlen, Marktbuden und...
Seite 29 - Mystik dessen fühlt, was sich in diesem „singenden Hochzeitshause" vollzieht. — „Ach, das Haus, das im Gesange klingt!" sagt sie zu dem Dichter und schleudert zum Fenster die Aufforderung der Herbstnacht entgegen, indem sie alle anruft, „alle, denen es schlecht geht, die von Angst geplagt werden, deren Geist zur Freiheit drängt", zur Hochzeit zu kommen. Denn Rahels Seele, die an die Enge der Schenke gefesselt ist, sehnt sich in selbstquälerischer Ekstase nach helleuchtendem Wunder. Diese...
Seite 60 - Künstler auch hindurch durch eine endgültige Aussöhnung mit der Alltäglichkeit ebenso wird gehen müssen? Aber was wird dann seine „große Kunst" mit der „Apologie der Sommerfrische" verknüpfen? Wie soll man das wissen? Was hinterläßt uns Chagall andres als Ahnungen? Wir müssen nur den Mut haben einzugestehen, daß nichts trostloser ist, als über seine Zukunft zu prophezeien, denn unter unsern Künstlern gibt es keinen freiem und überraschenderen Geist in seiner schöpferischen Idee...
Seite 36 - B akst und Dobuschinski, aber im Sinne der Echtheit der provinziellen Beobachtungen hat der Schüler unzweifelhaft seine Lehrer übertrumpft. Denn die „Provinz" Chagalls hat nichts von der graphischen Deutlichkeit eines Dobuschinski, nichts von seiner großstädtischen Verlachung der Provinz, dafür aber eine gewisse seelische Verwandtheit mit dem geschilderten Milieu und eine unnachahmbare Naivität der Beschauung. Dobuschinski empfindet die Mystik der Großstadt, in der Provinz dagegen reizt...
Seite 60 - Sein noch nicht ganz Besitz ergriffen hätte. In diesem Sinne sei darauf hingewiesen, wie zerbrechlich und leicht auf den Bildern aus Witebsk Menschen und Dinge stehen, und wie locker selbst Häuser und Zimmer mit der Erde verknüpft sind. Daraus folgt die seltsame Farbe der Gegenstände, die grünen, violetten und roten Körper und Gesichter der Menschen: das ist sein Erbteil der Pariser Stürmerzeit, seiner mystischen Fertigkeit, des Abglanzes seiner Farbenbrände.
Seite 59 - Im Witebsk-Zyklus zieht an uns die ganze Familie des Künstlers vorbei, die Jugendfreunde, alt und jung, die Nachbarn, die Straßenjungen, Bettler, Häuser, Hütten, Bäume, Gras, Vieh, — selbst das verbotene Schwein malt Chagall voller Rührung, denn in diesem neu erworbenen Sein ist wahrhaftig alles fromm und geheiligt. Aber zu gleicher Zeit, welch gewaltiger Unterschied gegen die Milieumalerei seiner ersten, vor-Pariser Periode!
Seite 60 - Gegenständen hinaus, nach außen drängte, so strebt es jetzt von draußen in die Gegenstände hinein. Auf der „Hochzeit" vom Jahre 1908 gehen noch die Menschen auf der Erde, und wir ahnen nur, daß sie jeden Augenblick die Erde verlassen und in die Luft steigen können, wohin sie das wahre Wesen ihres Seins treibt; auf den Bildern des Witebsk- Zyklus schweben...
Seite 36 - Dulcinea, denn sie lost der Phantasie freies Spiel. Hoffmann, der zwischen Spießbürgern, Marktweibern und Kater Murr aufgewachsen ist, war ein leuchtender Märchendichter, und Gogol fand ungeheuerliche Wunder in der Wüstenei und Narretei des russischen Alltags. Chagall empfindet das übernatürliche und Heimliche nicht nur im jüdischen Leben, sondern im Alltag überhaupt. Er ist Schüler von B akst und Dobuschinski, aber im Sinne der Echtheit der provinziellen Beobachtungen hat der Schüler unzweifelhaft...

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